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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 42 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
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Zettel Offline




Beiträge: 20.200

11.05.2010 20:13
Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

CNN hat soeben gemeldet, daß in den kommenden Stunden Gordon Brown der Queen seinen Rücktritt anbieten wird. Das geschieht in Großbritannien traditionell dann, wenn nach Wahlen sicher ist, daß es einen neuen Premier geben wird.

Die Tories und die LibDems stehen offenbar kurz vor einer solchen Einigung über eine Koalition. Nach noch nicht einmal einer Woche der Verhandlungen.

Man sieht, es geht auch anders als heutzutage in Deutschland.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

11.05.2010 20:31
#2 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Vor knapp zehn Minuten hat BBC den bevorstehenden Rücktritt von Gordon Brown gemeldet:

Zitat von BBC
Gordon Brown has announced he is to resign as prime minister.

His decision comes as the Tories and Liberal Democrats are poised to agree a deal to form a government.

Labour's attempts to negotiate a deal of their own with the Lib Dems, after last week's inconclusive election result, ended in failure on Tuesday.

Mr Brown is expected to officially tender his resignation to the Queen, after which he will be succeeded by Conservative leader David Cameron.


Saubere Arbeit!

christianhannover Offline



Beiträge: 13

11.05.2010 21:33
#3 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Ich stimme deinen Beobachtungen zu - es sollte der hiesigen Politik die Schamesröte ins Gesicht treiben, wie sich die zukünftigen Koalitionspartner im Vereinigten Königreich geeinigt haben.

Wichtig ist auch, dass Cameron nicht nur wegen der Anzahl der konservativen Abgeordneten die uneingeschränkte Führungspersönlichkeit dieser Regierung sein wird, denn Nick Clegg hat sich gestern ins eigene Knie geschossen: Seine parallelen Geheimverhandlungen mit Labour, die Art und Weise mit der er versuchte die Tories damit unter Druck zu setzen und das darauf folgende Chaos am gestrigen Tag haben eine Zustimmung der Briten bei einem eventuellen Referendum über ein neues Wahlsystem so gut wie unmöglich gemacht. Die Konservativen müssen nur auf diesen einen Tag der Verwirrung und Empörung erinnern und eine Wahlreform, die vor allem dem als Erpresser wahrgenommenen Clegg und seinen Leuten dienen würde, wird kaum ein Brite unterstützen wollen.

Wochenlange Koalitionsverhandlungen wie in Deutschland würden die gelassenen Briten wahrscheinlich mit einem Bürgerkrieg beantworten.

Rayson Offline




Beiträge: 2.367

11.05.2010 22:11
#4 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Koalitionsverträge sind vor allem dann entbehrlich, wenn mindestens eine Seite bei der Unterschrift die Finger der anderen Hand gekreuzt hielt... Dass die aktuelle Berliner Regierung sich nach einem solchen Vertrag richten würde, ist jedenfalls nicht zu erkennen.

--
L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

11.05.2010 22:11
#5 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Zitat von christianhannover
Wichtig ist auch, dass Cameron nicht nur wegen der Anzahl der konservativen Abgeordneten die uneingeschränkte Führungspersönlichkeit dieser Regierung sein wird, denn Nick Clegg hat sich gestern ins eigene Knie geschossen: Seine parallelen Geheimverhandlungen mit Labour, die Art und Weise mit der er versuchte die Tories damit unter Druck zu setzen und das darauf folgende Chaos am gestrigen Tag haben eine Zustimmung der Briten bei einem eventuellen Referendum über ein neues Wahlsystem so gut wie unmöglich gemacht.


Interessant. Ich habe das leider nicht im einzelnen verfolgt (BBC scheint über Satellit nicht mehr frei empfangbar zu sein - oder habe ich nur eine Frequenzänderung verschlafen?).

Zitat von christianhannover
Die Konservativen müssen nur auf diesen einen Tag der Verwirrung und Empörung erinnern und eine Wahlreform, die vor allem dem als Erpresser wahrgenommenen Clegg und seinen Leuten dienen würde, wird kaum ein Brite unterstützen wollen.


Ich kann mir, lieber Christian Hannover, schwer vorstellen, daß die Briten ihr geheiligtes Mehrheitswahlrecht wirklich aufgeben wollen. Übrigens benachteiligt es ja die Lib Dems nur so lange, wie sie nicht stark genug sind, um selbst genügend Wahlkreise zu erobern.

Vielleicht sind sie ja auf dem Weg dorthin, so wie einst aus dem Zweiparteiensystem aus Whigs und Tories vorübergehend ein Dreiparteiensystem wurde, und dann wieder ein Zweiparteiensystem, aber jetzt aus Tories und Labour.

Zu Clegg noch ein Zitat, das mir wegen seiner Bissigkeit gefällt, ohne daß ich mir die Beurteilung von Clegg - den ich viel zu wenig kenne - zu eigen machen würde:

Zitat von AP
Lord Norman Tebbit, a Conservative luminary from the Thatcher era, grumbled on Saturday that Clegg was "strutting around like a king maker having been rejected by 77 percent of the British electorate".

"By his own terms of PR, he should be put back in a locked cupboard and told to go away while the big boys sort it out," Tebbit told Sky News.


Herzlich, Zettel

PS: Willkommen in kleinen Zimmer!

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

11.05.2010 22:19
#6 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Zitat von Rayson
Koalitionsverträge sind vor allem dann entbehrlich, wenn mindestens eine Seite bei der Unterschrift die Finger der anderen Hand gekreuzt hielt... Dass die aktuelle Berliner Regierung sich nach einem solchen Vertrag richten würde, ist jedenfalls nicht zu erkennen.


Es ist doch auch gar nicht möglich, lieber Rayson. Niemand kann doch zu Beginn einer Legislaturperiode vorhersagen, wie sich denn die Dinge entwickeln werden; welche Entscheidungen anstehen; was machbar sein wird und was nicht. Ganz abgesehen davon, daß das eben die Abgeordneten, die wir gewählt haben, entscheiden sollen, und nicht irgendwelche fragwürdigen Kommissionen hinter verschlossenen Türen.

Diese Einrichtung des "Koalitionsvertrags" steht nicht nur nicht im Grundgesetz, sondern das Land wurde ja auch drei Legislaturperioden lang ohne ihn regiert. Ich habe das einmal recherchiert, vielleicht trage ich noch einen Link nach: Das erste Mal, daß es überhaupt eine formale Vereinbarung gab, war nach der Wahl 1961, als die FDP im Wahlkampf geschworen hatte, nicht unter Adenauer mit der Union zu koalieren und das dann doch tat (Das war das berühmte "Umfallen", das ihr seltsamerweise immer noch anhängt, nach einem halben Jahrhundert).

Damals verprach Adenauer, aber während der Legislaturperiode sein Amt zur Verfügung zu stellen. Jemand kam auf die Idee, die Vereinbarungen schriftlich festzuhalten, und irgendwer fertigte eine Protokollnotiz an. Das war der Beginn einer Entwicklung, die dazu geführt hat, daß heute "Koalitionsverträge" vom Umfang internationaler Vertragswerke geschlossen werden. Meines Erachtens ein Unding.

Herzlich, Zettel

christianhannover Offline



Beiträge: 13

11.05.2010 22:24
#7 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Zitat
Ich kann mir, lieber Christian Hannover, schwer vorstellen, daß die Briten ihr geheiligtes Mehrheitswahlrecht wirklich aufgeben wollen.



Das schon, aber Cleggs Taktiererei hat diese Haltung zementiert.

Das Beharren auf einem neuen Wahlrecht demonstriert übrigens ziemlich deutlich, wie sehr sich die Parteien von den Bürgern entfremdet haben: Das Misstrauen der Briten gegenüber den Parteien ist nach den Finanzskandalen in Ober- und Unterhaus auf einem absoluten Höchststand. Den Parteien in dieser Situation die Macht über Parteilisten und damit die zukünftigen Abgeordneten geben zu wollen, zeugt von einer eher mangelhaften Wahrnehmung des Bürgerwillens.

Hätte eine LibLab-Koalition eine solche Reform ohne ein Referendum durchgeboxt, hätten sich beide Parteien höchstwahrscheinlich ihr eigenes Grab geschaufelt.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

11.05.2010 22:47
#8 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Zitat von christianhannover
Hätte eine LibLab-Koalition eine solche Reform ohne ein Referendum durchgeboxt, hätten sich beide Parteien höchstwahrscheinlich ihr eigenes Grab geschaufelt.


Ich habe inzwischen, lieber Christian Hannover, nachgesehen, welche Alternativen zum jetzigen Wahlsystem denn diskutiert werden; die beste Zusammenfassung habe ich bei der BBC gefunden. Danach gibt es zwar eine Gruppe, die ein Verhältniswahlrecht will (die Electoral Reform Society), aber die jetzt in der Diskussion befindlichen Systeme wie STV, AV und AV+ enthalten nur Modifikationen des Mehrheitswahlrechts.

Es bleibt danach dabei, daß die Wähler die Abgeordneten ihrer constituencies direkt wählen. Nur soll dafür Sorge getragen werden, daß die Repräsentation jeder constituency die dortigen Mehrheitsverhältnisse besser widerspiegelt als das jetzige Winner-Tak-All-Prinzip. Man könnte das zum Beispiel dadurch erreichen, daß der Wähler nicht nur einen einzigen Kandidaten ankreuzt, sondern eine Präferenzliste, und daß danach dann auch die Wahlkreise, jedenfalls die großen, nicht durch einen einzigen, sondern durch mehrere Abgeordnete vertreten werden.



Nicht diskutiert wird anscheinend bis jetzt die französische Variante des Mehrheitswahlrechts, die mir mit Abstand am besten gefällt: Im ersten Wahlgang ist gewählt, wer die absolute Mehrheit erringt. Im zweiten, zwei Wochen später, genügt die einfache Mehrheit. Inzwischen haben die Parteien Gelegenheit, Bündnisse zu schließen und Kandidaten zurückzuziehen.

Das ermöglicht einerseits eine Vielfalt mehrerer Parteien, andererseits zwingt es zu Bündnissen, die zu stabilen Regierungsmehrheiten führen; das jedenfalls bisher regelmäßig getan haben. Und der Wähler weiß, welche Regierung er wählt, wenn er seine Stimme abgibt.

Wer jetzt in NRW wählte, wußte das zum Beispiel überhaupt nicht. Er hätte durch sein Kreuzchen bei den Grünen Rüttgers wählen können oder auch eine Regierung unter Einschluß der Kommunisten. Wer die FDP wählte, der muß im Augenblick (jedenfalls theoretisch) damit rechnen, daß er Hannelore Kraft gewählt hat. Wer die SPD wählte, der hat damit (auch jedenfalls theoretisch) am Ende einen Ministerpräsidenten Rüttgers gewählt.

Aber das hatten wir ja schon.

Herzlich, Zettel

FTT_2.0 Offline



Beiträge: 537

11.05.2010 23:37
#9 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Zitat von Zettel

Ich kann mir, lieber Christian Hannover, schwer vorstellen, daß die Briten ihr geheiligtes Mehrheitswahlrecht wirklich aufgeben wollen. Übrigens benachteiligt es ja die Lib Dems nur so lange, wie sie nicht stark genug sind, um selbst genügend Wahlkreise zu erobern.
Vielleicht sind sie ja auf dem Weg dorthin, so wie einst aus dem Zweiparteiensystem aus Whigs und Tories vorübergehend ein Dreiparteiensystem wurde, und dann wieder ein Zweiparteiensystem, aber jetzt aus Tories und Labour.



Wenn ich mir mal die Wahlergebnisse der letzten 150 Jahre in GB anschaue, stelle ich fest, dass zumindest von 1874 bis 1931 immer eine dritte Partei im Unterhaus vertreten war, die mindestens 9 Prozent der Sitze hielt und oft genug auch, ein vermeintliches Minderheitenkabinett gestützt hat. Dazu kommt noch die Phase in den 70iger Jahren plus die Gegenwart. So zwangsläufig und zuverlässig produziert das MW-Recht scheinbar doch keine stabilen Einparteienregierungen. Auf der anderen Seite wurden die Briten bei einer maximalen Legislaturdauer von fünf Jahren seit 1950 siebzehnmal an die Urnen gerufen, also genau so oft wie wir mit unserem vermeintlich zur Instabilität neigenden Wahlrecht und einer maximalen Legislaturperiode von vier Jahren. Ähnlich sieht es beim Nationalrat in Österreich aus, ähnlich bei den Landtagen in Deutschland, den Skandinaviern oder Spanien.

Diese Mystifizierung des britischen Wahlrechts ist mir vor diesem Hintergrund schleierhaft. Ich bin erstaunt, wie sehr Sie Hennis da offenbar beeindruckt hat.

Rayson Offline




Beiträge: 2.367

12.05.2010 00:12
#10 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Zitat von Zettel
Es ist doch auch gar nicht möglich, lieber Rayson. Niemand kann doch zu Beginn einer Legislaturperiode vorhersagen, wie sich denn die Dinge entwickeln werden; welche Entscheidungen anstehen; was machbar sein wird und was nicht.



Das sehe ich, lieber Zettel, etwas anders, vielleicht auch aufgrund einer déformation professionelle. Als Controller bin ich es gewohnt, mit Plänen zu arbeiten. Darin wird zusammengefasst, was man denn so gemeinsam vorhat in der nächsten Zeit, und sie dienen dazu, Anstrengungen und Ressourcen zu koordinieren. Dass es erstens immer anders kommt als man zweitens denkt, weiß man in dem Moment schon, in dem man den Plan erstellt, aber auch auf die neueren Entwicklungen kann man eigentlich nur planvoll eingehen, das heißt, durch eine Revision der bisherigen Planungen (wie man diese Änderung dann nennt, ist ein Controller-Glaubensstreit).

Was aber hier wie da gar nicht geht, ist, wenn zum Zeitpunkt der Planerstellung die darin vorgesehen Maßnahmen ernsthaft gar nicht angestrebt werden. Diese Desinformation führt dann zu einer falschen Zuordnung von Ressourcen und zu falschen Erwartungen. Ich wage zu bezweifeln, dass man heutzutage eine Regierung mit dem Motto des einzig wahren deutschen Kaisers angehen kann, also mit "Schau'n mer mal, dann seh'n mer scho!" Nachdem sie ihr Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten sie ihre Anstrengungen... Natürlich, einer Merkel, deren politisches Ziel sich gemäß der Tradition der CDU mit dem Machterhalt bereits überwiegend erschöpft hat, käme so etwas entgegen, aber nachdem schon offensichtlich wurde, dass in einer solchen Konstellation der Koalitionspartner selbst dann verblasst, wenn er annähernd so groß war wie die Partei der Kanzlerin, wäre eine kleine Partei wie die FDP mit dem Klammerbeutel gepudert, holte sie sich ihre Perspektiven nicht gleich zu Beginn der gemeinsamen Regierung ab.

Und so wie der Schaffner auf den Vorwurf des Fahrgastes reagiert, wozu man denn noch Fahrpläne mache, wenn die Züge doch alle Verspätung haben, also mit dem Hinweis, dass man ohne Fahrpläne ja gar nicht wissen könne, wann man Verspätung hat, so könnte dann die kleinere Partei irgendwann auch mal konstatieren, dass - gemessen an den Abweichungen zum dokumentierten sich gegenseitig Versprochenen - die größere Partei keine große Bereitschaft zeigt, auf die kleinere einzugehen, und dass man dazu nicht Mitglied einer Koalition sein müsste.

--
L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

12.05.2010 00:55
#11 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Zitat von Rayson

Zitat von Zettel
Es ist doch auch gar nicht möglich, lieber Rayson. Niemand kann doch zu Beginn einer Legislaturperiode vorhersagen, wie sich denn die Dinge entwickeln werden; welche Entscheidungen anstehen; was machbar sein wird und was nicht.


Das sehe ich, lieber Zettel, etwas anders, vielleicht auch aufgrund einer déformation professionelle. Als Controller bin ich es gewohnt, mit Plänen zu arbeiten. Darin wird zusammengefasst, was man denn so gemeinsam vorhat in der nächsten Zeit, und sie dienen dazu, Anstrengungen und Ressourcen zu koordinieren. Dass es erstens immer anders kommt als man zweitens denkt, weiß man in dem Moment schon, in dem man den Plan erstellt, aber auch auf die neueren Entwicklungen kann man eigentlich nur planvoll eingehen, das heißt, durch eine Revision der bisherigen Planungen (wie man diese Änderung dann nennt, ist ein Controller-Glaubensstreit).



So ist es, lieber Rayson, ja auch richtig. Auch bevor es die Einrichtung des "Koalitionsvertrags" gab, haben sich die Partner natürlich zusammengesetzt und entworfen, was man gemeinsam anpacken will. Aber eben nicht in der quasi-verrechtlichten Form eines "Vertrags", auf den man sich berufen kann, von dem gar gesagt wird, daß ihn jemand "bricht". Man denkt sich gemeinsam etwas aus, und man modifiziert es gemeinsam, je nach Anforderungen. Aber hast du jemals gehört, daß ein Koalitionsvertrag innerhalb der Legislaturperiode formal abgeändert wurde?

Sodann ist zu bedenken, daß Unternehmen ja nicht demokratisch organisiert sind und es auch nicht sein können. Ich weiß nicht, wie das im einzelnen geregelt ist, aber ich nehme an, daß die Unternehmensleitung eine Arbeitsgruppe einsetzt, die, vielleicht unter der Federführung derer, die darauf spezialisiert sind, solche Pläne erarbeitet.

Aber eine Parteiführung ist eben keine Unternehmensführung, und Abgeordnete sind keine Mitarbeiter der Parteiführung. Ich vermute, daß es im UK auch deshalb so schnell gegangen ist, weil allein die Vorstellung, daß irgendeine Kommission den Abgeordneten vorschreiben (nicht bindend, aber eben doch vorschreiben) könnte, welche Gesetze sie beschließen sollen, als unparlamentarisch und undemokratisch angesehen werden würde.

Zitat von Rayson
Natürlich, einer Merkel, deren politisches Ziel sich gemäß der Tradition der CDU mit dem Machterhalt bereits überwiegend erschöpft hat, käme so etwas entgegen, aber nachdem schon offensichtlich wurde, dass in einer solchen Konstellation der Koalitionspartner selbst dann verblasst, wenn er annähernd so groß war wie die Partei der Kanzlerin, wäre eine kleine Partei wie die FDP mit dem Klammerbeutel gepudert, holte sie sich ihre Perspektiven nicht gleich zu Beginn der gemeinsamen Regierung ab.


Das mit dem Machterhalt habe ich jetzt glatt überlesen.

Aber zur Sache: In einer Koalition sind alle Parteien voneinander abhängig. Nur in ganz seltenen Fällen traten Parteien in eine Koalition ein, die auch ohne sie eine Mehrheit gehabt hätte (ich glaube, unter Adenauer ist das einmal vorgekommen).

Man muß sich in diesem Machtspiel während der Legislaturperiode zusammenraufen; man muß Kompromisse eingehen und Lösungen finden. Jeder braucht den anderen; das ist das Wesen einer Koalition. Und so wurde es auch bis 1998 gehandhabt. Ich lasse mich gern wieder korrigieren - aber ich kann mich nicht erinnern, daß vor der Zeit von Rotgrün der eine Koalitionspartner ständig vor dem anderen mit dem "Koalitionsvertrag" wedelte. Meines Wissens hat das Helmut Schmidt noch nicht einmal ins Spiel gebracht, als die FDP mit dem Lambsdorff-Papier die Koalition faktisch aufkündigte.

Herzlich, Zettel

Dagny Offline



Beiträge: 1.096

12.05.2010 01:27
#12 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Kleiner Einwand, mein Eindruck war, dass:

- Die LibDems beiden anderen Parteien gesagt hatten, dass sie jeweils auch mit den anderen Sprechen. Cameroon war meines Wissens uber das Gespraech Clegg-Brown vorab informiert.
- Die LibDems und die Tories haben die Koalitionsvereinbarung wohl von Ihren Abgeordneten jedenfalls im Prinzip absegnen lassen. Die LibDems brauchen weiterhin die Zustimmung eines Parteigremiums dazu. (Klingt fuer mich wie 'Erweiterter Parteivorstand').
- Es waren mehrere Modelle diskutiert worden, in den letzten Tagen. Angefangen von einem Gentlemens Agreeement zur Unterstuetzung gewisser Abstimmungen hin zu einer formalen Koalition. Gegen letztere gibt es mangels historischer Erfahrung unter den Anhaengern und Abgeordneten aller Parteien vorbehalte.
- Die Wahlmanifestos sind hier offenbar viel konkreter auf die Umsetzung ausgerichtet als in D. Ein Gegenseitiges abchecken von einem guten Dutzend Punkten hat offenbar ausgereicht. Die Sprecherin bei der BBC hat das vorhin aufgezaehlt. Es waren auch ein paar Punkte ausgeklammert, nach dem Motto 'Wir sind nicht dagegen, wenn Ihr ohne uns dafuer eine Mehrheit organisieren koennt'.

dirk Offline



Beiträge: 1.538

12.05.2010 02:37
#13 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Zitat von Zettel
Man muß sich in diesem Machtspiel während der Legislaturperiode zusammenraufen; man muß Kompromisse eingehen und Lösungen finden.



Kompromisse lassen sich auf zwei Arten finden. Erstens kann man einen Kuhhandel betreiben, bei dem man in einem Bereich den Vorschlag der einen und einem anderen Bereich den Vorschlag der anderen Partei umsetzt. So dann kann man zweitens in jeder einzelnen Sachfrage zu einem Kompromiss kommen, in dem man sich in der "Mitte" trifft. Bei quantitativen Zielen mag das gehen, bei grundsatzentscheidungen dagegen produziert man etwas, was weder Fisch noch Fleisch ist. Die Verkürzung der Wehrpflicht ist so ein Beispiel.

Ein Koalitionsvertrag ist ja nix anderes als ein solcher Kuhhandel. Ein Kompromiss erster Art. Wenn sich aber niemand an solche Einigungen gebunden sieht, dann bleiben nur solche der zweiten Art. So lässt sich das Land allerdings nicht reformieren.

Die Alternative wäre ein System wechselnder Mehrheiten. Wäre mir persönlich auch lieber, aber leidet fände das keine Akzeptanz. Jedenfalls haben wir das nicht und daher eine de facto Gleichsetzung aus Regierung und Legislative (was mcih jedesmal wundert ist, wie sehr die Bedeutung von Gewaltenteilung betont wird, ohne das auffällt, dass eine solche in einer parlamentarischen Demokratie ein Mythos ist.).

Und das Einhalten von Verabredungen ist - da mag ich altmodisch sein - durchaus ein konservativer Wert. Aber solche werden von der CDU ja nicht mehr vertreten. Das ist nur konsequent.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

12.05.2010 08:25
#14 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Zitat von dirk

Zitat von Zettel
Man muß sich in diesem Machtspiel während der Legislaturperiode zusammenraufen; man muß Kompromisse eingehen und Lösungen finden.


Kompromisse lassen sich auf zwei Arten finden. Erstens kann man einen Kuhhandel betreiben, bei dem man in einem Bereich den Vorschlag der einen und einem anderen Bereich den Vorschlag der anderen Partei umsetzt. So dann kann man zweitens in jeder einzelnen Sachfrage zu einem Kompromiss kommen, in dem man sich in der "Mitte" trifft. Bei quantitativen Zielen mag das gehen, bei grundsatzentscheidungen dagegen produziert man etwas, was weder Fisch noch Fleisch ist. Die Verkürzung der Wehrpflicht ist so ein Beispiel.

Ein Koalitionsvertrag ist ja nix anderes als ein solcher Kuhhandel. Ein Kompromiss erster Art.



Der Unterscheidung schließe ich mich an, lieber Dirk. Aber ich sehe keine Korrelation mit dem Zeitpunkt der jeweiligen Entscheidung. Es gibt Kompromisse beider Arten in Koalitionsverträgen, es gibt Kompromisse beider Arten innerhalb der Legislaturperiode.

Zitat von dirk
Die Alternative wäre ein System wechselnder Mehrheiten. Wäre mir persönlich auch lieber, aber leidet fände das keine Akzeptanz. Jedenfalls haben wir das nicht und daher eine de facto Gleichsetzung aus Regierung und Legislative (was mcih jedesmal wundert ist, wie sehr die Bedeutung von Gewaltenteilung betont wird, ohne das auffällt, dass eine solche in einer parlamentarischen Demokratie ein Mythos ist.).


Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Wie beim Wahlrecht kann ich auch da das französische System nur empfehlen (zum noch besseren amerikanischen werden wir uns eh nicht durchringen können): Der Präsident wird direkt gewählt. Er benennt den Regierungschef und auf dessen Vorschlag die Mitglieder des Kabinetts. Beide sind frei in ihren personellen Entscheidungen und brauchen auf Koalitionsproporz, Berücksichtigung von Landesverbänden oder dergleichen keine Rücksicht zu nehmen; nach der Wahl 2007 konnte z.B. sogar der Sozialist Kouchner Außenminister werden. Aber die Regierung als Ganzes bedarf des Vertrauens des Parlaments.

Zitat von dirk
Und das Einhalten von Verabredungen ist - da mag ich altmodisch sein - durchaus ein konservativer Wert.


Auch da bin ich bei Ihnen. Nun geht es hier konkret um Steuersenkungen. Schon während dieser monströse "Vertrag" erarbeitet wurde, war klar, daß man sich nicht leicht würde einig werden können. Der Formelkompromiß bestand darin, Steuersenkungen in den Vertrag zu schreiben (FDP) und sie zugleich unter Finanzierungsvorbehalt zu stellen (Union).

Der Fehler der FDP war es gewesen, sich im Wahlkmapf so eindeutig auf Steuersenkungen festzulegen, daß sie nicht mehr davon herunterkam. Deshalb war Guido Westerwelle jetzt meines Erachtens geradezu erleichert, als er der Kanzlerin darin zustimmte, daß Steuersenkungen mit der neuen Mehrheit im Bundesrat nicht mehr durchsetzbar seien. Die FDP hat ihr Wahlversprechen nicht brechen müssen; nur die Verhältnisse, sie sind nicht mehr so.

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

12.05.2010 08:49
#15 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Zitat von Zettel
Diese Einrichtung des "Koalitionsvertrags" steht nicht nur nicht im Grundgesetz, sondern das Land wurde ja auch drei Legislaturperioden lang ohne ihn regiert. Ich habe das einmal recherchiert, vielleicht trage ich noch einen Link nach: Das erste Mal, daß es überhaupt eine formale Vereinbarung gab, war nach der Wahl 1961, als die FDP im Wahlkampf geschworen hatte, nicht unter Adenauer mit der Union zu koalieren und das dann doch tat (Das war das berühmte "Umfallen", das ihr seltsamerweise immer noch anhängt, nach einem halben Jahrhundert).


Hier ist der Artikel in ZR, auf den ich mich bezogen hatte.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

12.05.2010 11:30
#16 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Zitat von Zettel
Man sieht, es geht auch anders als heutzutage in Deutschland.


Anders auf jeden Fall. Aber auch besser?
Bei allem, was man in Deutschland und am deutschen politischen System kritisieren kann - GB steht eigentlich in den meisten Bereichen deutlich schlechter da.

Insofern wäre ich generell vorsichtig, dort Vorbilder zu suchen. Und sei es bei Nebensächlickeiten wie der Länge von Koalitionsverhandlungen.

Ansonsten beziehen sich die Unterschiede mehr auf Äußerlichkeiten. Denn selbstverständlich gab es auch in GB Gremiensitzungen, Verhandlungskommissionen, die haben natürlich auch hinter verschlossenen Türen getagt.
Und es gibt auch einen "Koalitionsvertrag". Der wird zwar nicht schriftlich ausformuliert (Protokolle wird es aber schon geben), sondern ist im wesentlichen eine Vereinbarung zwischen den Parteiführungen. Das Wort eines Gentlemans zählt eben wie eine Unterschrift.

Diese nötigen und sinnvollen Vereinbarungen sind auch keine "Zwangsjacke" für die Abgeordneten. Sonst müßte man auch die Wahlprogramme der Parteien als solche bezeichnen.
Denn wenn sich ein Politiker einer Partei oder Fraktion anschließt, dann erklärt er damit auch die Bereitschaft, die gemeinsamen Beschlüsse mitzutragen. Anders wäre im Parlament überhaupt keine sinnvolle Arbeit möglich.

Und natürlich mißt sich die Glaubwürdigkeit eines Politikers daran, ob er sich an seine Zusagen hält. Egal ob das nun Wahlversprechen sind oder Zusagen an einen Koalitionspartner.
Und wenn man einen Vertrag bricht oder eine Koalitionsaussage oder andere Versprechen - dann gibt das Kritik. In GB genauso wie in Deutschland.
Und da wird sich Merkelanti noch einiges anhören müssen ...

RexCramer ( gelöscht )
Beiträge:

12.05.2010 14:11
#17 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Lieber Zettel,

Zitat von Zettel
Der Fehler der FDP war es gewesen, sich im Wahlkmapf so eindeutig auf Steuersenkungen festzulegen, daß sie nicht mehr davon herunterkam. Deshalb war Guido Westerwelle jetzt meines Erachtens geradezu erleichert, als er der Kanzlerin darin zustimmte, daß Steuersenkungen mit der neuen Mehrheit im Bundesrat nicht mehr durchsetzbar seien. Die FDP hat ihr Wahlversprechen nicht brechen müssen; nur die Verhältnisse, sie sind nicht mehr so.



ja, es ist wirklich ganz schrecklich, daß es immerhin noch eine Partei im Wahlkampf gab, die die Bürger entlasten wollte. Sowas geht doch nicht und kann nur ein schwerer Fehler sein, dem zum Glück mit der Weisheit der Großen Linkskoalition­™ von Kommunisten bis CSU Einhalt geboten wird ...
(Anders als mit Galgenhumor ist für mich die Politik dieser Regierung kaum noch zu ertragen ...)

Was die "Verhältnisse" angeht, so sind die nicht "nicht mehr so" - als ob es irgendeine Änderung gegeben hätte -, sondern sie sind vielmehr wie immer: Reformen bleiben aus, der Staat weigert sich strickt, Ausgaben zu kürzen, Bürokratie, Belastungen und Defizite werden weiterhin ausgeweitet werden. Halleluja!
Die Quittung dafür wird bei der nächsten Wahl kommen.

MfG

Uwe Richard Offline



Beiträge: 1.255

12.05.2010 14:23
#18 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Welche Quittung, bei lediglich ca. 20 Prozent Nettosteuerzahlern , sollte das denn bitte sein?


Gott zum Gruße

Uwe Richard

--
Political language – and with variations this is true of all political parties, from Conservatives to Anarchists – is designed to make lies sound truthful and murder respectable, and to give an appearance of solidity to pure wind – George O.

dirk Offline



Beiträge: 1.538

12.05.2010 14:33
#19 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Zitat von Zettel
Der Unterscheidung schließe ich mich an, lieber Dirk. Aber ich sehe keine Korrelation mit dem Zeitpunkt der jeweiligen Entscheidung. Es gibt Kompromisse beider Arten in Koalitionsverträgen, es gibt Kompromisse beider Arten innerhalb der Legislaturperiode.



Aber wie wollen Sie das denn machen - ohne Vertrauen, dass einmal gefasst Beschlüsse auch Gültigkeit besitzen? Sie kommen da nicht umhin das Verhalten der Union zu kritisieren.

Übrigens hat sich die FDP nicht auf Steuersenkungen fixiert.Ziel war eine Steuerreform, in der das Steuersystem einfacher und gerechter wird. Wenn CDU und CSU zu Vereinfachungen in der Bemessungsgrundlage bereit wären (Stichwort Pendlerpauschale und ähnliches wie Steuerfreiheit von Feiertags und Nachtzuschlägen), wäre sie locker zu finanzieren. Wenn sie das nicht will, soll sie das sagen und in anderen Bereichen kompromissbereit sein.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

12.05.2010 14:40
#20 RE: Marginalie: Die Briten machen Nägel mit Köpfen Antworten

Zitat von RexCramer
der Staat weigert sich strickt, Ausgaben zu kürzen


Obwohl man dauernd so schöne Beispiele findet, wo im Bundeshaushalt gekürzt werden könnte.
http://www.tu-darmstadt.de/vorbeischauen...pm_17664.de.jsp

Da dürfen also die Hochschulangestellten (also eine bekannt sozial schwache Gruppe) sich Elektrofahrräder kaufen, und der Bund übernimmt 80% der Kosten.

Subventionen dieser Art gibt es unzählige - und zusätzlich kostet die Bürokratie, die diese Gelder verteilt und neue Maßnahmen erfindet.

Und dann noch mal 20 Milliarden nach Griechenland verschenkt - da sind Steuersenkungen natürlich völlig utopisch.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

12.05.2010 16:00
#21 Antwort nicht nur an Dirk Antworten

Zitat von dirk

Zitat von Zettel
Der Unterscheidung schließe ich mich an, lieber Dirk. Aber ich sehe keine Korrelation mit dem Zeitpunkt der jeweiligen Entscheidung. Es gibt Kompromisse beider Arten in Koalitionsverträgen, es gibt Kompromisse beider Arten innerhalb der Legislaturperiode.


Aber wie wollen Sie das denn machen - ohne Vertrauen, dass einmal gefasst Beschlüsse auch Gültigkeit besitzen? Sie kommen da nicht umhin das Verhalten der Union zu kritisieren.



Ja, man hat sich gegenseitig kritisiert. Ich habe das ja zu beschreiben versucht: Die Koalition hatte einen schlechten Start, weil die Union nicht bereit war, der FDP das Maß an Einfluß zuzugestehen, das dem Wahlergebnis entsprach, und die FDP sich mehr erhoffte, als mit der Union durchsetzbar war.

So sehe ich das jedenfalls, lieber Dirk. Und ich kann diesem Stück "Die gute FDP wird von der bösen, bösen Union in der Regierung fertiggemacht", deshalb nun einmal keinen Beifall spenden. (Ich frage mich, nebenbei, auch a bisserl, welche Rolle in diesem Stück denn die anderen Parteien spielen sollen. Bessere Partner der FDP als die Union?)

Ich verstehe ja, daß einige Zimmerleute dieses Stück aufgeführt sehen und es in den drei momentan aktivsten Threads zum Ausdruck bringen; aber es ist nicht meine Sicht der Dinge. Vielleicht hat es ja etwas damit zu tun, daß ich ein Liberaler bin, aber nicht in der FDP aktiv engagiert oder auch nur deren Mitglied, auch mit keiner ihrer Strömungen besonders sympathisierend.

Man sieht halt manches verschieden, je nach dem Handlungskontext, in dem man sich befindet oder nicht befindet. Das schreibe ich jetzt nicht nur an Sie, lieber Dirk, sondern an alle diejenigen Zimmerleute, die sich so massiv für die FDP ins Zeug legen und die Stefanie "wir alle" nennt.

Ich versteh's ja, Freunde; aber Sie müssen nun einmal bitte akzeptieren, daß das Motto bei mir eher sine irat et studio heißt. Ich gucke mir den parteipolitischen Kampf an und kommentiere ihn; aber ich fechte nicht darin mit.

Zitat von dirk
Übrigens hat sich die FDP nicht auf Steuersenkungen fixiert.Ziel war eine Steuerreform, in der das Steuersystem einfacher und gerechter wird. Wenn CDU und CSU zu Vereinfachungen in der Bemessungsgrundlage bereit wären (Stichwort Pendlerpauschale und ähnliches wie Steuerfreiheit von Feiertags und Nachtzuschlägen), wäre sie locker zu finanzieren. Wenn sie das nicht will, soll sie das sagen und in anderen Bereichen kompromissbereit sein.

Sie hat ja meines Wissens nicht gesagt, daß sie das will. Sie wollte die Entscheidung nur verschieben, bis sich die fiskalische Entwicklung besser beurteilen läßt.

Es gibt doch auch in der Union vernünftige, liberale Leute. Wenn man mit einer Partei koaliert, dann muß man versuchen, denjenigen Flügel bei ihr zu stärken, der einem selbst am nächsten steht. So wurde das in Koalitionen auch immer gehandhabt; zu rotgrünen Zeiten ist zum Beispiel der linke Flügel der SPD erstarkt.

Ich glaube, die Koalition ist auch auf dem Weg in eine vernünftige Zusammenarbeit. Das Wahlergebnis in NRW wird sie dazu zwingen. Westerwelles letzte Äußerungen gehen ja auch in diese Richtung.

Herzlich, Zettel

Stefanie Offline



Beiträge: 606

12.05.2010 16:29
#22 RE: Antwort nicht nur an Dirk Antworten

Lieber Zettel,

"ich verstehe ja, daß einige Zimmerleute dieses Stück aufgeführt sehen und es in den drei momentan aktivsten Threads zum Ausdruck bringen; aber es ist nicht meine Sicht der Dinge. Vielleicht hat es ja etwas damit zu tun, daß ich ein Liberaler bin, aber nicht in der FDP aktiv engagiert oder auch nur deren Mitglied, auch mit keiner ihrer Strömungen besonders sympathisierend."

Sie argumentieren hier schon wieder ad personam. Ebenso wie mit dem "Sie differenzieren doch sonst" zu einem Diskussionsteilnehmer. Woraus sich auch mein "wir alle" bezog nämlich unter dem Tenor, dass es nicht sein sollte, dass man Argumente abwürgt indem man pauschal behauptet, der andere könne nicht differenzieren. Ich habe noch nie erlebt, dass Sie anstatt Sachargumente zu bringen ad personam Argumente bringen. Abgesehen von Ihnen macht das hier auch kein anderer. Von daher könnte man daraus schließen, dass nämlich Sie derjenige sind, der hier emotional bewegt diskutiert.

Ich bin ebenfalls nicht in Sachen FDP aktiv geschweige denn Parteimitglied. (obwohl ich dem nicht abgeneigt wäre.) Dennoch habe ich eine andere Sicht der Dinge als Sie. Bei Ihrer Behauptung über Offenheit der Kanzlerin ist es mir nicht einmal mehr möglich gewesen, mir zu erklären, wie Sie zu Ihren Feststellungen kommen. Sie sagten, Sie hätten vergessen, dass andere auch schon zugaben, Fehler der Regierung eingeräumt zu haben. Für mich stellt sich dann aber die Frage, wie viel blenden Sie aus i.S. Unterstützung der Kanzlerin. Denn am Ende der Kohl Zeit führte ich die gleichen Diskussionen nur in anderer Besetzung. Auch da hatte ich das Gefühl, manche Dinge wollen nicht wahrgenommen werden.

Damit mache ich es mir natürlich einfach. Denn selbstverständlich kann man zu allem unterschiedlicher Meinung sein ohne dass einer deshalb blind sein muss. Aber keiner außer Ihnen führt hier Argumente ad persanam ins Feld. Von daher denke ich schon, dass es zulässig ist zumindest darauf zu schließen, dass Sie hier sehr emotional unterwegs sind und Sie es vielleicht sind, der hier eben nicht nur kommentiert, sondern bewusst oder unterbewusst Politik für Frau Merkel macht.

Das ist ja alle auch o.k.. Jeder lässt hier politische Interessen einfließen, aber da sollte man dann auch schon zu stehen und nicht statt dessen versuchen, den anderen das zu unterstellen und das dies der Grund dafür sei, die eigenen Argumente und Sichtweisen nicht annehmen zu wollen.

Dieses Mal - wegen meines scharfen Textes, den ich aber gar nicht böse meine, weil ich doch aus Vergangenheit heraus Sie sehr schätze und nun einfach ein bisschen enttäuscht von Ihnen bin, weil nach meiner persönlichen Auffassung ich irgendwie das Gefühl habe, Sie sind bei Merkel ein bisschen blind und das obwohl ich doch ansonsten immer denke, dass Sie so ein hervorragender Beobachter sind. Das sind jetzt auch alles Argumente ad personam und ebenfalls rein emotional und null sachlich und mit dem lieb will ich nur die selbstverständlich weiterhin vorhandene Sympathie signalisieren und meinem Text die Schärfe nehmen - kein herzliche Grüße, sondern ein liebe Grüße

Stefanie

P.S.: Selbstverständlich gibt es viele liberale Leute in der CDU. Ich vermute nur, denen geht es ähnlich wie mir. Während Sie sicher vermuten, dass die mit Merkel als BK und Koalitionsführerin und Parteivorsitzende zufrieden sind :-)

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

12.05.2010 16:37
#23 RE: Antwort nicht nur an Dirk Antworten

Zitat von Zettel
Die Koalition hatte einen schlechten Start, weil die Union nicht bereit war, der FDP das Maß an Einfluß zuzugestehen, das dem Wahlergebnis entsprach, und die FDP sich mehr erhoffte, als mit der Union durchsetzbar war.


Das klingt so symmetrisch, verdeckt aber einen wichtigen Unterschied: Die FDP erhoffte sich zwar mehr, hat aber akzeptiert, daß es bei der Umsetzung Grenzen gibt. Der Koalitionsvertrag wurde an der Basis von vielen enttäuschten Wählern kritisiert, aber da hat die Parteiführung gegengehalten. Und FDP-Spitzenpolitiker und Fraktion haben den Vertrag eingehalten.

Die Union dagegen hat den FDP-Einfluß nicht akzeptiert. Sie hat den Vertrag unterschrieben - und sofort begonnen, ihn zu sabotieren. Mit Duldung der Kanzlerin, die ihn dann am Montag auch selber offen demontiert hat.

Das Alles ist mehr als "schlechter Start" oder das übliche Gezänk, wie es das auch bei anderen Koalitionen gab und gibt.
Die CDU hat sich als politischer Partner disqualifiziert.

Zitat
Man sieht halt manches verschieden, je nach dem Handlungskontext


Das klingt jetzt fast nach Ypsilanti. Die hat Wortbruch auch irgendwie anders gesehen aus ihrem Kontext heraus.

Zitat
Sie hat ja meines Wissens nicht gesagt, daß sie das will.


Tja, das wäre wohl zu ehrlich gewesen.

Zitat
Es gibt doch auch in der Union vernünftige, liberale Leute.


Richtig. Jetzt ist nur die Frage: Können die sich jetzt gegen Merkel durchsetzen? Oder muß man sich damit abfinden, daß die Union bis auf weiteres als SPD light agiert?

Zitat
Ich glaube, die Koalition ist auch auf dem Weg in eine vernünftige Zusammenarbeit.


Erst einmal dürfte es in allen drei Parteien große innere Verwerfungen geben.
Fraktionen und Parteien sind von Merkel und den unerwarteten Beschlüssen in Brüssel völlig überfahren worden, der Protest dagegen wird immer heftiger. Es ist noch nicht einmal sicher, ob sie das wirklich durchs Parlament kriegt.

Gorgasal Offline




Beiträge: 4.095

12.05.2010 17:02
#24 RE: Antwort nicht nur an Dirk Antworten

Zitat von Zettel
[Die Koalition hatte einen schlechten Start, weil die Union nicht bereit war, der FDP das Maß an Einfluß zuzugestehen, das dem Wahlergebnis entsprach, und die FDP sich mehr erhoffte, als mit der Union durchsetzbar war.

So sehe ich das jedenfalls, lieber Dirk. Und ich kann diesem Stück "Die gute FDP wird von der bösen, bösen Union in der Regierung fertiggemacht", deshalb nun einmal keinen Beifall spenden.


Ihr "deshalb" verstehe ich nicht. Beide Punkte oben sind korrekt. Aber Sie suggerieren, wie schon R.A. schreibt, eine Symmetrie, die aus meiner Sicht einfach nicht vorhanden ist.

Ich hatte Sie in einem anderen Thread schon einmal gefragt, welche zentralen Punkte aus ihrem Wahlprogramm die FDP denn in den Koalitionsvertrag hätte hineinschreiben sollen, wenn Sie die Forderung nach einer Steuerreform für unrealistisch halten. Leider haben Sie (bis jetzt?) nicht geantwortet.

Dann stelle ich hier die Frage: welchen Einfluss hat die CDU der FDP denn überhaupt zugestanden? Welche liberalen Projekte werden verfolgt? Und damit meine ich nicht Ministerposten, sondern Sachpolitik - wenn Rösler mit seiner Gesundheitsreform ständig von Seehofer angegriffen wird und dazu keine Aussage der Kanzlerin kommt, dann wird der FDP hier eben seitens der CDU nicht der Einfluss zugestanden, der einem Koalitionspartner zusteht.

Und solange ich keinerlei solchen Einfluss der FDP sehe, bleibe ich in der Tat bei meinem narrative von der bösen, bösen CDU.

--
El liberalismo pregona el derecho del individuo a envilecerse, siempre que su envilecimiento no estorbe el envilecimiento del vecino. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

12.05.2010 18:30
#25 Steuersenkungen Antworten

Zitat von Gorgasal
Ich hatte Sie in einem anderen Thread schon einmal gefragt, welche zentralen Punkte aus ihrem Wahlprogramm die FDP denn in den Koalitionsvertrag hätte hineinschreiben sollen, wenn Sie die Forderung nach einer Steuerreform für unrealistisch halten. Leider haben Sie (bis jetzt?) nicht geantwortet.


Es war vernünftig, eine Steuerreform als gemeinsames Ziel vor der Bildung der Koalition festzulegen. Aber solche Ziele - Rayson hat das am Beispiel der Arbeit eines Controllers beschrieben - müssen eben angepaßt werden können. Man sollte sich nicht trotzig hinstellen und sagen: Das steht aber im Koalitionsvertrag, also muß es auf Biegen und Brechen realisiert werden. Darüber, daß ich das ganze Institut des "Koalitionsvertrags" für ein Unding halte, habe ich ja andernorts schon etwas geschrieben.

Ich fand und finde es richtig, daß die FDP für Steuersenkungen eintritt und vor allem für eine Vereinfachung des Steuerrechts. Diese Forderung teilt sie mit vielen in der Union; immerhin hat Angela Merkel 2005 den "Professor aus Heidelberg" Paul Kirchhof in ihr Kompetenzteam berufen, der im Wahlkampf ein ebenso ausgezeichnetes wie radikales Modell zur Vereinfachung des Steuerrechts vertrat.

Gewiß, die Zeiten haben sich geändert. Aber es ist ja nicht so, daß alle in der Union gegen eine Vereinfachung des Steuerrechts wären oder prinzipiell gegen Steuersenkungen. Viele sehen nur in den nächsten beiden Jahren dafür wenig Spielraum mit Argumenten, die mir nachvollziehbar erscheinen. Ich kann auch die Argumente derer nachvollziehen, die trotz der Finanzlage der öffentlichen Hand eine möglichst baldige Reform wollen. Da muß man sich halt in einer Koalition auseinandersetzen; und wenn jemand sich nicht durchsetzen kann, dann ist das eben Politik.



Wenn der FDP die Finanzpolitik so wichtig war - warum hat Westerwelle dann nicht das Amt des Finanzministers für die FDP, am besten für sich selbst, beansprucht? Dann hätte die FDP in diesem Bereich sehr wahrscheinlich mehr von ihren Positionen durchsetzen können. Man hat es der CDU überlassen und klagt jetzt darüber, daß der Finanzminister nicht die Politik der FDP macht.

Der Fehler der FDP war es nicht, Steuersenkungen zu fordern, sondern sie mit soviel Pathos in den Vordergrund zu stellen, daß das Wort Steuersenkungen für sie nachgerade zu einem Schibboleth geworden ist.

Dafür ist nicht zuletzt Guido Westerwelle persönlich verantwortlich, der in seiner pathetischen Art geschworen hat, er werden "keinen Koalitionsvertrag unterzeichnen, in dem nicht ..." usw.; ich kann das Zitat bei Bedarf heraussuchen.

Es ist, lieber Gorgasal, in der Politik immer mißlich, ein einziges Ziel derart bindend für sich zu machen. Wenn sich die Bedingungen so entwickeln, daß man es nicht erreichen kann, dann steht man dumm da. Wenn man es gegen Partner unbedingt durchsetzen muß, um sein Gesicht zu wahren, dann lassen diese sich das in der Regel durch große Zugeständisse auf anderen Feldern abkaufen.



Und um eine Partnerschaft geht es ja. Ich habe mit einer gewissen Verdutztheit den Eindruck gewonnen, daß manche Zimmerleute, die sich in den aktuellen Threads äußern, in der Union eher den Feind der FDP zu sehen scheinen als ihren Partner.

Welche anderen Partner gibt es denn, mit denen zusammen eine Mehrheit für die Durchsetzung beispielsweise einer Steuerreform, aber überhaupt liberaler Ziele durchzusetzen wäre?

Oder sollte die FDP darauf verzichten, ihre politischen Ziele in der Regierungsverantwortung durchzusetzen?

Herzlich, Zettel

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