In U-Haft genommen werden darf nur, gegen wen ein dringender Tatverdacht vorliegt. Das ist eine höhere Stufe des Verdachts als ein hinreichender Tatverdacht.
Obwohl die Mannheimer Staatsanwälte Herrn Kachelmann der ihm vorgeworfenen Vergewaltigung für dringend verdächtig halten, sind sie sich aber nach Aussage ihres Sprechers noch nicht sicher, ob er auch nur hinreichend verdächtig ist.
Zitat von ZettelIn U-Haft genommen werden darf nur, gegen wen ein dringender Tatverdacht vorliegt. Das ist eine höhere Stufe des Verdachts als ein hinreichender Tatverdacht.
Hinreichender und dringender Tatverdacht stehen nicht in einem einfachen Verhältnis des mehr und weniger.
Zitat von BGH v. 22.04.2003 - StB 3/03Hinreichender Tatverdacht als Voraussetzung für die Anklageerhebung ist zu bejahen, wenn bei vorläufiger Tatbewertung auf Grundlage des Ermittlungsergebnisses die Verurteilung in einer Hauptverhandlung mit vollgültigen Beweismitteln wahrscheinlich ist.
Wohingegen der dringende Tatverdacht zwar eine größere Wahrscheinlichkeit erfordert, daß der Angeschuldigte Täter einer Straftat ist, aber:
Zitat von OLG Hamm v. 14.01.2010 - 2 Ws 347/09Die Prognose, daß eine Verurteilung wahrscheinlich ist, verlangt der dringende Tatverdacht hingegen nicht; es genügt die Möglichkeit der Verurteilung.
Die Paraphrasierung
Zitat von ZettelDie Mannheimer Staatsanwälte drücken also durch ihre Entscheidungen aus, daß sie a) die Wahrscheinlichkeit, daß Kachelmann die Tat begangen hat, als hoch beurteilen, b) sie noch nicht wissen, ob sie höher oder niedriger als 50 Prozent ist.
ist also unter a) korrekt - für die Feststellung des dringenden Tatverdachts kommt es (aus der Perspektive laufender Ermittlungen) auf die Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung an; unter b) allerdings nicht, denn für die Bejahung des hinreichenden Tatverdachts ausschlaggebend ist (aus der Perspektive abgeschlossener Ermittlungen) die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung.
Juristische Haarspalterei über Verdachtsgrade einmal beiseite, würde ich gerne die Begründung der Haftanordnung lesen. Auch bei Bejahung des dringenden Tatverdachts ist ja noch ein Haftgrund erforderlich, und der bedarf schon eines gewissen Begründungsaufwands, grade wenn man etwa in einem Fall, in dem es immerhin um fahrlässige Tötung ging, liest:
Zitat von OLG Oldenburg v. 25.06.2009 - 1 Ws 349/09, StV 2010, 29Allein der Wohnsitz eines der fahrlässigen Tötung verdächtigen polnischen Beschuldigten in Polen begründet als solcher auch bei Erwartung einer Freiheitsstrafe von deutlich über einem Jahr keine Fluchtgefahr.
Lieber Zettel, zusammengefasst sagt Ihr Kommentar: "Es ist etwas faul im Staate .." und das ist auch meine Meinung. Ob hier wohl die Popularität des Verhafteten von Bedeutung? Wurde der Staatsanwalt bei einem seiner Theaterbesuche ohne Regenschirm von einem Wolkenguss überrascht obwohl der Wetterfrosch trockenes Wetter vorausgesagt hatte?
Am Rande bin ich immer wieder überrascht, über die Informationen, die entweder frei erfunden oder über undichte Stellen den Weg in die Medien finden. "wonach es vor der behaupteten Vergewaltigung zu einem Streit gekommen sei, weil die Freundin Kachelmanns zwei Flugtickets entdeckt hatte". Wenn diese undichte Stelle bei der Freundin zu suchen ist, sollte sie sich dringend mit ihrem Anwalt absprechen, denn sie hat damit der Verteidigung ein Sprungbrett geliefert: Rache.
"hatte die Polizei allein die Festnahme auf dem Frankfurter Flughafen drei Wochen lang vorbereitet." Und Kachelmann wusste in all dieser Zeit nicht, dass eine Anklage gegen ihn vorlag? Sollte das tatsächlich der Fall gewesen sein, dann lag auch keine Fluchtgefahr vor, denn wovor hätte er fliehen sollen?
Man beginnt da immer mehr das amerikanische Prozessrecht zu schätzen (wie ich es - zugegebenermaßen nur - aus amerikanischen Filmen kenne).
Dort existierende Prinzipien gibt es in Deutschland nicht. Etwa die Verpflichtung zur Anklageerhebung innerhalb von (ich glaube) 48 Stunden (oder - wenn die Staatsanwaltschaft das nicht will - Freilassung). Oder das Recht, innerhalb von 48 Stunden seinen Richter zu sehen (man vergleiche das mit der wochenlangen Verschiebe-Tortur von F.Alfonso. Beschrieben im Nachbar-Thread).
Zitat von FlorianMan beginnt da immer mehr das amerikanische Prozessrecht zu schätzen (wie ich es - zugegebenermaßen nur - aus amerikanischen Filmen kenne).
Das ist - wie jeder Fachmann gern bestätigen wird - DIE Quelle für seriöse und ausgewogene Informationen zu Rechtsfragen: Film & Fernsehen. Wie Guido Knopp und Geschichte
80% der Deutschen vertrauen dem Rechtsstaat. Die anderen 20% haben bereits mit ihm zu tun gehabt.
Dort wurden drei Spieler des LaCross Teams der Vergewaltigung angeklagt. DNA Test am 10.4.2006 ergaben, dass zwar Sperma von viele verschiedenen Männern "in" der Anklägerin gefunden wurden, jedoch keins von einem der (41) getesteten Teammitglieder.
Trotzdem wurde das Verfahren fortgesetzt und erst am 11.4.2007 offiziel mit freispruch beendet.
Zitat von FlorianDort existierende Prinzipien gibt es in Deutschland nicht. Etwa die Verpflichtung zur Anklageerhebung innerhalb von (ich glaube) 48 Stunden (oder - wenn die Staatsanwaltschaft das nicht will - Freilassung). Oder das Recht, innerhalb von 48 Stunden seinen Richter zu sehen (man vergleiche das mit der wochenlangen Verschiebe-Tortur von F.Alfonso. Beschrieben im Nachbar-Thread).
Ähnliche Rechte gibt es wohl auch in Deutschland:
Zitat von Grundgesetz Art. 104 [...] (2) Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung hat nur der Richter zu entscheiden. Bei jeder nicht auf richterlicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung ist unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen. Die Polizei darf aus eigener Machtvollkommenheit niemanden länger als bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen in eigenem Gewahrsam halten. Das Nähere ist gesetzlich zu regeln.
(3) Jeder wegen des Verdachtes einer strafbaren Handlung vorläufig Festgenommene ist spätestens am Tage nach der Festnahme dem Richter vorzuführen, der ihm die Gründe der Festnahme mitzuteilen, ihn zu vernehmen und ihm Gelegenheit zu Einwendungen zu geben hat. Der Richter hat unverzüglich entweder einen mit Gründen versehenen schriftlichen Haftbefehl zu erlassen oder die Freilassung anzuordnen. [...]
Das hilft nur leider nicht, wenn das Abnicken des Haftbefehls vom Richter als eine Formalie angesehen wird, wie vermutlich in den Fällen F.Alfonso und Kachelmann.
Nur, wenn die Anfangshürde (richterlicher Beschluss) genommen ist, kann es bis zu 6 Monaten dauern, bis eine neuerliche richterliche Überprüfung stattfindet. Wenn es inzwischen zu keiner Anklage kommt, scheint dies Kachelmanns Szenario oder die Drohkulisse der Staatsanwaltschaft zum Weichkochen.
Wobei mir beim letzteren nicht klar ist, ob eine neuerliche Haftprüfung jederzeit von Kachelmanns Anwalt erwirkt werden kann. Beantragt werden kann sie sicher, was sind aber die Hürden (neue Erkenntnisse, o.a.?)?
ich freue mich, daß Sie sich mit gewohnter Kompetenz und Gründlichkeit in diese Diskussion eingeschaltet haben (ich hatte es, ehrlich gesagt, auch a bisserl gehofft ). Aber nun muß ich Sie um weitere Aufklärung bitten, weil ich den Unterschied, fürchte ich, noch nicht verstanden habe:
Zitat von FAB.Hinreichender und dringender Tatverdacht stehen nicht in einem einfachen Verhältnis des mehr und weniger.
Zitat von BGH v. 22.04.2003 - StB 3/03Hinreichender Tatverdacht als Voraussetzung für die Anklageerhebung ist zu bejahen, wenn bei vorläufiger Tatbewertung auf Grundlage des Ermittlungsergebnisses die Verurteilung in einer Hauptverhandlung mit vollgültigen Beweismitteln wahrscheinlich ist.
Wohingegen der dringende Tatverdacht zwar eine größere Wahrscheinlichkeit erfordert, daß der Angeschuldigte Täter einer Straftat ist, aber:
Zitat von OLG Hamm v. 14.01.2010 - 2 Ws 347/09Die Prognose, daß eine Verurteilung wahrscheinlich ist, verlangt der dringende Tatverdacht hingegen nicht; es genügt die Möglichkeit der Verurteilung.
Verstehe ich das richtig, daß unterschieden wird zwischen a) der Wahrscheinlichkeit, daß der Angeschuldigte in der Hauptverhandlung verurteilt wird und b) der Wahrscheinlichkeit, daß er Täter ist?
Aber wie kann es eine Differenz zwischen diesen beiden Wahrscheinlichkeiten geben? Ist die Implikation, daß jemand zwar mit großer Wahrscheinlichkeit Täter sein kann, aber die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung gleichwohl nicht groß ist?
Wenn das so sein sollte - an welche Fälle ist dann gedacht? Daß dem Staatsanwalt die Beweise für die Annahme einer hohen Tatwahrscheinlichkeit ausreichen, er aber vermutet, daß sie dem Gericht nicht ausreichen werden?
Oder ist an eher exotische Fälle gedacht, wie daß jemand zwar auch vom Gericht als Täter festgestellt wird, er aber aus irgendeinem formalen Grund nicht verurteilt werden kann?
Mir kommt beides unplausibel vor; ich vermute also etwas Weiteres, das mir nicht eingefallen ist. Ich bin deshalb auf Ihre Erläuterung gespannt, und würde mich freuen, wenn sich vielleicht auch JeffDavis und die anderen Juristen unter den Zimmerleuten an der (jedenfalls meiner) Erhellung beteiligen würden.
Herzlich, Zettel
Nachtrag: Und wenn ich noch eine Frage nachschieben darf: Wie könnte man den Unterschied auf den Fall Kachelmann beziehen?
Ein Blick in das Gesetz erleichtert die Rechtsfindung:
§ 115 StPO (1) Wird der Beschuldigte auf Grund des Haftbefehls ergriffen, so ist er unverzüglich dem zuständigen Gericht vorzuführen. (2) Das Gericht hat den Beschuldigten unverzüglich nach der Vorführung, spätestens am nächsten Tage, über den Gegenstand der Beschuldigung zu vernehmen. (3) Bei der Vernehmung ist der Beschuldigte auf die ihn belastenden Umstände und sein Recht hinzuweisen, sich zur Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Ihm ist Gelegenheit zu geben, die Verdachts- und Haftgründe zu entkräften und die Tatsachen geltend zu machen, die zu seinen Gunsten sprechen. (4) Wird die Haft aufrechterhalten, so ist der Beschuldigte über das Recht der Beschwerde und die anderen Rechtsbehelfe (§ 117 Abs. 1, 2, § 118 Abs. 1, 2, § 119 Abs. 5, § 119a Abs. 1) zu belehren. § 304 Abs. 4 und 5 bleibt unberührt.
§ 117 StPO (1) Solange der Beschuldigte in Untersuchungshaft ist, kann er jederzeit die gerichtliche Prüfung beantragen, ob der Haftbefehl aufzuheben oder dessen Vollzug nach § 116 auszusetzen ist (Haftprüfung). (2) Neben dem Antrag auf Haftprüfung ist die Beschwerde unzulässig. Das Recht der Beschwerde gegen die Entscheidung, die auf den Antrag ergeht, wird dadurch nicht berührt.
§ 118 StPO (1) Bei der Haftprüfung wird auf Antrag des Beschuldigten oder nach dem Ermessen des Gerichts von Amts wegen nach mündlicher Verhandlung entschieden. (2) Ist gegen den Haftbefehl Beschwerde eingelegt, so kann auch im Beschwerdeverfahren auf Antrag des Beschuldigten oder von Amts wegen nach mündlicher Verhandlung entschieden werden. (3) Ist die Untersuchungshaft nach mündlicher Verhandlung aufrechterhalten worden, so hat der Beschuldigte einen Anspruch auf eine weitere mündliche Verhandlung nur, wenn die Untersuchungshaft mindestens drei Monate und seit der letzten mündlichen Verhandlung mindestens zwei Monate gedauert hat.
danke für Information. Wie passt aber das von F.Alfonso erlebte mit diesen Vorschriften zusammen?
(Er schreibt, er sei in Berlin aufgegriffen worden und dann auf eine 3 Wochen dauernde Reise zu seinem zuständigen Richter in München geschickt worden. Das würde sich doch mit §115 beißen, oder?
Zitat von Florian@ JeffDavis: Wie passt aber das von F.Alfonso erlebte mit diesen Vorschriften zusammen? (Er schreibt, er sei in Berlin aufgegriffen worden und dann auf eine 3 Wochen dauernde Reise zu seinem zuständigen Richter in München geschickt worden. Das würde sich doch mit §115 beißen, oder?
Ohne Kenntnis des Akteninhalts "F. Alfonso" kann ich dazu vernünftigerweise nichts sagen. Auf seine Angaben allein verlasse ich mich, ohne ihm irgendetwas unterstellen zu wollen, nicht. Unverzüglich bedeutet im Juristendeutsch "ohne schuldhaftes Zögern". Möglicherweise ist es nicht schuldhaft, wenn er in A aufgegriffen wird, der Haftbefehl aber in B ausgestellt wurde und daher nur B zuständig ist.
80% der Deutschen vertrauen dem Rechtsstaat. Die anderen 20% haben bereits mit ihm zu tun gehabt.
Dazu gibt es ein erstaunliches Beispiel aus der Schweiz:
Zitat "Der 65-jährige Mann stellte sich am 20. Februar 2010 der Polizei und erklärte, dass er 2004 Werner Kellenberger erschlagen haben soll. Der Mann wurde in Untersuchungshaft genommen und durch die Kantonspolizei und den Untersuchungsrichter befragt. Mittlerweile seien die gesetzlichen Haftgründe nicht mehr gegeben, schreibt die Staatsanwaltschaft St.Gallen in einer Mitteilung. Deshalb wurde der Mann am Dienstag auf freien Fuss gesetzt. Das Verfahren läuft weiter." http://snipurl.com/v63w1
Eine weitere der Blüten, die deutsche Gerichte so treiben:
Zitat von RA Udo VetterVor zwei Wochen ist einer meiner angestammten Kunden verhaftet worden. Die Ermittlungsrichterin erließ Haftbefehl, der Beschuldigte ging in Untersuchungshaft. Bei der Vorführung äußerte mein Mandant den Wunsch, von mir verteidigt zu werden. Die Richterin machte das, was das Gesetz seit Jahresanfang vorsieht: Sie versuchte zwar nicht, mich zu erreichen, ordnete mich aber immerhin als Pflichtverteidiger bei. Damit bin ich sozusagen öffentlich beauftragt (und auch verpflichtet), den Beschuldigten zu vertreten.
So weit, so gut. Nur hat es im Anschluss niemand bei der Staatsanwaltschaft oder beim Gericht für nötig gehalten, mir Bescheid zu sagen, dass ich ein neues Mandat habe.
-- La sabiduría se reduce a no olvidar jamás, ni la nada que es el hombre, ni la belleza que nace a veces en sus manos. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
Ich bin wirklich erschütternd, wie es da zugeht. Immerhin gefährdet man mit U-Haft ja das gesamte soziale Leben eines Menschen. Da sollte schon vorsichtig vorgegangen.
Der im lawblog beschriebene Fall geht übrigens noch weiter:
Zitat Nach dem Gesetz und dem Grundsatz eines fairen Verfahrens ist das Gericht verpflichtet, mich unverzüglich über Entscheidungen zu informieren. Ist nicht geschehen.
b)
Zitat Weder war es mir gestern möglich, meinen Mandanten anzurufen. (“Geht grundsätzlich nicht. Machen wir nicht. Sie können sich ja beschweren.”)
c)
Zitat Noch war es meinem Mandanten gelungen, binnen zwei Wochen ein Telefonat mit mir als seinem Pflichtverteidiger führen zu dürfen. Und das, obwohl er von sich aus bereits drei (!) schriftliche Anträge auf ein Telefonat gestellt und dringend um die Telefonerlaubnis gebeten hat. Die Anträge wurden zwar entgegengenommen. Auf eine Antwort oder das Telefonat wartete mein Mandant aber noch heute
Besonders die Kombination aus (a) und (c) ist schon ein Hammer! Und schier unvorstellbar, das so etwas in einem Rechtsstaat möglich ist.
Das Fazit ist dann:
Zitat Der Ablauf führt dazu, dass ein Inhaftierter längere Zeit im Gefängnis schmort, ohne die ihm zustehende juristische Unterstützung zu erhalten. Wir reden hier nicht über Stunden oder vielleicht ein, zwei Tage. Sondern über zwei Wochen! Aufgelöst wurde die Blockade überdies auch nur dadurch, dass sich die Mutter des Beschuldigten meldete und von der Verhaftung erzählte. Ohne ihren Anruf hätte es auch noch länger dauern können.
Zitat von FlorianIch bin wirklich erschütternd, wie es da zugeht. Immerhin gefährdet man mit U-Haft ja das gesamte soziale Leben eines Menschen.
Ich habe, lieber Florian, zunehmend den Eindruck, daß die U-Haft ein Relikt obrigkeitsstaatlichen Denkens ist; bei allen Justizreformen irgendwie vergessen.
Es wäre Zeit für eine öffentliche Kampagne anläßlich des Falls Kachelmann; eigentlich wäre ja die FDP als Partei der Freiheit dafür zuständig. Es gäbe hier, scheint mir, ein Aufgabengebiet für die liberale Justizministerin.
Nur - das wurde ja in diesem Thread schon geschrieben - bringt das schwerlich Wählerstimmen. Weil jeder unbscholtene Bürger (zu Unrecht) denkt, ihn könne es nicht treffen.
Andererseits: Weiter bergab kann es mit der FDP kaum noch gehen. Wie ich befüchtet hatte, hat Westerwelle sein Image als Außenminister für nichts und wieder nichts ruiniert. Das Strohfeuer ist abgebrannt, die FDP bei acht Prozent. - Aber das ist ein anderes Thema.
Andere Länder, andere Sitten (oder Sitten überhaupt?). Hier sind doch schwerwiegendere Verdachtsgründe vorhanden, als nur eine offenbar bisher nicht bewiesene Tat.
Zitat Der Zürcher Clubbesitzer Carl Hirschmann ist wieder auf freiem Fuss. Sein Sprecher teilte mit, der Haftrichter habe am Mittag gegen Untersuchungshaft entschieden. [...] Der Milliardärssohn war am Dienstag im Zürcher Nobelhotel Dolder Grand, wo er bisher zu logieren pflegte, festgenommen worden. Dies, weil gegen ihn zwei Anzeigen eingegangen waren. Demnach soll er mit einer Minderjährigen Sex gehabt und eine andere junge Frau sexuell genötigt haben. [...] Nach Ansicht des Haftrichters lägen die Haftgründe Fluchtgefahr und Wiederholungsgefahr nicht vor, heisst es in einer Mitteilung der Staatsanwaltschaft. Der Kollusionsgefahr werde mit einer Kontaktsperre begegnet. Der Haftrichter erachte den dringenden Tatverdacht der sexuellen Handlungen mit Kindern als gegeben, schreibt die Staatsanwaltschaft weiter. Er bezweifle dagegen die sexuelle Nötigung.
[...] Auch in Haft sass er schon mehrmals. Gewöhnlich ging es um Prügeleien und/oder Sexualdelikte.
Zitat von ZettelVerstehe ich das richtig, daß unterschieden wird zwischen a) der Wahrscheinlichkeit, daß der Angeschuldigte in der Hauptverhandlung verurteilt wird und b) der Wahrscheinlichkeit, daß er Täter ist?
Genau.
Zitat von ZettelAber wie kann es eine Differenz zwischen diesen beiden Wahrscheinlichkeiten geben? Ist die Implikation, daß jemand zwar mit großer Wahrscheinlichkeit Täter sein kann, aber die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung gleichwohl nicht groß ist?
Wenn das so sein sollte - an welche Fälle ist dann gedacht? Daß dem Staatsanwalt die Beweise für die Annahme einer hohen Tatwahrscheinlichkeit ausreichen, er aber vermutet, daß sie dem Gericht nicht ausreichen werden? Oder ist an eher exotische Fälle gedacht, wie daß jemand zwar auch vom Gericht als Täter festgestellt wird, er aber aus irgendeinem formalen Grund nicht verurteilt werden kann?
Ich versuche mal einen Beispielsfall zu konstruieren, der zumindest mir plausibel erscheint. (Disclaimer: ich habe seit dem vorgeschriebenen Gastspiel bei der Staatsanwaltschaft als Referendar beruflich so gut wie keine Berührung mehr mit dem Strafprozeßrecht; wenn also unter den Mitlesenden ein praktizierender Strafrechtler sein sollte, wird um ggf. angezeigte Korrektur gebeten.)
In einem Ermittlungsverfahren wird die Ehefrau des Beschuldigten vernommen. Sie sagt gegenüber der Polizei auch aus; nach ihren glaubhaften Angaben hat der Beschuldigte die Tat begangen. Zudem ergibt sich aus der Aussage, daß es noch drei weitere potentielle Zeugen gibt, außerdem wahrscheinlich weitere Beweismittel in der Wohnung und dem Auto des Beschuldigten aufgefunden werden können. Am folgenden Tag ruft sie bei der Polizeidienststelle an und teilt mit, daß sie im Falle einer Anklageerhebung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen wird.
Dringender Tatverdacht dürfte vorliegen, denn die Wahrscheinlichkeit, daß der Beschuldigte die Tat begangen hat, ist nach den bisherigen Erkenntnissen hoch. Das heißt, wenn auch noch Verdunklungsgefahr besteht, etwa weil der Beschuldigte bekanntermaßen bereits in der Vergangenheit gerne mal auf Zeugen eingewirkt hat, müßte die U-Haft zulässig sein. Hinreichender Tatverdacht für eine Anklageerhebung liegt dagegen gerade nicht vor. Denn dazu bedürfte es zusätzlich der Wahrscheinlichkeit der Verurteilung, die nach dem gegenwärtigen Stand (noch) nicht gegeben ist: die einzige bisher vernommene Zeugin steht voraussichtlich in der Hauptverhandlung nicht zur Verfügung, und die möglichen weiteren Beweismittel sind bislang nicht ausermittelt. Die U-Haft dient in diesem Fall gerade dazu, die Voraussetzungen für eine Anklageerhebung, also für die Feststellung eines hinreichenden Tatverdachts, erst noch zu schaffen, indem die vermuteten Beweismittel bis zum Abschluß der Ermittlungen vor Einwirkung durch den Beschuldigten gesichert werden.
Das, wie gesagt, als m.E. denkbarer Beispielsfall dafür, warum ein Tatverdacht dringend sein kann, ohne hinreichend zu sein. Die Mitteilung der StA im Falle Kachelmann, eine Anklageerhebung stehe noch nicht fest, ist m.E. schlicht eine Umschreibung dafür, daß die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind. Was es da noch zu ermitteln gibt, darüber kann ich auch nur spekulieren - psychologisches Gutachten über die Glaubwürdigkeit der mutmaßlichen Geschädigten?
Zitat von ZettelAber wie kann es eine Differenz zwischen diesen beiden Wahrscheinlichkeiten geben? Ist die Implikation, daß jemand zwar mit großer Wahrscheinlichkeit Täter sein kann, aber die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung gleichwohl nicht groß ist?
Wenn das so sein sollte - an welche Fälle ist dann gedacht? Daß dem Staatsanwalt die Beweise für die Annahme einer hohen Tatwahrscheinlichkeit ausreichen, er aber vermutet, daß sie dem Gericht nicht ausreichen werden? Oder ist an eher exotische Fälle gedacht, wie daß jemand zwar auch vom Gericht als Täter festgestellt wird, er aber aus irgendeinem formalen Grund nicht verurteilt werden kann?
Ich versuche mal einen Beispielsfall zu konstruieren, der zumindest mir plausibel erscheint. (Disclaimer: ich habe seit dem vorgeschriebenen Gastspiel bei der Staatsanwaltschaft als Referendar beruflich so gut wie keine Berührung mehr mit dem Strafprozeßrecht; wenn also unter den Mitlesenden ein praktizierender Strafrechtler sein sollte, wird um ggf. angezeigte Korrektur gebeten.)
In einem Ermittlungsverfahren wird die Ehefrau des Beschuldigten vernommen. Sie sagt gegenüber der Polizei auch aus; nach ihren glaubhaften Angaben hat der Beschuldigte die Tat begangen. Zudem ergibt sich aus der Aussage, daß es noch drei weitere potentielle Zeugen gibt, außerdem wahrscheinlich weitere Beweismittel in der Wohnung und dem Auto des Beschuldigten aufgefunden werden können. Am folgenden Tag ruft sie bei der Polizeidienststelle an und teilt mit, daß sie im Falle einer Anklageerhebung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen wird.
Dringender Tatverdacht dürfte vorliegen, denn die Wahrscheinlichkeit, daß der Beschuldigte die Tat begangen hat, ist nach den bisherigen Erkenntnissen hoch. Das heißt, wenn auch noch Verdunklungsgefahr besteht, etwa weil der Beschuldigte bekanntermaßen bereits in der Vergangenheit gerne mal auf Zeugen eingewirkt hat, müßte die U-Haft zulässig sein.
Hinreichender Tatverdacht für eine Anklageerhebung liegt dagegen gerade nicht vor. Denn dazu bedürfte es zusätzlich der Wahrscheinlichkeit der Verurteilung, die nach dem gegenwärtigen Stand (noch) nicht gegeben ist: die einzige bisher vernommene Zeugin steht voraussichtlich in der Hauptverhandlung nicht zur Verfügung, und die möglichen weiteren Beweismittel sind bislang nicht ausermittelt.
Danke für die Erläuterung, lieber FAB. Dieser Fall leuchtet mir ein, aber er ist eben, wie Sie schreiben, konstruiert - dh er unterstellt ein denkbares, aber unwahrscheinliches Szenario; nämlich, daß die Zeugin einerseits der Staatsanwaltschaft und dem Untersuchungsrichter glaubwürdig erscheint, daß sie andererseits im Prozeß aber nicht zur Verfügung stehen wird. Zweitens kommt noch die Verdunklungsgefahr hinzu, die in diesem konstruierten Fall wohl als so relevant angesehen werden muß, daß die Staatsanwaltschaft meint, mit der Erwirkung eines Haftbefehls nicht warten zu können, bevor die anderen Zeugen vernommen sind. Denn diese würden ja entweder den dringenden Tatverdacht bestätigen; damit würden sie auch einen hinreichenden Tatverdacht begründen (unterstelle ich). Oder sie würden Aussagen machen, die diejenigen der Ehefrau nicht bestätigen; dann wäre vermutlich auch der dringende Tatverdacht dahin.
Zitat von FAB.Die Mitteilung der StA im Falle Kachelmann, eine Anklageerhebung stehe noch nicht fest, ist m.E. schlicht eine Umschreibung dafür, daß die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind. Was es da noch zu ermitteln gibt, darüber kann ich auch nur spekulieren - psychologisches Gutachten über die Glaubwürdigkeit der mutmaßlichen Geschädigten?
Ja, und da stellt sich mir eben unverändert die Frage, wieso man angesichts der Schwere des Eingriffs in die Existenz eines Menschen, welche die U-Haft bedeutet, das (und sonstige Ermittlungen) nicht hätte machen können, bevor man ggf. die U-Haft erwirkt.
Jedenfalls aufgrund dessen, was bisher der Öffentlichkeit mitgeteilt wurde, erknne ich keinen Hinweis darauf, daß über die generelle Fluchtgefahr hinaus, die sich aus dem Wohnsitz im Ausland ableiten läßt, Kachelmann konkrete Fluchtpläne gehabt hätte. Offenbar hatte man ihn ja noch nicht einmal von der Anzeige und den Ermittlungen gegen ihn in Kenntnis gesetzt. Wie er hätte verdunkeln können, ist auch ganz unklar.
Kurzum, lieber FAB.: Bei mir verstärkt sich der Eindruck, daß hier mit obrigkeitsstaatlicher Willkür gehandelt wurde. Natürlich kann es sein, daß es Erkenntnisse gibt, die den Fall in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen, die aber der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind, und die diesen Eindruck zerstreuen würden.
In jedem Fall sollte sich die Staatsanwaltschaft mit der Entscheidung über die Anklageerhebung beeilen, damit dieser Eindruck der Willkür nicht weiter verstärkt wird.
Ich sehe den konkreten Fall gar nicht so viel weniger kritisch; was bisher zu lesen war, läßt mir die (fortdauernde) Haft eher unangebracht erscheinen. Wie ich oben schon schrieb: ich würde wirklich gerne die Begründung der Haftanordnung lesen. Das Gesetz, man lese die §§ 112-130 StPO, ist m.E. nicht schlecht, auch nicht übermäßig "obrigkeitsstaatlich", sondern durchaus um den Ausgleich zwischen der schonenden Behandlung des möglicherweise Unschuldigen und den Notwendigkeiten effektiver Strafrechtspflege bemüht. Zumal der § 116 StPO eröffnet genug Möglichkeiten, den Einzelfall angemessen zu behandeln, und nach §§ 117, 118 StPO kann der Beschuldigte "jederzeit" im Rahmen der Haftprüfung unter anwaltlichem Beistand unmittelbar gegenüber dem zuständigen Richter vorbringen, daß und warum der Haftbefehl aufzuheben oder außer Vollzug zu setzen sei. Bei der Entscheidung hierüber hat der Richter zwar naturgemäß Bewertungs- und Beurteilungsspielräume; das liegt aber in der Natur jeder Rechtsanwendung.
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