Sie sind vermutlich noch nicht im Forum angemeldet - Klicken Sie hier um sich kostenlos anzumelden  

ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



Sie können sich hier anmelden
Dieses Thema hat 15 Antworten
und wurde 1.145 mal aufgerufen
 Pfarrer 2.0
Herr Offline




Beiträge: 406

07.07.2010 11:30
PID-Urteil Antworten

Das PID-Urteil des BGH hat, wie nicht anders zu erwarten, eine Welle der Entrüstung in manchen (kirchlichen) Kreisen ausgelöst, schön aufelistet z.B. hier. Differenzierungen sind etwas mühevoller und brauchen manchmal mehr als einen zitierfähigen Satz. Ich habe mich zumindest um Differenzierung bemüht.

Gorgasal Offline




Beiträge: 4.095

07.07.2010 11:48
#2 RE: PID-Urteil Antworten

Zitat von Herr
So wird gerne auf die Kontinuität der individuellen Entwicklung vom Augenblick der Zeugung bis zum Tod hingewiesen. Man könnte aber ebenso gut den Augenblick der Einnistung in der Gebärmutter als entscheidende Diskontinuität ansehen, weil erst von da an der Embryo lebensfähig ist.


Erstens halte ich das Kriterium der "Lebensfähigkeit" bei der Entscheidung, wer denn nun Mensch sei, für äußerst gefährlich, und ich hoffe, dass der behandelnde Arzt sich nicht danach richtet, wenn ich im Koma liege.

Zweitens erscheint es mir willkürlich. Niemand ist unabhängig lebensfähig. Die befruchtete Eizelle ist nur überlebensfähig, wenn sie sich in die Gebärmutter einnistet. Die eingenistete Eizelle ist nur überlebensfähig, wenn sie weiterhin über die Gebärmutter versorgt wird. Das Baby ist nur überlebensfähig, wenn jemand sich darum kümmert. Und geschätzte 98% der deutschen Bevölkerung (mich eingerechnet) sind nur überlebensfähig, wenn die Supermärkte voll sind und Strom aus der Steckdose sowie Wasser aus der Leitung kommt. Welche Art der bedingten Überlebensfähigkeit macht nun das Menschsein aus?

Ich bleibe lieber bei der Befruchtung, da sehe ich weniger Spielraum für Willkür.

Zitat von Herr
Jedenfalls entspricht es nicht unbedingt dem intuitiven Gefühl, einem Gebilde in Gestalt eines undifferenzierten Zellhaufens, der nicht mal vom Augenschein her als menschliches Wesen wahrzunehmen ist, Menschsein im vollen Sinne zuzusprechen.


Vor noch gar nicht allzu langer Zeit hätte man beispielsweise Schwarze "nicht mal vom Augenschein her" als (weiße) menschliche Wesen wahrgenommen - und entsprechend auch das Menschsein nicht im vollen Sinne zugesprochen. Kann der Augenschein hier ein Kriterium sein?

Zitat von Herr
Ich möchte diese Fragen an dieser Stelle nicht entscheiden; ich möchte nur darauf hinweisen, dass sie komplizierter sind, als viele auf der einen wie auf der anderen Seite meinen.


Offen gestanden finde ich diese Fragen denkbar unkompliziert, aber ich bin auch ein einfach gestrickter Mensch. Zumindest finde ich es unkompliziert, viele Komplizierungen abzulehnen...

Ansonsten stimme ich Ihrem Artikel fast vollständig zu. Den Knackpunkt haben Sie hier sehr schön herausgearbeitet:

Zitat von Herr
Vorausgesetzt man hat der extrakorporalen Befruchtung zugestimmt, dann hat man es ohnehin in Kauf genommen, dass unter den entstandenen Embryonen im frühesten Stadium ausgewählt werden muss (s.o.), d.h. einige werden absterben.


Und genau hier liegt das fundamentale Problem.

Zitat von Herr
Ich weiß, dass ich mit dieser Einschätzung einmal mehr nicht im Mainstream schwimme.


Ich fürchte, dass Sie außerhalb der Kirchen ganz entschieden im Mainstream schwimmen, wenn ich Sie nicht sehr missverstanden habe.

--
La función didáctica del historiador está en enseñarle a toda época que el mundo no comenzó con ello. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

07.07.2010 13:33
#3 RE: PID-Urteil Antworten

Zitat von Gorgasal
Ich bleibe lieber bei der Befruchtung, da sehe ich weniger Spielraum für Willkür.


Sie haben Recht, lieber Gorgasal, daß das ein (vergleichsweise) gut definierter Zeitpunkt ist. Aber ist es deswegen auch vernünftig, die befruchtete Eizelle einen Menschen zu nennen?

Sehr oft ist das, was vernünftig ist, eher fuzzy; und das Eindeutige ist unvernünftig.

Ich benutze gern das Beispiel, wo die Atmosphäre der Erde endet und der Weltraum beginnt. Eindeutig wäre die Definition, daß die Atmosphäre bei der Spitze des höchsten Bergs der Erde endet. Aber wäre sie deshalb auch vernünftig? Eindeutig wäre die Definition, daß sie dort endet, wo der Mond sein Apogäum hat. Aber wäre sie vernünftig?

Vernünftig ist es, bei der jeweils gewählten Definition zu berücksichtigen, wozu man sie denn braucht. Wenn es um erdnahe Satelliten geht, ist es zum Beispiel vernünftig, die Atmosphäre dort enden zu lassen, wo keine meßbare Reibung mehr besteht, die sich auf die Umlaufbahn auswirkt. Für die Fliegerei mag es sinnvoll sein, die Atmosphäre dort enden zu lassen, wo der Auftrieb nicht mehr ausreicht, um ein Standard-Flugzeug fliegen zu lassen (Raketenflugzeuge wie die X-15 können dort immer noch fliegen).

So sehe ich das auch bei der Definition von "Mensch". Es gibt keinen magischen Moment, an dem aus Eizelle und Samen "der Mensch" wird. (Es sei denn, man glaubt daran, daß eine seltsame Entität "Seele", die res cogitans, irgendwann auf eine geheimnisvolle Weise in den Fötus implantiert wird - eine Vorstellung, die ich als außerhalb jeder Vernunft liegend betrachte).

Man braucht je nach Zweck vernünftige Kriterien. Diese sind bei der Präimplantationsdiagnostik vermutlich andere als bei der Entscheidung über eine Abtreibung oder, sagen wir, im Erbrecht. Jede Definition hat ihre Berechtigung, wenn sie ihren Zweck erfüllt.

Herzlich, Zettel

Gorgasal Offline




Beiträge: 4.095

07.07.2010 22:20
#4 RE: PID-Urteil Antworten

Zitat von Zettel
Sehr oft ist das, was vernünftig ist, eher fuzzy; und das Eindeutige ist unvernünftig.

Ich benutze gern das Beispiel, wo die Atmosphäre der Erde endet und der Weltraum beginnt.


Ihre Beispiele in allen Ehren, aber sie sind nicht relevant für die hochgradig akademische Frage, wo die Atmosphäre endet - der Satellit interessiert sich für die Reibung, Flugzeuge für den Auftrieb, und beide kann man "Atmosphäre" nennen oder auch nicht.

Wenn es darum geht, ob wir möglicherweise einen Menschen umbringen (und ja, wir sind weit weg von der PID), dann ist das eine denkbar wichtigere Entscheidung. Und dort irre ich lieber auf der sicheren Seite.

Zitat von Zettel
So sehe ich das auch bei der Definition von "Mensch". Es gibt keinen magischen Moment, an dem aus Eizelle und Samen "der Mensch" wird. (Es sei denn, man glaubt daran, daß eine seltsame Entität "Seele", die res cogitans, irgendwann auf eine geheimnisvolle Weise in den Fötus implantiert wird - eine Vorstellung, die ich als außerhalb jeder Vernunft liegend betrachte).


Ach ja, die Vernunft. Wobei ich noch immer nicht nachvollziehen kann, wie uns die reine Vernunft hier weiterhilft; ich warte ja schon seit langem geduldig auf Ihre Erklärung, wie Kant seinen kategorischen Imperativ rein vernunftbasiert imperieren konnte. Nein: bei der Frage, wer ein Mensch ist und was man mit dem Menschen anstellen darf, greifen wir notgedrungenerweise über die Vernunft hinaus, denn auf die letzten "warum?"-Fragen kann sie uns keine Antwort geben.

--
La función didáctica del historiador está en enseñarle a toda época que el mundo no comenzó con ello. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.07.2010 00:19
#5 RE: PID-Urteil Antworten

Zitat von Gorgasal
Ach ja, die Vernunft. Wobei ich noch immer nicht nachvollziehen kann, wie uns die reine Vernunft hier weiterhilft; ich warte ja schon seit langem geduldig auf Ihre Erklärung, wie Kant seinen kategorischen Imperativ rein vernunftbasiert imperieren konnte.

Sie haben Recht. Ich hatte mich damals in Kant vertieft, ihn dann aber wieder beiseitegelegt. Mich interessiert seine Ethik viel weniger als seine Erkenntnistheorie. Aber ich hatte Ihnen eine Antwort versprochen, und Sie bekommen Sie. Sooner or later.

Zitat von Gorgasal
Nein: bei der Frage, wer ein Mensch ist und was man mit dem Menschen anstellen darf, greifen wir notgedrungenerweise über die Vernunft hinaus, denn auf die letzten "warum?"-Fragen kann sie uns keine Antwort geben.

Dann also der Glaube? Wenn jemand - wenn zum Beispiel Sie, ich weiß das nicht - glaubt, daß bei der Befruchtung einer menschlichen Eizelle etwas grundlegend anderes passiert als bei der Befruchtung der Eizelle eines Schimpansen, nämlich daß in diesem Augenblick eine "Seele" in diese Zelle hineinkommt, dann respektiere ich das, ich kann es aber nicht nachvollziehen. Aus meiner Sicht sind beides nichts anderes als eben befruchtete Eizellen, mit einer genetischen Übereinstimmung zwischen Mensch und Schimpanse bei weit über 90 Prozent des Genoms.

In jedem Fall darf in einer freien Gesellschaft das, was einige glauben und andere nicht, nicht die Gesetzgebung bestimmen. Niemand darf seine persönliche Moral anderen oktroyieren, indem er sie in die Form einer für alle Bürger verbindliche Gesetzgebung zu zu bringen versucht.

Herzlich, Zettel

Gorgasal Offline




Beiträge: 4.095

08.07.2010 10:12
#6 RE: PID-Urteil Antworten

Zitat von Zettel
In jedem Fall darf in einer freien Gesellschaft das, was einige glauben und andere nicht, nicht die Gesetzgebung bestimmen. Niemand darf seine persönliche Moral anderen oktroyieren, indem er sie in die Form einer für alle Bürger verbindliche Gesetzgebung zu zu bringen versucht.


Ich bin schon sehr neugierig auf Ihre Erklärungen zu Kant. Ich denke, dass mir in diesem Zuge auch klar wird, wieso Sie (so vermute ich) keine Schwierigkeiten damit haben, dass die Mehrheit der Bürger beispielsweise ihre persönliche Moral hinsichtlich Diebstahl und Raubüberfall in die Form einer für alle Bürger verbindlichen Gesetzgebung gebracht hat.

--
La función didáctica del historiador está en enseñarle a toda época que el mundo no comenzó con ello. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito

Robert Z. Offline



Beiträge: 146

08.07.2010 10:13
#7 RE: PID-Urteil Antworten

Zitat von Herr
Das PID-Urteil des BGH hat, wie nicht anders zu erwarten, eine Welle der Entrüstung in manchen (kirchlichen) Kreisen ausgelöst, schön aufelistet z.B. hier. Differenzierungen sind etwas mühevoller und brauchen manchmal mehr als einen zitierfähigen Satz. Ich habe mich zumindest um Differenzierung bemüht.



Eine sehr differenzierte Analyse, der ich größtenteils zustimme. Auf ein paar eher praktische Aspekte (die natürlich strenggenommen bei ethischen Fragen nicht entscheidend sein dürfen) würde ich noch gerne hinweisen. Zunächst einmal halte ich es für völlig absurd, PND und Abtreibung zu gestatten, PID aber zu verbieten (ich denke hier besonders an die linken Parteien; ein Totalverbot von allem halte ich zwar für falsch, es ist aber immerhin nicht selbstwidersprüchlich). Auch unter diesem Aspekt ist das Urteil also folgerichtig. Außerdem, worauf Sie ja auch hinweisen, gehört das deutsche Gesetz zu den strengsten weltweit. Es ist also gerade in einem vereinten Europa leicht zu umgehen. Abschließend frage ich mich ob wir ernsthaft behaupten wollen, daß fast alle anderen Länder Europas und der 'westlichen Welt' sich nicht um Ethik scheren? Manche Aspekte unseres Embryonenschutzgesetzes scheinen mir eher vom übertriebenen Genuss schlechter Horrorfilme zu stammen. Aber auch in unseren liberaleren Nachbarländern scheinen keine genetisch designten Über- oder Untermenschen, Klonarmeen oder ähnliches erzeugt zu werden.

Gorgasal Offline




Beiträge: 4.095

08.07.2010 10:46
#8 RE: PID-Urteil Antworten

Zitat von Robert Z.
Zunächst einmal halte ich es für völlig absurd, PND und Abtreibung zu gestatten, PID aber zu verbieten


Für einen Abtreibungsgegner, der sein Lieblingsergebnis - das Verbot der Abtreibung - in Deutschland nicht durchsetzen kann, ist ein Verbot der PID zumindest ein Teilerfolg. So absurd ist das nicht.

Zitat von Robert Z.
Abschließend frage ich mich ob wir ernsthaft behaupten wollen, daß fast alle anderen Länder Europas und der 'westlichen Welt' sich nicht um Ethik scheren? Manche Aspekte unseres Embryonenschutzgesetzes scheinen mir eher vom übertriebenen Genuss schlechter Horrorfilme zu stammen. Aber auch in unseren liberaleren Nachbarländern scheinen keine genetisch designten Über- oder Untermenschen, Klonarmeen oder ähnliches erzeugt zu werden.


Andere europäische Länder weichen deutlich von den deutschen Gesetzen hinsichtlich der Sterbehilfe ab. Ich würde nicht behaupten, dass sie sich nicht um Ethik scheren - aber sehr wohl, dass die Menschenwürde dort einen Knacks abbekommt.

--
La función didáctica del historiador está en enseñarle a toda época que el mundo no comenzó con ello. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.07.2010 12:17
#9 RE: PID-Urteil Antworten

Zitat von Gorgasal
Ich denke, dass mir in diesem Zuge auch klar wird, wieso Sie (so vermute ich) keine Schwierigkeiten damit haben, dass die Mehrheit der Bürger beispielsweise ihre persönliche Moral hinsichtlich Diebstahl und Raubüberfall in die Form einer für alle Bürger verbindlichen Gesetzgebung gebracht hat.

Ehrlich gesagt, lieber Gorgasal, das ist nicht Ihr argumentatives Niveau.

Gorgasal Offline




Beiträge: 4.095

08.07.2010 12:25
#10 RE: PID-Urteil Antworten

Zitat von Zettel

Zitat von Gorgasal
Ich denke, dass mir in diesem Zuge auch klar wird, wieso Sie (so vermute ich) keine Schwierigkeiten damit haben, dass die Mehrheit der Bürger beispielsweise ihre persönliche Moral hinsichtlich Diebstahl und Raubüberfall in die Form einer für alle Bürger verbindlichen Gesetzgebung gebracht hat.

Erhlich gesagt, lieber Gorgasal, das ist nicht Ihr argumentatives Niveau.



Nicht? Tut mir leid, wenn das bei Ihnen so ankommt. Die Anmerkung war ernst gemeint: mir ist nicht klar, auf welcher rein vernunftbasierten Basis manche Moralvorstellungen oktroyiert werden dürfen und andere nicht. Und ebenso ernst ist gemeint, dass ich mich darauf freue, Sie nach der Kant-Erklärung besser zu verstehen.

--
La función didáctica del historiador está en enseñarle a toda época que el mundo no comenzó con ello. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.07.2010 13:06
#11 RE: PID-Urteil Antworten

Zitat von Gorgasal

Zitat von Zettel

Zitat von Gorgasal
Ich denke, dass mir in diesem Zuge auch klar wird, wieso Sie (so vermute ich) keine Schwierigkeiten damit haben, dass die Mehrheit der Bürger beispielsweise ihre persönliche Moral hinsichtlich Diebstahl und Raubüberfall in die Form einer für alle Bürger verbindlichen Gesetzgebung gebracht hat.

Erhlich gesagt, lieber Gorgasal, das ist nicht Ihr argumentatives Niveau.



Nicht? Tut mir leid, wenn das bei Ihnen so ankommt. Die Anmerkung war ernst gemeint: mir ist nicht klar, auf welcher rein vernunftbasierten Basis manche Moralvorstellungen oktroyiert werden dürfen und andere nicht. Und ebenso ernst ist gemeint, dass ich mich darauf freue, Sie nach der Kant-Erklärung besser zu verstehen.



Aber lieber Gorgasal, es liegt doch auf der Hand, daß Raub und Diebstahl wie auch Mord in allen Kulturen als Verbrechen eingestuft werden. Sie sind, wie auch Mord, sozialschädliches Verhalten.

Ebenso offensichtlich ist doch, daß in Bezug darauf, ob eine befruchtete Eizelle ein Mensch ist, ein solcher Konsens nicht existiert. Schon deshalb nicht, weil man bis zum 19. Jahrhundert (vermute ich, ich habe das jetzt nicht nachgesehen) überhaupt nicht wußte, was eine befruchtete Eizelle ist.

Daß man nicht stehlen und rauben darf, ist ein kulturübergreifender Konsens. Daß man die befruchteten Eizellen, die man implantiert, nicht per genetischer Diagnose aussuchen darf, ist das nicht.

Übrigens kann man das auch unmittelbar aus dem kategorischen Imperativ ableiten. Wäre die "Maxime des Handelns", daß man andere bestehlen, berauben und ermorden kann, "Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung", dann würde die betreffende Gesellschaft zerfallen. Wenn sie die Präimplantationsdiagnostik erlaubt, wird eine Gesellschaft deshalb nicht zerfallen.

Herzlich, Zettel

Gorgasal Offline




Beiträge: 4.095

08.07.2010 13:37
#12 RE: PID-Urteil Antworten

Zitat von Zettel
Aber lieber Gorgasal, es liegt doch auf der Hand, daß Raub und Diebstahl wie auch Mord in allen Kulturen als Verbrechen eingestuft werden.


Natürlich. Aber warum sollte mich für meine individuelle Moral interessieren, was andere Menschen, andere Kulturen für richtig halten? Und warum, um auf die aktuelle Unterfrage zurückzukommen, verleiht uns diese Mehrheit das Recht, solcherlei Verhalten zu sanktionieren?

Umgekehrt: in fast allen Kulturen ist bzw. war Sklaverei oder Leibeigenschaft etwas völlig Normales. Woher nehmen wir die Gewissheit, dass wir das besser wissen als die Altvorderen?

Zitat von Zettel
Sie sind, wie auch Mord, sozialschädliches Verhalten.


Gleiche Frage: warum sollte mich interessieren, was sozialschädlich ist? Immerhin sprechen wir von individueller Moral.

Zitat von Zettel
Daß man nicht stehlen und rauben darf, ist ein kulturübergreifender Konsens. Daß man die befruchteten Eizellen, die man implantiert, nicht per genetischer Diagnose aussuchen darf, ist das nicht.


Naja, zu kulturübergreifenden Moralvorstellungen siehe oben...

Zitat von Zettel
Übrigens kann man das auch unmittelbar aus dem kategorischen Imperativ ableiten. Wäre die "Maxime des Handelns", daß man andere bestehlen, berauben und ermorden kann, "Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung", dann würde die betreffende Gesellschaft zerfallen.


Und wieder die gleiche Frage: warum sollte mich ganz persönlich die Gesellschaft interessieren? (Hier könnte man natürlich auch mit selection bias beim kulturübergreifenden Konsens argumentieren - diejenigen Gesellschaften, die zuviel sozialschädigendes Verhalten toleriert haben, haben nicht überlebt, und wir wissen wenig bis nichts von ihnen; aber ich kann jetzt wirklich nicht nachvollziehen, wie man von diesem is zu einem ought kommt.)

Zitat von Zettel
Wenn sie die Präimplantationsdiagnostik erlaubt, wird eine Gesellschaft deshalb nicht zerfallen.


Nein, nicht wegen der PID. Aber wenn wir die Abtreibung dazunehmen, dann erscheint mir Ihre Aussage gar nicht mehr so offensichtlich.

Wenn ich mir die aktuellen Geburtenraten in Westeuropa anschaue, dann taucht vor meinem inneren Auge das Bild eines Diskussionsforums im Jahre 5000 auf, in dem jemand im Brustton der Überzeugung erklärt, es sei kulturübergreifender Konsens, dass Abtreibung ein Verbrechen und sozialschädlich sei - etwa 2900 Jahre, nachdem die abtreibenden Gesellschaften untergegangen und nicht abtreibende Gesellschaften mit anderen Tabuvorstellungen überlebt haben, und etwa 1000 Jahre, seitdem niemand außer ein paar Althistorikern noch etwas über die Moralvorstellungen im Westeuropa des 21. Jh. weiß.

Nein, das ist nicht mein Argument gegen die Abtreibung. Das soll nur illustrieren, warum mir "alle Kulturen finden X sozialschädlich" nicht als Argument dafür ausreicht, X nicht zu tun oder jemandem X zu verbieten.

--
La función didáctica del historiador está en enseñarle a toda época que el mundo no comenzó con ello. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.07.2010 13:53
#13 Kant, Moral, Evolution Antworten

Zitat von Gorgasal

Zitat von Zettel
Aber lieber Gorgasal, es liegt doch auf der Hand, daß Raub und Diebstahl wie auch Mord in allen Kulturen als Verbrechen eingestuft werden.


Natürlich. Aber warum sollte mich für meine individuelle Moral interessieren, was andere Menschen, andere Kulturen für richtig halten?



Weil es keine individuelle Moral gibt. Moral ist ein soziales Phänomen. Moral reguliert, was die Gesellschaft von ihren Mitgliedern verlangen muß, wenn sie denn als diese Gesellschaft fortbestehen will.

Das ist der Inhalt des kategorischen Imperativs. Kants Formel ist ja eben dies: rein formal. Sie besagt, daß der Einzelne sich nicht anderes verhalten darf als so, wie es allgemeinen Gesetzen entspricht, sofern diese vernünftig sind. Und darauf kommt es natürlich an.

Ein allgemeines Gesetz, den Geßlerhut zu grüßen, ist unvernünftig, denn eine Gesellschaft, in der es nicht gilt, könnte weiterbestehen. Würde eine Gesellschaft aber - das ist Kants Beispiel - das Lügen für moralisch erklären, dann könnte sich niemand mehr auf den anderen verlassen, und diese Gesellschaft könnte auf Dauer nicht exisiteren.

Kants Moral wird gern als formalistisch, als eiskalt und dergleichen gescholten. Sie ist aber in ihrem Kern utilitaristisch. Sie besagt nichts anderes, als daß jeder Einzelne sich so verhalten muß, daß die Gesellschaft, in der er lebt, existenzfähig bleibt.

Wenn Kant das als "das moralische Gesetz in mir" bezeichnet hat, als ein nicht weiter begründbares Sollen, dann hat er auch da wieder - wie in seiner Erkenntnistheorie - die evolutionäre Erklärung vorweggenommen: Das Sollen ist nicht hinterfragbar, weil es uns angeboren ist. Es ist uns angeboren, weil Gesellschaften ohne diese genetische Voraussetzung längst verschwunden wären.

Herzlich, Zettel

Gorgasal Offline




Beiträge: 4.095

08.07.2010 14:50
#14 RE: Kant, Moral, Evolution Antworten

Zitat von Zettel
Weil es keine individuelle Moral gibt. Moral ist ein soziales Phänomen. Moral reguliert, was die Gesellschaft von ihren Mitgliedern verlangen muß, wenn sie denn als diese Gesellschaft fortbestehen will.


Hm, ich glaube, wir haben unterschiedliche Begriffe von Moral. Natürlich ist Moral in dem Sinne ein soziales Phänomen, dass sie das Zusammenleben von Menschen regelt. Aber ist sie deswegen "nicht individuell"? Kommt es da wirklich nur darauf an, was eine Gesellschaft verfolgt und bestraft, nicht auch darauf, was ein Mensch allein im stillen Kämmerlein tut, was vielleicht überhaupt nicht von Strafe bedroht ist?

Und des Verständnisses halber: verstehe ich Sie richtig, dass Moral im Sinne von "die Gesellschaft muss als Gesellschaft fortbestehen" keine Schwierigkeiten mit den folgenden Verhaltensweisen hat?

- Infantizid
- Rechtlosigkeit der Frau
- Ehebruch
- Sklaverei
- Bestechung

Oder ist das einzige Argument aus Kantscher Sicht, dass überlebende Gesellschaften qua überlebende Gesellschaften ihre Moralvorstellungen nachträglich zu den "richtigen" adeln?

In dem Falle verstehe ich nicht ganz, was Sie gegen die politischen Verhältnisse in China haben, die dortige Gesellschaft scheint prächtig zu gedeihen. Natürlich kann man sich immer darauf zurückziehen, dass es in China unter kommunistischer Diktatur nicht unbegrenzt weitergehen kann - aber ob die freiheitliche Demokratie tatsächlich das Ende der Geschichte ist, erscheint mir auch nicht ganz klar. Vielleicht ist die "richtige" Moral ja diejenige, der zufolge jeder seinen Nachbarn danach bespitzelt, ob er seinen Müll ordentlich trennt und nur Energiesparlampen benutzt? Immerhin scheint mir die Entwicklung in Europa dorthin zu gehen. Und wenn Sie mir jetzt antworten, dass auch eine Gesellschaft ohne diese Bespitzelung überleben könnte, dann entgegne ich, dass eben auch eine Gesellschaft mit Sklaverei überleben könnte.

Zitat von Zettel
Das ist der Inhalt des kategorischen Imperativs. Kants Formel ist ja eben dies: rein formal. Sie besagt, daß der Einzelne sich nicht anderes verhalten darf als so, wie es allgemeinen Gesetzen entspricht, sofern diese vernünftig sind.


Ein Kernproblem, das ich hiermit habe: woher diese Gewissheit, dass die Moral für alle gleich sein muss, dass man also ohne weitere Qualifizierung von "dem Einzelnen" sprechen kann? Was spricht gegen eine hierarchisierte Gesellschaft, in der manchen erlaubt ist, was anderen verboten ist? Ein indisches Kastensystem? Die russische Aristokratie, die ihre Leibeigenen ("Seelen") beim Kartenspiel verzockt? Sklaven in den US-Südstaaten? Apartheid in Südafrika? Das sind Gesellschaften, die teilweise deutlich länger überlebt haben als unsere aktuelle Gleichheitsgesellschaft.

Zitat von Zettel
Wenn Kant das als "das moralische Gesetz in mir" bezeichnet hat, als ein nicht weiter begründbares Sollen, dann hat er auch da wieder - wie in seiner Erkenntnistheorie - die evolutionäre Erklärung vorweggenommen: Das Sollen ist nicht hinterfragbar, weil es uns angeboren ist. Es ist uns angeboren, weil Gesellschaften ohne diese genetische Voraussetzung längst verschwunden wären.


Naja, soweit ich Ihre Ausführungen oben verstanden habe, ist uns nicht das Sollen angeboren, sondern das Leben in einer Gesellschaft, verbunden mit dem Recht der Gesellschaft, ihren Mitgliedern Vorschriften zu machen. Aber in dieser Allgemeinheit ("das Sollen ist uns angeboren") hilft uns das wohl hier nicht weiter; uns geht es meines Erachtens eher darum, was genau uns angeboren ist.

--
La función didáctica del historiador está en enseñarle a toda época que el mundo no comenzó con ello. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.07.2010 16:07
#15 RE: Kant, Moral, Evolution Antworten

Zitat von Gorgasal

Zitat von Zettel
Weil es keine individuelle Moral gibt. Moral ist ein soziales Phänomen. Moral reguliert, was die Gesellschaft von ihren Mitgliedern verlangen muß, wenn sie denn als diese Gesellschaft fortbestehen will.


Hm, ich glaube, wir haben unterschiedliche Begriffe von Moral. Natürlich ist Moral in dem Sinne ein soziales Phänomen, dass sie das Zusammenleben von Menschen regelt. Aber ist sie deswegen "nicht individuell"? Kommt es da wirklich nur darauf an, was eine Gesellschaft verfolgt und bestraft, nicht auch darauf, was ein Mensch allein im stillen Kämmerlein tut, was vielleicht überhaupt nicht von Strafe bedroht ist?



Moral, lieber Gorgasal, ist aus meiner Sicht ein soziales Phänomen in dem Sinn, daß sie in der Evolution entstanden ist, um das soziale Leben zu regulieren.

Übrigens ja nicht nur bei uns in Horden lebenden Primaten, sondern beispielsweise auch bei Rudeltieren wie dem Wolf und, ergo, dem Hund: Niemand in unserer kleinen Zettelschen Familie hat so hohe moralische Standards wie unser Hund. Er weiß genau, was gut und was böse ist. Er hat ein schlechtes Gewissen, wenn er etwas Böses getan hat. Haben Sie, lieber Gorgasal, schon einmal einen Hund gesehen, der sich einer Missetat schämt? Er sinkt buchstäblich in sich zusammen.



Aber natürlich ist die Moral auch etwas Individuelles. Diesen Imperativ des Sollens haben wir alle in uns; keiner kann sich dem entziehen. (Rebellieren dagegen kann man natürlich, aber gerade dann erkennt man es ja an). Aber wir können auf diesen Imperativ sehr unterschiedlich reagieren, ihn sozusagen verschieden mit Leben füllen.

In traditionellen Gesellschaften war das kein Problem. Dort gaben die Institutionen vor, was gut und was böse ist. Aber der Geist hat sich nun einmal geregt; in der ionischen und dann attischen Philosophie, in der Spätzeit des Römischen Reichs, dann wieder in der Renaissance und in der Aufklärung. Man will eine rationale Begründung für Moral.

Kant, dem eben keiner das Wasser reichen kann, hat erkannt, daß es eine solche rationale Begründung für Moral als solche nicht geben kann. Sie steckt eben in uns. Die Frage, warum wir denn sollen sollen, ist sinnleer.

Aber wir können vernünftig entscheiden, wie denn dieses Sollen mit Inhalt gefüllt werden sollte. Nämlich - sagt Kant - so, daß der Einzelne sich für das entscheidet, was vernünftig wäre, wenn es in der gesamten Gesellschaft gelten würde.



Ich bin halt ein alter Aufklärer und Kantianer, lieber Gorgasal. Mir ist schon das klar, was auch dem erbarmungslosen Realisten Kant klar war: Man kann Ziele formulieren. Niemand hat die Macht darüber, sie zu verwirklichen.

Ich weiß nicht, was Sie bisher von Kant gelesen haben. Aber meine Anregung ist, daß Sie "Zum ewigen Frieden" lesen, worüber ich hier gebloggt habe.

Sie haben dort den ganzen Kant: Den rigorosen Denker, den Skeptiker, den Realisten, der - realistischerweise - nicht ausschließt, daß die Welt sich zum Besseren verändern kann.

Herzlich, Zettel

Kaa Offline




Beiträge: 658

21.07.2010 21:45
#16 RE: PID-Urteil Antworten

Ja, Sie haben sich um Differenzierung bemüht. Und einen Aspekt haben Sie nicht herausgearbeitet. Ich versuch mal ein Beispiel:

Ein Paar möchte gerne Kinder. In beiden Familien kommt die selbe sehr schwere Krankheit vor. Wenn sie ein Kind bekommen, sind die Chancen ein Kind mit dieser Krankheit zu bekommen deutlich erhöht. Dieser neue Mensch, wenn er denn die Krankheit hat, wird sein Leben lang krank sein. Nun kommt es auf die Krankheit an, eventuell länger als die Eltern leben, eventuell können die Eltern ziemlich sicher damit rechnen, seinen Tod begleiten zu müssen. Wenn es ganz schlimm kommt nach einem schmerzerfülltem Leben.

Meiner Meinung nach handelte dieses Paar verantwortungslos, wenn es ein Kind zeugen würde, das viel wahrscheinlicher als andere Kinder sehr schwer krank sein würde. Meiner persönlichen seelischen Gegebenheiten nach ist es nicht möglich (id est, es ist einfach völlig falsch) ein Kind zu zeugen, wachsen zu lassen, bis man es testen kann und es dann abzutreiben. Ich fände es verständlich, aber schlimm, wenn ein Paar so handeln würde. Und ich glaube auch nicht, daß das ohne Auswirkung auf das Paar und eventuell nachfolgende Kinder wäre.

Wir haben also ein Paar, das ein Kind möchte, aber verantwortungslos wäre, wenn es eines zeugte. Die Lösung mit einem Gentest bei einer Befruchtung außerhalb des Körpers finde ich in diesem Fall akzeptabel. Und da ist es für mich gar nicht wichtig, ob das Kind im göttlichen Sinne schon ein Mensch ist. Wäre ich in der Situation würde ich Gott sagen, ja, aber ich entscheide mich gegen Deinen Plan. Das darf ich. Du hast ja gewußt, daß es außerhalb des Uterus entsteht.

In der oben beschriebenen Lage entsteht am wenigsten Schmerz. Selbst wenn die befruchtete Eizelle ein Mensch sein sollte, schmerzfähig ist sie sicher nicht.

Viele Grüße

Kaa


Der neue Faschismus wird nicht sagen: Ich bin der Faschismus. Er wird sagen: Ich bin der Antifaschismus Autor im Netz bekannt

 Sprung  



Bitte beachten Sie diese Forumsregeln: Beiträge, die persönliche Angriffe gegen andere Poster, Unhöflichkeiten oder vulgäre Ausdrücke enthalten, sind nicht erlaubt; ebensowenig Beiträge mit rassistischem, fremdenfeindlichem oder obszönem Inhalt und Äußerungen gegen den demokratischen Rechtsstaat sowie Beiträge, die gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen. Hierzu gehört auch das Verbot von Vollzitaten, wie es durch die aktuelle Rechtsprechung festgelegt ist. Erlaubt ist lediglich das Zitieren weniger Sätze oder kurzer Absätze aus einem durch Copyright geschützten Dokument; und dies nur dann, wenn diese Zitate in einen argumentativen Kontext eingebunden sind. Bilder und Texte dürfen nur hochgeladen werden, wenn sie copyrightfrei sind oder das Copyright bei dem Mitglied liegt, das sie hochlädt. Bitte geben Sie das bei dem hochgeladenen Bild oder Text an. Links können zu einzelnen Artikeln, Abbildungen oder Beiträgen gesetzt werden, aber nicht zur Homepage von Foren, Zeitschriften usw. Bei einem Verstoß wird der betreffende Beitrag gelöscht oder redigiert. Bei einem massiven oder bei wiederholtem Verstoß endet die Mitgliedschaft. Eigene Beiträge dürfen nachträglich in Bezug auf Tippfehler oder stilistisch überarbeitet, aber nicht in ihrer Substanz verändert oder gelöscht werden. Nachträgliche Zusätze, die über derartige orthographische oder stilistische Korrekturen hinausgehen, müssen durch "Edit", "Nachtrag" o.ä. gekennzeichnet werden. Ferner gehört das Einverständnis mit der hier dargelegten Datenschutzerklärung zu den Forumsregeln.



Xobor Xobor Forum Software
Einfach ein eigenes Forum erstellen
Datenschutz