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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 14 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

07.05.2010 11:33
Marginalie: Absolute Mehrheit für die Tories in England Antworten

Ein britisches Wahlergebnis gibt es eigentlich nicht. In den vier Ländern des UK wurde radikal unterschiedlich abgestimmt.

Übrigens auch, was den Swing angeht. Im Gesamtergebnis liegt er bei gegenwärtig 5,1 Prozentpunkten von Labour zu den Tories. In Wales sieht es ähnlich aus.

In Schottland aber hat sich unter dem Strich überhaupt nichts gegenüber den letzten Wahlen geändert (ein Swing von 0,1 Prozent (!) von der nationalistischen SNP zu Labour). Und dort haben die Liberaldemokraten sogar nach Stimmen fast vier Prozent verloren, was sich allerdings auf die Sitze nicht ausgewirkt hat.

FTT_2.0 Offline



Beiträge: 537

07.05.2010 11:55
#2 RE: Marginalie: Absolute Mehrheit für die Tories in England Antworten

Zitat
Ohne die Schotten, die Waliser und die Nordiren könnten also die Konservativen nach dieser Wahl komfortabel regieren.

Das Mehrheitswahlrecht hat somit auch diesmal wieder funktioniert, wie es soll: Es hat der jeweils stärksten Partei des Landes, auch wenn sie nicht die absolute Mehrheit der Stimmen erreichte, eine deutliche absolute Mehrheit der Sitze eingebracht.



Es sind aber nun mal nicht vier Regionalparlamente bestellt worden, sondern ein "nationales".

Ohne den Rest Deutschlands wären wir Bayern auch in den letzten Jahrzehnten auch nur stabil von einer Partei regiert worden.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

07.05.2010 12:26
#3 RE: Marginalie: Absolute Mehrheit für die Tories in England Antworten

Lieber Zettel,

das nenne ich aber mal Chuzpe!

Da zerbröselt gerade ein antiquiertes und völlig vermurkstes Wahlrecht, weil es überhaupt nicht mehr zur politischen Struktur Großbritanniens paßt. Und es hat auch versagt bei seiner angeblichen Hauptaufgabe, nämlich der Schaffung einer stabilen Regierungsmehrheit - im Gegenteil ist das Parlament völlig zersplittert und orientierungslos.

Und dann stellen Sie sich hin und verschieben einfach die Sichtachse, bis es so scheint, ihre These wäre doch bestätigt worden.

Mit Verlaub, da kommen mir fast Assoziationen wie "Das Mehrheitswahlrecht in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf" ...

Fakt ist aber nun mal, daß es in Großbritannien keine getrennten vier Länder gibt. Es gibt zwar vier verschiedene Fußballmannschaften, aber im politischen Bereich ist GB viel stärker vereinheitlicht als Deutschland, die vier Regionen haben viel weniger Zuständigkeiten und Eigenleben als ein deutsches Bundesland. Und es sind eben keine vier Regionalparlamente gewählt worden, sondern EIN Unterhaus für ganz Großbritannien.

So wie es aussieht ist das britische Wahlrecht jetzt so diskreditiert, daß eine durchgreifende Reform zu erwarten ist. Wie es die Briten ja bei den Regionalparlamenten in Schottland und Wales schon gemacht haben - die Entwicklung ist also absehbar.
Und dann wird es wohl auch wieder britische Regierungen geben, die ohne Mogeln eine solide demokratische Legitimation haben. Die die war schon bei der Regierung Brown nicht mehr wirklich gegeben und Cameron hätte sie jetzt auch nicht.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

07.05.2010 12:46
#4 RE: Marginalie: Absolute Mehrheit für die Tories in England Antworten

Zitat von R.A.
Lieber Zettel,
das nenne ich aber mal Chuzpe!

Diese kleine Anmerkung, lieber R.A, habe ich speziell für Sie in den Artikel geschrieben.

Denn es ist nun einmal so: Das Mehrheitsrecht dient dazu, bestehende Unterschiede in den Stimmenverhältnissen so zu vestärken, daß eine Partei in der Regel die absolute Mehrheit erreicht. Es ist in diesem Sinn "ungerecht", und genau das ist sein Sinn und Zweck.

Wenn es nun aber solche Unterschiede in den einzelnen Ländern, aus denen das UK nun einmal besteht, massiv in entgegengesetzte Richtungen gibt, dann kann auch ein Mehrheitswahlrecht das nicht mehr ausbügeln.

Gegenwärtig sind 621 Wahlbezirke ausgezählt. Die Konservativen haben 291, Labour hat 251 und die LibDems haben 52 Sitze; die Anderen zusammen 27.

Wäre nach unserem Wahlrecht gewählt worden, dann hätten die Anderen gar keinen Sitz, die Konservativen 255, Labour 205 und die LibDems 161. Würde das die Regierungsbildung vereinfachen?

Herzlich, Zettel

Dagny Offline



Beiträge: 1.096

07.05.2010 13:26
#5 RE: Marginalie: Absolute Mehrheit für die Tories in England Antworten

Zettel trifft mit seiner Analyse des Pudels Kern. Anfang kommender Woche wirds von mir beim A-Team in dieser Richtung einen ggf. laengeren Artikel geben. - Was das Wahlrecht angeht: Warum soll ein Verhaeltniswahlrecht zu einer anderen Situation fuehren? Im Verhaeltniswahlrecht hatten Labour 26, LibDem 25, Tories 35%. Die kleinen Parteien teilen sich den Rest mit z.T. sehr wenigen Prozentpunkten und fallen ggf. durch die 5%-Huerde, die es dann gaebe? Politischer Kuhhandel waere an der Tagesordnung, der Wahlsieger (35%) wurde vermutlich keinen Fuss in Nummer 10 bekommen, da sich LibDems und Labour ggf. naeher stehen. Auch bezweifle ich, dass ein etwaiges Referendung zur Aenderung des Wahlrechts eine Mehrheit faende. Auch wenn die Journaille das anders sehen mag.

(Nachtrag, aus dem von der Wahlnacht mueden Kopf: Die Conservativen haben in Wales und Corwall Sitze gewonnen. Was ein Zeichen fuer den Swing ist. In Nordirland ist die politische Situation ohnehin eine andere. In Schottland haben die Konservativen weder bei den Stimmen, noch bei den Sitzen zugelegt. Schottland ist weiter Labour-Hochburg, gefolgt von LibDems und einigen SNP-Sitzen. Fuer die Schwaeche der Konservativen north of the border gibt es eine Reihe, weitgehend irrationaler Gruende).

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

07.05.2010 14:45
#6 RE: Marginalie: Absolute Mehrheit für die Tories in England Antworten

Zitat von Zettel
Diese kleine Anmerkung, lieber R.A, habe ich speziell für Sie in den Artikel geschrieben.


Wie lieb, verbindlichsten Dank.

Zitat
Das Mehrheitsrecht dient dazu, bestehende Unterschiede in den Stimmenverhältnissen so zu vestärken, daß eine Partei in der Regel die absolute Mehrheit erreicht. Es ist in diesem Sinn "ungerecht", und genau das ist sein Sinn und Zweck.


Das ist nun so komplett falsch, das man kaum weiß, wo man mit der Demontage anfangen muß.

Das Mehrheitswahlrecht dient nur dazu, das Wahlvolk durch Vertreter zu repräsentieren, die geographisch halbwegs gleichmäßig verteilt sind. Wenn jeder Wahlkreis seinen Abgeordneten schickt, dann kann das Parlament für das ganze Königreich Entscheidungen fällen.

Von Parteien ist in diesem ganzen Wahlrecht nirgends die Rede, diese sind ja auch historisch erst viel später entstanden.
Die verzerrende Wirkung hat deswegen auch überhaupt keine Systematik, es ist reiner Zufall, wenn genügend Abgeordnete einer Partei gewählt werden, um eine absolute Mehrheit zu haben.

Von "Sinn und Zweck" des Mehrheitswahlrechts in Richtung Regierungsbildung kann schon deshalb keine Rede sein, weil es in einer Zeit entstanden ist, als es nur über Steueranforderungen des Königs zu entscheiden hatte und überhaupt keine Regierung zu wählen war.

Die wesentliche Konstruktionsbasis des Mehrheitswahlrechts war die Tatsache, daß früher eine landesweite Wahl nicht zu organisieren war. Diese Restriktion ist weggefallen, damit auch die Berechtigung für ein Wahlkreis-bezogenes Wahlrecht.

Mit dem Aufkommen von Parteien sind ganz andere Aspekte wichtig geworden.
Erst jetzt kann überhaupt eine Idee sinnvoll sein, daß in der Regierung nur Mitglieder einer einzigen Partei sitzen sollen (was keine sehr naheliegende Idee ist, es gibt viele andere Konzepte).
Und dann erst kann man wie Sie es nützlich finden, daß diese Partei auch die Mehrheit im Parlament haben sollte, um der Regierung eine sichere Basis zu verschaffen.
Und dann erst kann man im nächsten Schritt darüber nachdenken, dieses Ziel durch eine bestimmte Wahlrechtskonstruktion zu erreichen.

Wie schon gesagt: Alle diese Überlegungen hat es in England so nie gegeben, man sollte also in ein überliefertes Relikt nicht Gründe hineininterpretieren, die es nie gab.

Und dann: WENN man schon Ihr Ziel von der sicheren Mehrheit für eine Partei umsetzen will, dann wird man eher nicht das Mehrheitswahlrecht nehmen. Eben weil dieses ziemlich ungeeignet ist, dieses Ziel zu garantieren. Um so ungeeigneter, je komplexer die Parteienstruktur wird (und das ist in GB zunehmend der Fall).
DANN sollte man nämlich ein Parteienwahlrecht installieren mit einer Zusatzklausel, die der stärksten Partei einen Bonus bei den Sitzen verschafft, so daß sie in eine Mehrheitsposition kommt, die ihr der Wähler eigentlich nicht gegeben hat.

Zitat
Wenn es nun aber solche Unterschiede in den einzelnen Ländern, aus denen das UK nun einmal besteht, massiv in entgegengesetzte Richtungen gibt, dann kann auch ein Mehrheitswahlrecht das nicht mehr ausbügeln.


Was zeigt: Das Mehrheitswahlrecht ist strukturell wenig geeignet, die von Ihnen gewünschten Ziele zu erreichen. Denn das UK ist ja wegen der Dominanz Englands noch halbwegs homogen. Wenn Wales, Nordirland und Schottland größer wären, hätte das Mehrheitswahlrecht schon lange nicht mehr "funktioniert".

Zitat
Wäre nach unserem Wahlrecht gewählt worden, dann hätten die Anderen gar keinen Sitz, die Konservativen 255, Labour 205 und die LibDems 161.


Das kann man nicht sagen. Wenn nach unserem Wahlrecht gewählt worden wäre, hätte es ein ganz anderes Wahlergebnis gegeben (wohl eher in Richtung der Umfragewerte). Ein Hauptnachteil des Mehrheitswahlrechts ist ja der Zwang zum taktischen Wählen - Millionen Briten haben nicht nach ihrer wirklich politischen Präferenz gewählt.

Zitat
Würde das die Regierungsbildung vereinfachen?


Ganz bestimmt - die wegfallenden 8 Kleinparteien verhindern ja derzeit jede Mehrheitsbildung (außer CON-LIB).

Aber das ist nicht mein Punkt. Sondern die Tatsache, daß man eine Priorität für leichte Regierungsbildung (die ich nicht teile) völlig anders ins Wahlrecht einbauen müßte.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

07.05.2010 14:57
#7 RE: Marginalie: Absolute Mehrheit für die Tories in England Antworten

Zitat von Dagny
Warum soll ein Verhaeltniswahlrecht zu einer anderen Situation fuehren?


Weil es ein klares und ehrliches Wahlergebnis ermöglichen würde.

Derzeit gibt es zwei ganz massive Verzerrungen:
Die Wahlkreise sind grotesk manipuliert (zugunsten von Labour) und Millionen von Wählern müssen aus taktischen Gründen anders abstimmen, als sie eigentlich wollen.

Ich könnte ja noch damit leben, wenn NACH einer unverzerrten Ermittlung des Wahlergebnisses die Sitzzuteilung an die Parteien so erfolgt, daß einer Partei die alleinige Mehrheit verschafft wird. Hielte ich zwar aus verschiedenen Gründen für falsch - aber wenn man das Ziel "es darf auf keinen Fall eine Koalition geben" so hoch hängt, dann wäre die Zuteilung von Extramandaten die handwerklich saubere Lösung.

Was dagegen in UK derzeit läuft, ist doch kurz vor gewürfelt.

Zitat
Politischer Kuhhandel waere an der Tagesordnung ...


Den gibt es in Parlamenten immer, notfalls zwischen den Flügeln einer Partei (so war das lange Zeit in Japan).
Wenn man "politischen Kuhhandel" nicht möchte (ich finde ihn per se nicht schlimm), dann muß man sich fragen, ob man überhaupt Abgeordnete installieren will. Jedenfalls solche, die nicht verläßliche Befehlsempfänger der jeweiligen Parteiführung sind.

Zitat
der Wahlsieger (35%) wurde vermutlich keinen Fuss in Nummer 10 bekommen


Mit jämmerlichen 35% ist man kein Wahlsieger, sondern hat deutlich die Mehrheit gegen sich.

Aber gut: Wenn man Cameron nun für einen Wahlsieger hält - dann kann man doch mit dem britischen Wahlrecht auch nicht zufrieden sein. Denn er wird vielleicht in Nr. 10 einziehen können, ist aber dort "lame duck" und vom Wohlwollen diverser Kleinparteien abhängig.

Zitat
Auch bezweifle ich, dass ein etwaiges Referendung zur Aenderung des Wahlrechts eine Mehrheit faende.


Sehe ich anders, ist aber nebensächlich. Denn eine Wahlrechtsreform wäre vom Parlament zu beschließen, ein Referendum muß da nicht sein.

FTT_2.0 Offline



Beiträge: 537

07.05.2010 21:48
#8 RE: Marginalie: Absolute Mehrheit für die Tories in England Antworten

Zitat von Dagny
Zettel trifft mit seiner Analyse des Pudels Kern.



Und wenn man die CDU nicht mitrechnet, hat die SPD die letzten Bundestagswahlen gewonnen.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.05.2010 00:44
#9 RE: Marginalie: Absolute Mehrheit für die Tories in England Antworten

Zitat von R.A.

Zitat von Zettel
Das Mehrheitsrecht dient dazu, bestehende Unterschiede in den Stimmenverhältnissen so zu vestärken, daß eine Partei in der Regel die absolute Mehrheit erreicht. Es ist in diesem Sinn "ungerecht", und genau das ist sein Sinn und Zweck.


Das ist nun so komplett falsch, das man kaum weiß, wo man mit der Demontage anfangen muß.



Aber sie demontieren doch gar nicht, lieber R.A.

Sie schildern die historische Entwicklung: ich habe von der Funktion gesprochen, dh. von den rationalen Gründen, die für das Mehrheitswahlrecht sprechen. Es hat nun einmal die Verstärkungsfunktion, die bewirkt, daß aus relativen Mehrheiten absolute werden.

Sehen Sie sich die Ergebnisse für England, für Schottland, für Wales an:

England: Konservative stärkste Partei mit 39,6 Prozent; 297 von 533 Sitzen.

Schottland: Labour stärkste Partei mit 42,0 Prozent; 41 von 50 Sitzen.

Wales: Labour stärkste Partei mit 36,2 Prozent; 26 von 40 Sitzen.

Bei den französischen Regionalwahlen versucht man übrigens (bei Verhältniswahlrecht), denselben Effekt dadurch zu erzielen, daß die jeweils stärkste Partei Bonus-Mandate erhält.

Gewiß, lieber R.A., ist das Mehrheitswahlrecht historisch nicht mit der Absicht entstanden, einen solchen Verstärkungseffekt zu bewirken. Niemand hat das geplant; so, wie in der Evolution niemand plant, daß sich erfolgreiche Lösungen durchsetzen. Daß wir aufrecht gehen, wurde nicht geplant. Es hat sich nur als praktisch erwiesen.

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.05.2010 00:58
#10 RE: Marginalie: Absolute Mehrheit für die Tories in England Antworten

Zitat von R.A.

Zitat von Dagny
Warum soll ein Verhaeltniswahlrecht zu einer anderen Situation fuehren?


Weil es ein klares und ehrliches Wahlergebnis ermöglichen würde.



Aber was, lieber R.A., ist denn "ehrlich"? Klar ist das Mehrheitswahlrecht ohnehin. Es ist so einfach, einfacher geht es nicht: Winner takes all.

Und was sehen Sie bei Repräsentation als "ehrlich" an? Die Väter der US-Verfassung haben sich redlich damit herumgeschlagen. Ist es gerecht, wenn jeder Staat im Parlament mit gleich vielen Repräsentanten vertreten ist? Ist es gerecht, wenn die Stimme jedes Wahlbürgers dasselbe Gewicht hat? Heraus kam das Zweikammersystem aus Senat und Repräsentantenhaus. Man hat einfach beide Prinzipien akzeptiert.

Es gibt nicht das, was Sie "ehrlich" und was andere "gerecht" nennen. Parlamentarismus ist nicht eine Frage der "Repräsentation aller Meinungen", was immer das sein soll. Sondern die parlamentarische System ist das einzige bisher funktionierende, in dem man eine Regierung legal wieder los werden kann.

Und wenn es gut konstruiert ist, wie die grandiose, die unfaßbar gute amerikanische Verfassung, dann sorgt es auch noch dafür, daß jeder Macht Einhalt geboten wird, ohne daß das System funktionsunfähig wird.

Das ist ein Optimierungsproblem, und Jefferson, Hamilton, Madison und Mitstreiter, diese alten Aufklärer, haben es vor mehr als 200 Jahren besser gelöst als die meisten "modernen" Verfassungen.

Herzlich, Zettel

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

08.05.2010 13:36
#11 RE: Marginalie: Absolute Mehrheit für die Tories in England Antworten

Diese ganze Diskussion setzt eine unhinterfragte Prämisse voraus, die da lautet: "Beim Verhältniswahlrecht würden genau die gleichen Stimmen abgegeben wie beim Mehrheitswahlrecht". Das ist aber sehr sehr unwahrscheinlich. Erstens kann es beim Mehrheitswahlrecht keine Lagerwahlkämpfe geben (und damit keine "rot-grünen Projekte", was allein schon eine Einführung begrüßenswert machen würde ), und zweitens hat die Person des MP und sein Engagement für den Wahlkreis einen ganz anderen Einfluss als die Parteien).

Unser Verständnis "Das Volk wählt die Regierung" ist ein völlig unparlamentarisches. Das Volk wählt das Parlament und sonst nix. Dieses Verständnis ist halt historisch bedingt durch die extreme Gewaltenverschränkung zw. Gesetzgebung und Exekutive. In präsidentiellen Systemen wie Frankreich stellt sich die Frage gar nicht so sehr.

Gruß Petz

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

08.05.2010 13:58
#12 RE: Marginalie: Absolute Mehrheit für die Tories in England Antworten

Zitat von Zettel
ich habe von der Funktion gesprochen


Nein. Sie haben von einer (von Ihnen vermuteten) Eigenschaft gesprochen. Eigenschaften können "evolutionär" entstehen (und auch wieder verschwinden).
Eine "Funktion" oder ein "Zweck" (Ihre vorige Formulierung) impliziert aber etwas anderes: Daß etwas nicht zufällig entstanden ist, sondern geplant. Daß jemand bewußt die Entscheidung getroffen hat, ein gewisses Ziel erreichen zu wollen. Daß es also in GB eine Entscheidung oder einen Konsens gegeben hätte, daß "stabile Regierungsbildung" ein wünschenswertes und prioritäres Ziel wäre und DESWEGEN würde man dieses Wahlrecht benutzen.
Aber das ist eben nicht so. Das Wahlrecht ist letztlich eine historisch gewachsene Zufälligkeit, mehr nicht - rationale Gründe haben da keine Rolle gespielt.

Zitat
Es hat nun einmal die Verstärkungsfunktion, die bewirkt, daß aus relativen Mehrheiten absolute werden.


Wie wir gerade sehen: Genau das bewirkt sie nicht.
Weil diese Verstärkungsfunktion ungerichtet funktioniert, fast zufällig. Sie hat nicht nur die Gewinner (Tories) verstärkt, sondern noch viel mehr die Verlierer (Labour). Und sie verstärkt alle möglichen Splitterparteien, die nun eine Regierungsbildung erschweren.

Zitat
Sehen Sie sich die Ergebnisse für England, für Schottland, für Wales an:


Welch Zufall - Nordirland haben Sie vergessen
Insgesamt haben wir nämlich fünf Ergebnisse. Bei den drei von ihnen genannten gibt es absolute Mehrheiten, bei den anderen beiden (UK und Nordirland) nicht. Keine tolle "Erfolgsquote". Vor allem wenn man bedenkt, daß das Wahlsystem für das UK insgesamt eine völlig vermurkste Situation erzeugt hat - es droht eine Koalition aus drei Parteien (Lab, LibDem, SLDP), die trotzdem nur eine Minderheitsregierung wäre und durch Schotten oder Waliser von Fall zu Fall gestützt würde.
In 60 Jahren hat das deutsche Wahlrecht weder im Bund noch in den Ländern jemals ein so chaotisches Ergebnis gebracht.

Zitat
Bei den französischen Regionalwahlen versucht man übrigens (bei Verhältniswahlrecht), denselben Effekt dadurch zu erzielen, daß die jeweils stärkste Partei Bonus-Mandate erhält.


Richtig.
Und da ist es a) wirklich politisch gewollt und b) technisch sauber umgesetzt. Während es im UK nur ungeplanter Murks ist.

Der Gag ist doch: WENN Ihr politisches Hauptziel ist, daß EINE PARTEI ein klares Regierungsmandat mit Mehrheit im Parlament bekommt - DANN brauchen Sie auch ein Wahlrecht, daß in erster Linie auf Parteien abzielt, nicht auf einzelne Abgeordnete. Einer Parteiliste kann man nämlich durch geeignete Regelungen eine Mehrheit verschaffen - bei einem Haufen von Einzelabgeordneten, die völlig unabhängig voneinander bestimmt werden, geht das systematisch überhaupt nicht.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.05.2010 14:07
#13 RE: Marginalie: Absolute Mehrheit für die Tories in England Antworten

Zitat von Meister Petz
Unser Verständnis "Das Volk wählt die Regierung" ist ein völlig unparlamentarisches. Das Volk wählt das Parlament und sonst nix. Dieses Verständnis ist halt historisch bedingt durch die extreme Gewaltenverschränkung zw. Gesetzgebung und Exekutive. In präsidentiellen Systemen wie Frankreich stellt sich die Frage gar nicht so sehr.


Ja, das ist, glaube ich, ein wichtiger Punkt. Die Parlamente waren ja im 19. Jahrhundert zunächst Einrichtungen, die dem Volk ein gewisses Mitspracherecht erlauben sollten; in Fragen des Budgets vor allem. Die Regierung aber wurde vom Monarchen eingesetzt.

So ist das in den USA auch noch heute, nur daß der Monarch ein Wahlmonarch auf vier und maximal acht Jahre ist. Aber die Regierung hat in den USA mit den beiden Parlamenten unmittelbar nichts zu tun. Man kann auch gar nicht zugleich einem davon angehören und Minister sein; das erschiene einem Amerikaner als absurd.

Im europäischen Parlamentarismus ist aber der politisch mächtige Monarch und die von ihm eingesetzte Regierung verschwunden, und das Parlament erhielt neben seinen klassischen Aufgaben nun auch diejenige, eine Regierung zu wählen, überwiegend besetzt mit Mitgliedern just dieses Parlaments.

Im Grunde war dies das Ende einer wirklichen Gewaltenteilung. Seit in Deutschland die Zahl der parlamentarischen Staatssekretäre wucherte, kann ohnehin von einer Gewaltenteilung keine Rede mehr sein.

Im Grunde könnte man fast alle Probleme heutiger Demokratien beheben, wenn man einfach die wunderbare amerikanische Verfassung, was die Institutionen angeht, ein zu eins übernehmen würde.

Herzlich, Zettel

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

08.05.2010 14:11
#14 RE: Marginalie: Absolute Mehrheit für die Tories in England Antworten

Zitat von Zettel
Aber was, lieber R.A., ist denn "ehrlich"?


Ehrlich ist ein Wahlsystem für mich, wenn jeder Wähler wirklich genau die Partei oder Person wählt, die er für die beste hält.
Je mehr Wähler zu taktischem Wählen gezwungen sind, desto "unehrlicher" wird das Ergebnis.

Im UK ist das in sehr großem Maße der Fall. Millionen von Wählern müssen dort feststellen, daß ihre Stimme von vorneherein für den Papierkorb ist: Weil "ihr" Kandidat in diesem Wahlkreis chancenlos ist. Und dann bleiben sie zu Hause oder wählen irgendeine Option, die sie eigentlich für zweit- oder drittklassig halten.
Das aktuelle Wahlergebnis zeigt das recht deutlich durch die erheblichen Unterschiede zwischen Prognosen und realem Wahlergebnis - mit den üblichen (hier schon oft diskutierten) Fehlerraten von Prognosen ist das nicht mehr erklärbar.

Wir wissen eigentlich nicht, was die Briten wirklich hätten wählen wollen - das Wahlsystem verzerrt nicht nur massiv bei der Umrechnung von Stimmen in Sitze, sondern schon bei der Stimmabgabe selber.

Mit der Frage der "gerechten Repräsentanz" hat das nichts zu tun, da bin ich völlig Ihrer Meinung.

Zitat
Parlamentarismus ist nicht eine Frage der "Repräsentation aller Meinungen", was immer das sein soll.


Eigenlich schon.
Die Grundidee eines Parlaments ist es, "das Volk" zu vertreten. Weil es eben nicht möglich ist, ein ganzes Volk wie in einem Schweizer Kanton auf dem Marktplatz zu versammeln, übernehmen "Repräsentanten" das. Im Idealfall würde ein Parlament bei jeder Sach- oder Personalfrage exakt so entscheiden, wie das eine allgemeine Volksabstimmung tun würde.

Wie Meister Petz das schon richtig ausgeführt hat: Ein Parlament ist in erster Linie eine Volksvertretung, nicht ein Regierungswahlorgan.

Wobei ich ja durchaus d'accord gehe, daß inzwischen die Regierungsbildung als wichtige Aufgabe dazu gekommen ist, und da muß man vielleicht aus praktischen Gründen Maßnahmen einführen (z. B. die 5%-Klausel), die die Grundidee der Repräsentanz verwässern.
Aber solche Abweichungen sollten maßvoll sein und die Grundidee nicht aus den Augen verlieren.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.05.2010 14:23
#15 RE: Marginalie: Absolute Mehrheit für die Tories in England Antworten

Zitat von R.A.

Zitat von Zettel
Aber was, lieber R.A., ist denn "ehrlich"?


Ehrlich ist ein Wahlsystem für mich, wenn jeder Wähler wirklich genau die Partei oder Person wählt, die er für die beste hält.
Je mehr Wähler zu taktischem Wählen gezwungen sind, desto "unehrlicher" wird das Ergebnis.



OK, jetzt habe ich das verstanden.

Aber gerade in diesem Punkt sehe ich keinen Vorteil des Verhältniswahlrechts. Da Koalitionen die Regel sind, kann man ja fast gar nicht anders, als taktisch zu wählen. Erinnern Sie sich, lieber R.A., noch an unsere Diskussion vor den letzten Bundestagswahlen? Ich habe damals geschrieben, daß ich die FDP nicht wählen würde, wenn sie offengelassen hätte, ob sie nicht doch in eine Ampel einsteigt. Ich wollte wissen, ob ich Merkel wähle oder Steinmeier.

Morgen ist die FDP in NRW die einzige Partei, bei der man weiß, was man bekommt, wenn man sie wählt. Wer die Grünen wählt, der weiß nicht, ob er damit eine schwarz dominierte Regierung wählt oder eine mit Kommunisten im Kabinett.

Wo, lieber R.A., ist da Platz für "Ehrlichkeit"? Der politisch mündige Wähler wird fast immer taktisch wählen.

Herzlich, Zettel

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