-- La sabiduría se reduce a no olvidar jamás, ni la nada que es el hombre, ni la belleza que nace a veces en sus manos. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
Zitat was mathematisch elegant war, musste einfach wahr sein, und empirische Belege würden sich schon noch finden.
Das koennte man auch Einstein, Newton und anderen vorwerfen. Ich finde den Vergleich an den Haaren herbeigezogen.
Haben Einstein, Newton und andere unbequeme Daten unter den Tisch fallen lassen?
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Zitat von GorgasalHaben Einstein, Newton und andere unbequeme Daten unter den Tisch fallen lassen?
Nur sehr entfernt mit dem aktuellen Thema verwandt, aber nett: ich lese gerade Visual Explanations von Edward Tufte, dem Visualisierungsguru. Sehr schönes Buch. Darin findet sich eine ausführliche Diskussion von John Snow, der 1854 eine Cholera-Epidemie in London untersuchte und auf einen verseuchten Brunnen zurückführte. Tufte behandelt diese Episode, weil das wichtigste Hilfsmittel von Snow eine geeignete Visualisierung der Todesfälle auf einer Karte war. Auch Snow hatte Glück, dass seine Theorie letztendlich stimmte; die Anzahl der Todesfälle war bereits am Abklingen, als er publikumswirksam den Pumpenschwengel an der Wasserpumpe in der Broad Street entfernte.
Aber sehr schön finde ich, wie Snow akribisch Daten nachgegangen ist, die seiner Hypothese scheinbar widersprachen. Direkt neben der Pumpe gab es eine Brauerei und ein Work House - in der Brauerei gab es keinen einzigen Cholera-Todesfall, im Work House nur fünf (die allesamt bereits krank eingeliefert wurden, und in Relation zur Mortalität in der Umgebung hätte man dort etwa hundert Tote erwartet). Ein wenig Detektivarbeit später war klar, dass die Brauereimitarbeiter sich in gewissem Maße am Produkt des Hauses bedienen durften und wahrscheinlich nie das Wasser der Broad Street tranken (Bier rettet Leben!) und dass sowohl die Brauerei als auch das Work House ihre eigenen Brunnen hatten.
Und umgekehrt gab es mehrere isolierte Cholera-Todesfälle recht weit weg von der besagten Pumpe. Ein Schreiner starb eine gewisse Entfernung weg - er hatte in der Broad Street gearbeitet. Zwei Mädchen starben ebenfalls einige Straßen entfernt - sie waren in der Broad Street zur Schule gegangen. Und eine Witwe war im West End an der Cholera gestorben, nachdem sie monatelang nicht in der Broad Street gewesen war. Aber sie hatte sich regelmäßig eine Flasche Wasser von der Broad Street bringen lassen, weil es ihr so gut schmeckte.
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Sie haben in Ihrem Beitrag in ZR den Artikel von Graney ausgezeichnet zusammengefaßt; ich denke, jeder, der ihn gelesen hat, versteht die Logik der Argumentation von Graney.
Hat Galilei Daten zurückgehalten, die aus damaliger Sicht das kopernikanische Weltbild widerlegten? Mir scheint das durch das, was Graney darlegt, nicht bewiesen oder auch nur wahrscheinlich gemacht zu sein.
Es gibt Aufzeichnungen von Galilei, die zeigen, daß er im Jahr 1617 den Doppelstern Mizar beobachtet hat. Seine Angaben stimmen erstaunlich gut mit modernen Messungen überein. Theoretische Aufzeichnungen zu möglichen Implikationen dieser Beobachtungen gibt es offenbar von Galilei nicht.
Er hat aufgrund dieser Beobachtungen und aufgrund von Vorannahmen (alle Sterne haben dieselbe Leuchtkraft wie die Sonne; der scheinbare Durchmesser erlaubt die trigonometrische Berechnung ihrer Entfernung von der Erde) Vermutungen darüber angestellt, wie weit die beiden Komponenten Mizar A und Mizar B voneinander und von der Erde entfernt sein könnten.
Wären diese Vermutungen richtig gewesen, dann hätte man die Beobachtungen als Test für das kopernikanische System verwenden können, wenn man den Doppelstern im Jahreszyklus beobachtet hätte.
Das hat Galilei aber 1617 nicht gemacht. Vielleicht hat er damals die Möglichkeiten solcher Messungen nicht gesehen (siehe aber unten). Vielleicht gab es irgendwelche äußeren Gründe dafür, daß er die Beobachtung nicht im Abstand eines halben Jahres wiederholen konnte (die genauen Zeitpunkte seiner Messungen sind entweder nicht überliefert, oder Graney gibt sie nicht an). Wie auch immer - er hat es nicht gemacht; er hatte also auch keine Daten, die das Fehler einer parallaktischen Verschiebung im Jahreszyklus gezeigt hätten.
Graney erwähnt, daß Galilei 1611 einen Brief von Ramponi erhalten hatte, in dem dieser vorschlug, solche Beobachtungen anzustellen; aber Galilei hat sie eben nicht angestellt. Man macht oft Experimente nicht oder stellt Beobachtungen nicht an, die nützlich gewesen wären.
Das ist, lieber Gorgasal, alles. Galilei hat keine Daten erhoben, die das kopernikanische Sytem widerlegt oder die es auch nur weniger wahrscheinlich gemacht hätten. Er hat also auch solche Daten nicht zurückgehalten.
Widerlegt worden wäre es dieses System selbst dann nicht, wenn er die Beobachtung angestellt und keine parallaktische Verschiebung gefunden hätte. Denn die Aussagekraft solcher Daten hätte davon abgehangen, ob die o.g. Voraussetzungen stimmen. Gut möglich, daß Galilei Zweifel an ihnen hatte. Heute wissen wir, daß diese Voraussetzungen grottenfalsch waren. Galilei hätte keine parallaktische Verschiebung finden können, obwohl das kopernikanische System natürlich das richtige ist.
Graney wirft Galilei also vor, daß er aufgrund falscher Annahmen zu einer falschen Folgerung hätte kommen müssen, daß er das aber nicht tat.
Galilei war ein Handwerker. Dafür, daß er das kopernikanische System gegenüber dem ptolemäischen bevorzugte, weil er von dessen mathematischer Eleganz beeindruckt war, sehe ich keinen Anhaltspunkt. Er bevorzugte es, weil es besser mit einer Vielzahl von Beobachtungen übereinstimmte.
Es ist wahr, daß Tycho Brahe es geschafft hatte, einen Teil dieser Beoabachtungen mit dem geozentrischen Weltbild in Einklang zu bringen, indem er die Sonne um die Erde und die Planeten um die Sonne kreisen ließ. Aber man kann Galilei nicht vorwerfen, daß er sich mit dieser Theorie nicht beschäftigte, sondern die einfachere kopernikanische vorgezogen hat.
Es wäre ja angesichts der Kompliziertheit von Tychos Theorie an diesem gewesen, zu zeigen, daß sie der einfacheren kopernikanischen überlegen war. Sie war es nicht, und sie wurde zu Recht schnell vergessen.
Nein, werter Zettel, da werden wir uns wohl nicht einigen können. Mir erscheint diese Interpretation um einiges abwegiger als die Graneys.
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Zitat von GorgasalGalilei hat 1611 über die Beobachtung der Parallaxe korrespondiert und 1632 in seinem Magnum Opus genau diese als Möglichkeit angeführt, seine Theorien zu belegen. Er wusste, dass seine Ansichten, sagen wir, nicht ganz unumstritten waren. Und da soll dieser "große Handwerker", "einer der ersten, denen klar war, daß die großen Fortschritte der Wissenschaft nicht daraus kommen würden, daß man richtiger denkt, sondern daß man genauer hinsieht", nicht auf die Idee gekommen sein, genau diesen Beweis anhand von Mizar zu führen? Oder zumindest im Dialog in einer Nebenbemerkung auf Mizar hinzuweisen? Nein, werter Zettel, da werden wir uns wohl nicht einigen können. Mir erscheint diese Interpretation um einiges abwegiger als die Graneys.
Es geht, lieber Gorgasal, aus meiner Sicht nicht um Interpretationen. Es geht um Fakten und die auf sie aufbauenden Mutmaßungen.
Bevor ich - dank der freundlichen Unterstützung von jemandem, dem dieses Forum und ZR viel verdanken - den Artikel von Graney im Original lesen konnte, hatte ich angenommen, daß Galilei tatsächlich das Ausbleiben einer parallaktischen Verschiebung bei Mizar beobachtet und dies protokolliert hatte. Wäre das so gewesen, dann hätte man ihm vielleicht vorwerfen können, er hätte die Implikationen dieser Beobachtung (nämlich daß die Erde sich relativ zum Sternenhimmel anscheinend nicht bewege) öffentlich diskutieren müssen.
Aber es gibt nun einmal keinen Hinweis darauf, daß er diese Beobachtung überhaupt gemacht hat. Hätte er die Idee gehabt, eine Parallaxe bei Mizar zu beobachten und als Beleg für das kopernikanische Weltbild zu verwenden, dann hätte er logischerweise den Doppelstern im Abstand eines halben Jahres beobachten müssen; denn dann wäre die Parallaxe am größten gewesen. Das hat er nicht getan. Es gibt - jedenfalls bei Graney - keinen Hinweis darauf, daß er überhaupt Beobachtungen von Mizar zu verschiedenen Zeitpunkten miteinander verglichen hat. Ich habe auch nichts darüber gefunden, über welchen Zeitraum sich seine Beobachtungen erstreckten.
So weit die Fakten. Nun kann man - wie Graney, wie Sie - argumentieren, daß er diese Beobachtung aber doch hätte anstellen müssen, denn sechs Jahre vor seiner Beobachtung von Mizar hatte ihm Ramponi dazu etwas geschrieben (was genau, weiß ich nicht; Graney dokumentiert diesen Brief nicht), und fünfzehn Jahre danach diskutiert Galilei selbst dieses Verfahren im Dialogo.
Ja, vielleicht hätte er das wirklich beobachten sollen. Nur - ich habe das schon geschrieben - er hat es eben nicht getan. Sie fragen, warum er nicht auf diese Idee gekommen ist. Ich weiß es nicht. Vielleicht gibt es einen Galilei-Spezialisten, der alles über den Galilei des Jahres 1617 weiß und der diese Frage beantworten kann. Graney ist ein solcher Spezialist nicht; er hat - soweit der Artikel es erkennen läßt - kein einziges Archiv besucht, sondern zitiert aus bereits publizierten Dokumenten.
Lassen Sie mich die Sache aber a bisserl allgemeiner angehen, lieber Gorgasal: Galilei war neben seinem Zeitgenossen Francis Bacon einer der Begründer der naturwissenschaftlichen Methode. Bacon hat das theoretisch getan, Galilei praktisch.
So bedeutend Aristoteles gewesen war - auf den Gedanken systematischen Experimentierens ist er nie gekommen. Er war durchaus Empiriker, aber er stützte sich nur auf eigene und fremde Beobachtungen, die zufällig und unsystematisch gemacht worden waren. Bacon forderte das gezieltes Experimentieren, und Galilei realisierte es.
Bedeutend war er viel mehr als Physiker denn als Astronom. Die Astronomie hat ihn berühmt gemacht, aber geleistet hat er in ihr wenig, sieht man davon ab, daß er sofort die Möglichkeiten des Teleskops erkannte und diese zu zahlreichen akribischen Beobachtungen nutzte. Aber in der Physik hat er mit der Verwendung der induktiven Methode Neuland betreten.
Wenn jemand Neuland betritt, dann erscheint das, was er geleistet hat, im Rückblick meist unvollkommen, wenn nicht unbeholfen. Über die ersten Fluggeräte, über den überdimensionalen Phonographen, können wir heute lachen. So ist es auch mit der naturwissenschaftlichen Methode.
Galilei hat, sagen wir, herumexperimentiert und herumbeobachtet. Unsystematisch, tastend. Er war ja auch weitgehend allein, ohne eine Arbeitsgruppe, wie sie heute für einen Naturwissenschaftler selbstverständlich ist. Er hat nie so etwas wie ein "System" publiziert.
Der Dialogo ist nicht nur deshalb ein Dialog zwischen drei Personen, weil Galilei auf diese Weise listig sagen konnte, daß er die Argumente für die beiden Weltbilder zu Wort kommen lasse, ohne sich selbst festzulegen. Sondern der unsystematische Charakter eines solchen Gesprächs, das Betrachten einer Sache unter verschiedenen Blickwinkeln, entsprach auch Galileis Denken. Deshalb habe ich geschrieben, daß er heute einem Workshop von Naturwissenschaftlern gut würde folgen können; Descartes, der in der Tradition der Scholastik stets systematisch dachte, wohl aber kaum.
Also, Galilei aus der heutigen Sicht vorzuwerfen, daß er das nicht gemacht hat, was ein heutiger Astronom natürlich täte, erscheint mir unhistorisch. Und es scheint mir auch in Bezug auf Graneys Implikationen an der Gestalt Galilei vorbeizugehen. Er war nicht der Kämpfer gegen die Kirche, als den Brecht ihn darstellt; so wie nicht alle Vertreter der Kirche so engstirnig waren, wie Brecht sie zeichnet. Galilei interessierte sich nicht für die Kirche, sondern für den Kosmos, nicht für die Gesellschaft, sondern für die Physik.
Und noch ein Punkt, lieber Gorgasal: Nehmen wir einmal an, Galilei hätte diese Beobachtungen im Abstand eines halben Jahres angestellt und keine Parallaxe gefunden - was dann? Hätte er als Naturwissenschaftler den Schluß gezogen, daß ergo das kopernikanische Weltbild falsch ist? Dann wäre er ein schlechter Wissenschaftler gewesen. Er hätte alle Möglichkeiten einer Erklärung prüfen müssen; also zB auch die Annahmen über die Größe und Leuchtkraft von Sternen kritisch diskutieren. Wer weiß, vielleicht wäre er ja dann der Diffraktion auf die Spur gekommen.
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