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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 20 Antworten
und wurde 1.620 mal aufgerufen
 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

03.10.2010 02:19
Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Nein, keine politische Analyse. Nur persönliche Erinnerungen.

Thanatos Offline



Beiträge: 232

03.10.2010 14:39
#2 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Ich stimme Ihren Einschätzungen der ostdeutschen Mentalität um 1990 zu, lieber Zettel. Und zwar als Ostdeutscher. Es wäre ein interessantes Thema: wie und wodurch entstand diese Mentalität des Duldens, des passiven Hinnehmens, des mangelnden Selbstvertrauens? (Manche Antworten leigen wohl auch auf der Hand).

Wie lange die erwartete und erhoffte Angleichung der Menschen noch dauert, ist eine schwere Frage. Feststehen dürfte, daß die Erkennbarkeit als "Wessi" und "Ossi" anhand der unterschiedlichen Mentalität weiterhin ungebrochen vorhanden ist. Es wirkt ja auch weiterhin das Selektionsprinzip, das seit 1945 diese Unterschiede fördert: die Aktiven, Selbstbewußten, Freidenkenden, Unternehmer, Gebildeten sortieren sich im freien Westen ein - die anderen bleiben im Osten zurück. Zudem zog der Osten nach 1989 die zweite und dritte Garnitur, die Halbseidenen und Glücksritter aus dem Westen an. Das kann nicht ohne Folgen bleiben, und das wird sich auch kaum ausgleichen.

20 Jahre haben da wenig gebracht, mit 50 oder 100 Jahren ist vielleicht immer noch die alte Scheidelinie erkennbar. Verheerend, was der Krieg in unserem Volk angerichtet hat. Und es bleibt festzuhalten, daß die einzelnen Bevölkerungsteile für ihre Zukunft gar nichts können, weder die einen noch die anderen. Den Ausschlag gab einzig die Frage "amerikanisch besetzt" oder "russisch besetzt".

MfG Thanatos

--

Unmögliches erledigen wir sofort.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

03.10.2010 15:14
#3 Untertanen Antworten

Zitat von Thanatos
Es wäre ein interessantes Thema: wie und wodurch entstand diese Mentalität des Duldens, des passiven Hinnehmens, des mangelnden Selbstvertrauens? (Manche Antworten leigen wohl auch auf der Hand).


Ja, der Anteil der kommunistischen Diktatur liegt auf der Hand. Was viele weniger sehen, ist der Anteil der vorausgehenden Epochen der deutschen Geschichte.

Aus meiner heutigen Sicht waren die DDR-Bürger (viele, solche Urteile stimmen selbstredend nie für alle) im Grunde immer noch die Untertanen, die die Deutschen seit dem Scheitern der Revolution von 1848 gewesen waren. Es gab eine Kontinuität vom Kaiserreich über das Hitlerreich bis zur DDR; von einem Obrigkeitsstaat zum nächsten.

Die Weimarer Republik war ein Zwischenspiel. Und ja ein ganz kurzes: 1919 geboren, 1933 verschieden, also ganze vierzehn Jahre alt geworden. Noch dazu von einer Krise in die nächste taumelnd. Da entstand nichts Prägendes.

Wer, sagen wir, 1965 in der DDR geboren wurde und also bei der Wiedervereinigung 25 Jahre alt war, dessen Eltern (ich rechne jetzt einmal eine Generation zu 25 Jahren) wurden 1940 geboren. Sie hatten bewußt nur die Nachkriegszeit und dann die DDR erlebt.

Seine Großeltern wurden 1915 geboren, lernten also in ihrem politisch bewußten Leben nur das Ende von Weimar, dann Nazis, russische Besatzer und deutsche Kommunisten als die Obrigkeit kennen. Erst die Urgroßeltern - nach dieser Rechnung 1890 geboren - hatten diese kurze Phase der Weimarer Republik bewußt miterlebt.

Aber diese Urgroßeltern waren die doppelte Kriegsgeneration: junge Soldatgen im Ersten Weltkrieg, viele dann noch einmal Hitlers Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Dazwischen die Revolution der Kommunisten in Rußland und die der Nazis in Deutschland, wenn man deren Putsch denn so nennen will.

Wie sollte man da den aufrechten Gang erlernt haben, über diese Generationen, von denen ja auch eine die nächste geprägt hat?

So gesehen ist das Erstaunliche, daß es trotzdem genug Menschen gab, die die friedliche Revolution von 1989 getragen haben.

Herzlich, Zettel

Herr Offline




Beiträge: 406

03.10.2010 19:48
#4 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Lieber Zettel,
ein ganz herzliches Dankeschön für diesen schönen Beitrag zu diesem Tag! Obwohl Sie ja ganz persönliche Beobachtungen mitteilen, ist mir der auch langfristig so erstaunlich prägende Mentalitätsunterschied dadurch noch mal ein Stück verständlicher geworden.

Es ist wohl in den meisten von uns Ostdeutschen dieses Gefühl tief verankert, dass uns unser Leben und unsere Lebensbedingungen von anderwärts her vorgegeben werden, und in diesem Rahmen nur verspür(t)en wir die persönlichen Gestaltungsmöglichkeiten. In der DDR hatten wir keine Rechte, sondern der Staat gewährte uns Rechte. – Ich habe das seinerzeit schon in meiner Schullaufbahn so erlebt: Dass ich die Erweiterte Oberschule besuchen durfte, darauf hatte ich nicht etwa ein Recht, weil ich dafür entsprechende Schulleistungen hatte, sondern es war eine Art Gnadenakt, den ich als einer, der die Jugendweihe verweigert hatte, gar nicht hätte erwarten dürfen. Und dass mir dann trotz entsprechender Schulleistungen auf Grund meiner "negativen Persönlichkeitsentwicklung" jeglicher Studienplatz verweigert wurde, hatte ich genau so hinzunehmen. – Die Gesellschaft wies dem Einzelnen seinen Platz zu: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen." Ich habe das Buch nie gelesen, aber vermutlich ist es das, was Rolf Henrich mit seinem Buchtitel "Der vormundschaftliche Staat" gemeint hat. Sicher haben das viele nicht nur als einengend empfunden, sondern auch als entlastend. Der Staat war letztlich verantwortlich, dass ich einen Arbeitsplatz hatte, eine Wohnung, einen Urlaubsplatz usw. usf. Ein Staat, der seinen Bürgern das nicht mehr bietet, wirkt dann eben sozial kalt.

Die DDR-Bürger wurden über Nacht in die Mündigkeit gestoßen, die sie nie gelernt hatten. Und die meisten haben sich damit schwer getan. Wahrscheinlich ist das auch der Unterschied zu denen, die vor 1990 in den Westen gegangen sind. Sie haben damit den entscheidenden Schritt zur Mündigkeit selber getan. So wirken solche ehemaligen DDR-Bürger gleich viel westdeutscher.

Zitat von Zettel
Auf einem der Campingplätze hofften sie beispielsweise, daß sich ein Investor aus dem Westen finden werde, der das Gelände an das Strom- und das Wassernetz anschließen würde.


An diesem kleine Sätzchen wird ein weiterer Aspekt deutlich. Es war ja nicht nur die erlernte Passivität und Abhängigkeit. Mindestens genau so schwer wog die mangelnde ökonomische Potenz. Und das wiederum war nicht nur schlichte Unkenntnis über das Funktionieren marktwirtschaftlicher Prozesse, sondern mehr noch das Fehlen von Investivkapital. Darum war dieses Warten auf den westlichen Investor so typisch. Und zugleich hat es die erlernte Passivität und Abhängigkeit verstärkt. – Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.

Und dann kam die Enttäuschung über diejenigen, die die tatsächlich oder vermeintlich vorhandenen Potenzen der Ostdeutschen verkannten, ihre Kreativität und Anpassungsfähigkeit, das was der Sachse "fischelant" (von vigilant) nennt. Schnell entstand das Bild vom Besser-Wessi und entsprechende Abwehrreflexe. Noch immer sieht man in manchen Büros in kyrillischen Buchstaben ausgedruckt: "Wer das lesen kann, ist kein dummer Wessi." – Peinlich und erbärmlich eigentlich, weil den Satz, wäre er wirklich auf Russisch geschrieben, auch ein dummer Ossi, obwohl er sechs Jahre Russisch hatte, nicht mehr verstehen würde ...

Interessant auch der Blick auf die Westdeutschen, die schon 1990 kein Interesse an der deutschen Einheit hatten. Klar, dass wir für die nur ein Kostenfaktor waren ... – Oskar Lafontaine vor allem hat damals schon versucht, daraus politisches Kapital zu schlagen. Gott sei Dank, ist es ihm nicht gelungen. – Klar aber auch, dass diese Haltung: "Wir brauchen euch eigentlich nicht, und wenn ihr schon dazugehört, dann passt euch gefälligst an", schlecht ankommt im Osten. ...

Eine letzte kleine Anmerkung noch: "Solyanka". – Schon diese Schreibweise signalisiert dem Ostdeutschen: Ihr Wessis kennt und versteht uns einfach nicht. – Kein Mensch im Osten würde auf die Idee kommen, Soljanka mit y zu schreiben

Herzlichen Gruß!
Herr

Gansguoter Offline



Beiträge: 988

03.10.2010 21:37
#5 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Zitat
Interessant auch der Blick auf die Westdeutschen, die schon 1990 kein Interesse an der deutschen Einheit hatten.



Meiner Ansicht nach ist die Vereinigung fast im letztmöglichen Moment gekommen. Die Bevölkerung der beiden deutschen Staaten hatte sich schon weit auseinandergelebt. Ich schreibe aus der Erfahrung des Schülers bzw. Oberstufenschülers im Jahr 1989/90: Wir hatten keine Verwandten in der DDR. Der eine Mitschüler, dessen Großmutter und Tanten / Onkels in Görlitz lebten, galt in dieser Hinsicht als eine Kuriosität (etwa ähnlich kurios, als wenn die Großmutter in Ouaggadouggou gelebt hätte; eine Großmutter in Seattle oder Johannesburg oder Melbourne wäre weniger kurios gewesen - denn da hätte man wenigstens gewusst, wo das ist). In Österreich war fast jeder schon mal gewesen; aber in der DDR? Geographie der DDR in der Schule? Fehlanzeige. Eine Ahnung, wo Erfurt, Jena, Schwerin liegen? Ne. Ob Königsberg, Danzig, Breslau, Leipzig oder Erfurt - das waren alles Städte, die kamen im historischen Atlas vor und im Geschichtsbuch, und man wusste, dass - irgendwie auch komischerweise - die deutsche Geschichte auch dort sich abgespielt hat. Aber das war eben alles hinter dem Eisernen Vorhang im grauen Dunst; eine emotionale oder persönliche Beziehung dorthin gab es nicht. Bei einer Vereinigung mit Österreich hätte man mehr über das andere Land gewusst als im Falle der DDR. Dieses Nichtwissen unter den damals jungen Leuten, an dem die Schule sicher ihren Anteil hat, hat meiner Ansicht nach einen gehörigen Anteil am "Fremdeln" zwischen West- und Ostdeutschen (eigentlich ja: Mitteldeutschen).

Kuriosität am Rande: Der Schulatlas, den ich in den 1980er Jahren erhalten habe, der zeigte auf der Polenkarte noch gestrichelt die Grenzen von 1937 mit dem Hinweis "zur Zeit unter polnischer Verwaltung" bzw. "unter sowjetischer Verwaltung". Da hielten die Kultusminister als Genehmigungsbehörden der Schulbücher die Fiktion aufrecht, über die Grenzen von 1937 sei noch Verhandlungsspielraum, während über die DDR nichts, aber auch gar nichts in der Schule zu erfahren war.

edit: Das "gar nichts" muss ich korrigieren - über LPG und Kolchosen ist im Erdkundeunterricht gesprochen worden. Aber mehr fällt mir für die Zeit vor 89 nicht ein.

Herr Offline




Beiträge: 406

04.10.2010 00:28
#6 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Zitat von Gansguoter
während über die DDR nichts, aber auch gar nichts in der Schule zu erfahren war.


Lag das Ihrer Meinung nach schon an der Lehrergeneration? – Unsereins hätte ja vermutet, dass vor dem Hintergrund des Wiedervereinigungsziels im Grundgesetz usw. in der Bundesrepublik über die DDR viel besser hätte informiert werden müssen als umgekehrt. Tatsächlich war es aber so, dass im ostdeutschen Geografie-Lehrplan die "BRD" einen recht ausführlichen Raum einnahm (mindestens ein Schulhalbjahr in Klasse 6, wenn ich mich recht erinnere).

Natürlich ist es auch so, dass wir Ostdeutschen in ganz anderem Maße auf die Westmedien ausgerichtet waren. Und was die Westverwandtschaft betrifft: Natürlich war es statistisch viel wahrscheinlicher als Ostdeutscher Westverwandtschaft zu haben als umgekehrt.

So waren "wir" am Ende trotz der gegenläufigen Propaganda und Staatsdoktrin die eigentlichen deutschen Patrioten, die die Wiedervereinigung wollten und herbeigeführt haben

Herzlichen Gruß!
Herr

Barbara Offline



Beiträge: 39

04.10.2010 01:54
#7 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Zitat
Meiner Ansicht nach ist die Vereinigung fast im letztmöglichen Moment gekommen.



Dem stimme ich zu. Noch in den 90ern dachte ich so v.a. in Bezug auf die Lage in der damaligen SU. Die Entwicklung war ja unkalkulierbar. Da tat sich wahrscheinlich wirklich ein ganz kleines Zeitfenster auf. Und alle folgenden Ereignisse ergaben sich ja dann auch irgendwie daraus. Wie sonst alles gekommen wäre, kann heute niemand sagen. Gott sei Dank: Wir haben "gerade noch die Kurve gekriegt".

Heute aber denke ich ebenso aber v.a. im Blick auf die "alte Bundesrepublik". Wenn ich mir dieses Land heute betrachte, mit seiner Geschichtsvergessenheit und Verzagtheit, seiner Verführbarkeit durch linke Ideen, mit seinem ungesunden und übertriebenen Mißtrauen gegen sich selbst und gegen eben all die Werte, Überzeugungen und Mechanismen, die es damals für so viele DDR-Bürger erstrebenswert erscheinen ließen, dann denke ich: Heute würde das nichts mehr werden.
Lafontaine war ja damals schon dagegen, gegen die Vereinigung, auch Vogel und Engholm u.s.w. zeigten sich der Ost-SPD gegenüber schon sehr reserviert, aber inzwischen stehen da statt ihrer nun Gabriel, Nahles und Wowereit... Und Willi Brandt ist lange tot. Statt Genscher hätten wir nun Westerwelle. Frau Merkel wäre nicht Kanzlerin. Das ist wahr. Aber würden Guttemberg oder Koch, Rüttgers oder Röttgen so reagiert haben wie Kohl? Ich glaube das nicht. Wir haben - Gott sei Dank - "gerade noch die Kurve gekriegt".

Als Nationalfeiertag hätte ich gern den 17. Juni beibehalten oder den 9.10. gewählt, den Tag der Riesendemonstration in Leipzig, zu dem sich die Menschen in Sachsen trotz der deprimierenden Erfahrungen des vergangenen Wochenendes in Berlin und trotz der wilden und beängstigenden Gerüchte, die "durch die Republik" liefen, auf die Straße trauten.
Daß aber nun der 3.10. immer mal wieder - wie auch in diesem Jahr - mit dem Erntedanksonntag zusammenfällt, hat auch 'was. Es unterstreicht die Erfahrung, daß alles Bemühen vergeblich sein kann, wenn kein Segen darauf liegt (z.B. der Segen des gerade noch richtigen Moments). Ebenso die Erfahrung, daß glückliche Umstände nur dann zu einem glücklichen Ergebnis führen, wenn sie entschlossen und furchtlos ergriffen werden.

Wir pflügen, und wir streuen
den Samen auf das Land,
doch Wachstum und Gedeihen
steht in des Himmels Hand:
der tut mit leisem Wehen
sich mild und heimlich auf
und träuft, wenn heim wir gehen,
Wuchs und Gedeihen drauf.
(Matthias Claudius, 1783)

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

04.10.2010 02:01
#8 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Zitat von Herr
ein ganz herzliches Dankeschön für diesen schönen Beitrag zu diesem Tag! Obwohl Sie ja ganz persönliche Beobachtungen mitteilen, ist mir der auch langfristig so erstaunlich prägende Mentalitätsunterschied dadurch noch mal ein Stück verständlicher geworden.


Das freut mich sehr, lieber Herr; denn ich habe mich gefragt, ob ich die damaligen Gegebenheiten nicht zu einseitig geschildert habe; den Text habe ich deshalb auch mehrfach umgeschrieben. Er sollte ja keine Kritik an der Bevölkerung der DDR sein.

Zitat von Herr
In der DDR hatten wir keine Rechte, sondern der Staat gewährte uns Rechte. (...) Die Gesellschaft wies dem Einzelnen seinen Platz zu: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen."


Ja, es war vorgeblich die Gesellschaft. In der Ausübung war es der Staat. Und in Wahrheit, steuernd, die Partei.

Dieser Satz von Marx ist entlarvend, denn an ihm wird wie in einem Brennglas gebündelt, wie Marx sich den Sozialismus dachte: Als eine durchbürokratisierte Gesellschaft. Wer anders als eine perfekte Bürokratie hätte denn ermitteln können, wer welche Bedürfnisse anerkannt bekommt und wer welche Fähigkeiten einzubringen hat? Wer anders als staatliche Machtorgane hätten denn dafür sorgen sollen, daß niemand mehr bekommt, als seinen Bedürfnissen entspricht; und daß niemand weniger leistet, als seinen Fähigkeiten entspricht?

Marx wollte die "Anarchie" des Kapitalismus beseitigen, wie er das nannte, also die Herrschaftsfreiheit. Und er wollte sie durch eine Gesellschaft ersetzen, in der der Einzelne der totalen Herrschaft des Staats, also der Partei unterworfen ist.

Es gehört zu den am schwersten auszurottenden Legenden, daß Marx "eigentlich" eine freie Gesellschaft gewollt hätte, und daß dieser hehre Sozialismus erst durch Lenin (die sozialdemokratische Variante) oder erst durch Stalin (die kommunistische Variante seit Chruschtschow) "entartet" sei. Marx wollte aber ziemlich genau das, was als real existierender Sozialismus entstanden ist.

Diesen Satz, den Sie zitieren, schrieb Marx 1875; veröffentlicht wurde er erst 1890/91. Also zu einer Zeit, wo nicht nur in den USA, sondern auch in Teilen Europas (in England und Frankreich zum Beispiel) längst funktionierende parlamentarische Demokratien existierten und andere Länder (etwa Deutschland) auf dem Weg dorthin waren!

Die Unfreiheit in der DDR, die Sie schildern,lieber Herr, war aus meiner heutigen Sicht die perfekte Realisierung dessen, was Marx wollte. Früher einmal habe ich auch an die "Entartung" des Marxismus geglaubt; es war ein Irrtum gewesen.

Zitat von Herr
Eine letzte kleine Anmerkung noch: "Solyanka". – Schon diese Schreibweise signalisiert dem Ostdeutschen: Ihr Wessis kennt und versteht uns einfach nicht. – Kein Mensch im Osten würde auf die Idee kommen, Soljanka mit y zu schreiben


Sie haben Recht; Solyanka ist die englische Transskription von Солянка. Ich lasse es aber stehen, als Zeichen meiner Unwissenheit.

Herzlich, Zettel

PS: Die Antwort zu Kant, Teil 2, kommt. Die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe gehört zum Spannendsten, aber auch Schwierigsten bei Kant; es ist aus meiner Sicht eine funktionelle Theorie des Bewußtseins, die auch für die heutige philosophy of mind noch viel zu bieten hätte - wenn man Kant denn lesen würde. Die transzendentale Apprehension ist zB das heutige binding problem; bei der transzendentalen Reproduktion geht es u.a. um die zentrale Frage, wo die Grenze zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis verläuft.

Das geht a bisserl über unseren ursprünglichen Dissens hinaus, in Bezug auf den ich allerdings meine Sicht bestätigt sehe: Mit "objektiv" meint Kant nicht etwas, das über die menschliche Erkenntnis hinaus (etwa für Aliens) Gültigkeit hätte, sondern nur den Bezug auf einen empirischen Gegenstand.

Dies als kleiner Appetithappen; lieber Herr. Ich hoffe, daß ich Sättigendes bald nachliefern kann.

Gansguoter Offline



Beiträge: 988

04.10.2010 07:29
#9 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Zitat
Lag das Ihrer Meinung nach schon an der Lehrergeneration? – Unsereins hätte ja vermutet, dass vor dem Hintergrund des Wiedervereinigungsziels im Grundgesetz usw. in der Bundesrepublik über die DDR viel besser hätte informiert werden müssen als umgekehrt. Tatsächlich war es aber so, dass im ostdeutschen Geografie-Lehrplan die "BRD" einen recht ausführlichen Raum einnahm (mindestens ein Schulhalbjahr in Klasse 6, wenn ich mich recht erinnere).



Ich habe länger nachgedacht und bin darauf gekommen, dass ein Thema - in Klasse 6 oder 7? - die LPG und die Kolchose war, wohl im Vergleich mit der Landwirtschaft in der Bundesrepublik. Das Thema blieb uns aber reichlich abstrakt. Ansonsten wäre theoretisch im Geschichtsunterricht die DDR ein Thema gewesen; da der Geschichtsunterricht nur bis 1945 kam, blieb das Thema außen vor.

Lag es an der Lehrergeneration? Ich würde sagen, es war in meinem Fall - kirchliche Privatschule - nicht das Desinteresse der 68-Lehrerschaft, das man sich leicht vorstellen kann, sondern eher das Gefühl, das Thema habe sich "erledigt". Ich denke, die Lehrer hatten sich einfach damit abgefunden; sicher spielte auch da eine Rolle, dass hier weit im Westen nur wenige Menschen persönliche Beziehungen in die DDR hatten. Da lag einem dann manches andere näher.

Als die Revolution 1989 begann, wurde das Thema in der Schule sofort aktuell. Ich erinnere mich an meinen Geschichtslehrer, der mit Tränen in den Augen Anfang Oktober '89 sagte: "Die DDR feiert ihren 40. Geburtstag, aber ihren 50. wird sie nicht mehr erleben." In der ersten Hälfte 1990 wurde dann im Geschichts-LK immer wieder auf die aktuellen Vorgänge (und den historischen Hintergrund dazu) eingegangen.

Also, das Bild von der DDR, das ich als Schüler bis 1989 hatte:
- Ein Land, das früher einmal zu "Deutschland" gehört hat (so, wie auch Schlesien früher mal zu Deutschland gehört hat)
- An der Grenze ist eine Mauer, wo Leute erschossen werden, die das Land verlassen wollen
- In diesem Land gibt es so etwas Komisches wie eine LPG, wo man nicht recht versteht, was das soll; mit den Bauernhöfen hier schien es doch ganz gut zu funktionieren
- Offenbar ein armes Land, weil meine Großmutter von der Kirche aus hin und wieder Geschenkpakete an Leute dort geschickt hat, mit denen wir nicht verwandt waren; also offenbar so etwas wie eine Dritte-Welt-Land
- Im Austausch bekam ich über meine Oma von diesen Leuten Briefmarken aus der DDR; diese Briefmarken zeichneten sich durch mangelhafte Qualität aus, was beim Ablösen leicht deutlich wurde, wenn sich nicht nur die Gummierung, sondern die ganze Briefmarke auflöste
- Ein fremdes Land, denn man kannte kaum jemanden, der je dort gewesen war
- Politiker sprachen hin und wieder davon, dass es eine Vereinigung mit diesem Land geben sollte
- Dieses Land wurde von einigen alten Männern regiert, über die beim Mainzer oder Kölner Karneval auch Witze gemacht werden konnten.
- Aus diesem Land DDR wurden wir von den "Russen" mit Atomraketen bedroht.

Das die Wahrnehmung als Schüler, wie ich sie gerade rekonstruiert habe. Insgesamt also wenig, was eine Vereinigung mit diesem Land auf den ersten Blick attraktiv gemacht hätte.

Symptomatisch ist sicher, dass ich 1991, als ich mit meinen Eltern zum ersten Mal in den neuen Ländern war, bei der Rückfahrt beim Passieren des ehem. Grenzübergangs bei Eisenach gesagt habe: "So, jetzt sind wir wieder in Deutschland" - und erst einen Moment später fiel mir und meinen Eltern das Unsinnige dieses Satzes auf. Ich weiß aber, dass in meinem Umfeld zumindest noch in den 1990ern durchaus die Begriffe "in Deutschland" und "in der DDR" für "in den alten" bzw. "neuen Ländern" benutzt wurden; ich meine, auch noch nach 2000.

Herr Offline




Beiträge: 406

04.10.2010 08:43
#10 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Danke für diese ausführliche Antwort. Das ist dann schon ganz nachvollziehbar.

Zitat von Gansguoter
Ich weiß aber, dass in meinem Umfeld zumindest noch in den 1990ern durchaus die Begriffe "in Deutschland" und "in der DDR" für "in den alten" bzw. "neuen Ländern" benutzt wurden; ich meine, auch noch nach 2000.


Können Sie sich vorstellen, dass das in der DDR und dann in den neuen Ländern als besonders erniedrigend empfunden wurde, wenn man, was einigen passiert ist, bei der Westreise oder kurz nach der "Wende" gefragt wurde: "Waren Sie schon mal in Deutschland"?

Herr Offline




Beiträge: 406

04.10.2010 09:00
#11 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Zitat von Zettel
Die Unfreiheit in der DDR, die Sie schildern,lieber Herr, war aus meiner heutigen Sicht die perfekte Realisierung dessen, was Marx wollte. Früher einmal habe ich auch an die "Entartung" des Marxismus geglaubt; es war ein Irrtum gewesen.


D'accord.

Zitat von Zettel
Sie haben Recht; Solyanka ist die englische Transskription von Солянка. Ich lasse es aber stehen, als Zeichen meiner Unwissenheit.


Leicht assoziativ zum Thema "Transskriptionen": Ich habe nie verstanden, warum im Westen und jetzt in Gesamtdeutschland so eine ungenaue Populär-Transskription von russischen Namen gepflegt wird. Z. B. hieß es im Westen immer Breschnew, im Osten hieß es, wenn ich mich richtig erinnere, Breshnjew, was die richtige Aussprache von Брежнев viel genauer wiedergibt. Weiß jemand, warum das so ist?

Und zum PS: Lassen Sie sich Zeit. Ich werde erst mal auch keine Zeit zum Weiterdiskutieren haben, weil erst mal eine kleine Dienstreise nach Teneriffa ansteht. Die KrV nehme ich bestimmt nicht mit

Herzliche Grüße!
Herr

Ungelt ( gelöscht )
Beiträge:

04.10.2010 10:11
#12 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Zitat von Herr
Ich habe nie verstanden, warum im Westen und jetzt in Gesamtdeutschland so eine ungenaue Populär-Transskription von russischen Namen gepflegt wird. Z. B. hieß es im Westen immer Breschnew, im Osten hieß es, wenn ich mich richtig erinnere, Breshnjew, was die richtige Aussprache von ??????? viel genauer wiedergibt. Weiß jemand, warum das so ist?

Das hat mich auch schon beschäftigt, ich kann aber nur vermuten: In der DDR hatte man sich sicher wesentlich mehr Gedanken gemacht, wie denn die Transskription russischer Namen korrekt sein müßte. Schon um den großen Bruder nicht zu verärgern. Je komlizierter die Lösung ist, desto tiefer ist auch die Verbeugung.

Und im Westen war es dann eben das Gegenteil davon, das Nichteingehen auf irgendwelche sprachlichen/kulturellen Feinheiten ist ja auch ein Ausdruck von Desinteresse, auch von Verachtung, und in manchen Fällen wahrscheinlich durchaus gewollt. Sie kennen vielleicht auch diese Filmszene, in der ein "überlegener" Gesprächspartner den Anderen ständig mit unterschiedlich verstümmelten Versionen seines Namens anspricht.

Herzlich, Ungelt

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

04.10.2010 10:11
#13 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Zitat von Gansguoter
Als die Revolution 1989 begann, wurde das Thema in der Schule sofort aktuell. Ich erinnere mich an meinen Geschichtslehrer, der mit Tränen in den Augen Anfang Oktober '89 sagte: "Die DDR feiert ihren 40. Geburtstag, aber ihren 50. wird sie nicht mehr erleben." In der ersten Hälfte 1990 wurde dann im Geschichts-LK immer wieder auf die aktuellen Vorgänge (und den historischen Hintergrund dazu) eingegangen.



Diese Erinnerung kann ich aus meiner Sicht nicht bestätigen, lieber Gansgouter. Ich bin 1978 geboren, die Wendejahre fallen also in meine angehende Gymnasialzeit. Alles, was ich in dieser Zeit über die DDR gelernt habe, weiß ich von neuen Klassenkameraden, die nach der Wende rübergemacht hatten. Bei mir in der Klasse waren zwei Mädchen neu, eins aus Jena und eins aus "Karl-Marx-Stadt" (sie nutzte diese Bezeichnung aktiv). Interessant war in der Nachbetrachtung, wie die beiden ihr früheres Leben schilderten, die erste war wohl aus einem sehr bildungsbürgerlich-protestantischen Elternhaus und beschrieb vor allem die Schattenseiten des DDR-Schulsystems mit Appellen und Bestrafungen, während die andere sich wohl drüben ziemlich wohlgefühlt hatte und recht vergnügt berichtete, wo man mit dem eigenen Wartburg überall hingefahren ist.

Aber im Unterricht kam dazu eigentlich gar nix. Die großen Themen, zu denen aktuell diskutiert wurde, waren der erste Golfkrieg und dann die ausländerfeindlichen Anschläge wie Mölln und Hoyerswerda. Da wurde der Unterricht ziemlich überlagert. Aber zur Wende passierte nicht viel.

Gruß Petz

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

04.10.2010 12:04
#14 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Zitat von Gansguoter
Das Thema blieb uns aber reichlich abstrakt. Ansonsten wäre theoretisch im Geschichtsunterricht die DDR ein Thema gewesen; da der Geschichtsunterricht nur bis 1945 kam, blieb das Thema außen vor.

Lag es an der Lehrergeneration? Ich würde sagen, es war in meinem Fall - kirchliche Privatschule - nicht das Desinteresse der 68-Lehrerschaft, das man sich leicht vorstellen kann, sondern eher das Gefühl, das Thema habe sich "erledigt".


Und zwar, lieber Gansguoter, erledigt durch "Normalisierung", durch ein Sich-Abfinden. Diejenigen, die ein im Ganzen positives, ein jedenfalls nicht besonders negatives Bild der DDR zeichneten, hatten gesiegt.

1978 war ein bemerkenswertes Taschenbuch erschienen, über das ich in ZR einmal geschrieben habe:

Zitat
DDR 1978. Oder: Das Elend des Meinungsjournalismus; ZR vom 5.2. 2007


Darin wurden (schriftliche) Antworten von Schülern zu Fragen nach der DDR dokumentiert. Der Herausgeber und vor allem der Vorwort-Schreiber Dirk Sager, damals einer der bekanntesten TV-Journalisten, zeigten sich empört darüber, wie negativ das DDR-Bild der meisten Schüler war.

Nein, so sagten sie es natürlich nicht, sondern wie "unwissend" diese waren.

Dabei hatten die kritisierten Schüler damals noch ein deutlich realistischeres DDR-Bild als Dirk Sager und seine Genossen.

Herzlich, Zettel

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

04.10.2010 13:07
#15 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Zitat
Ein Buch nach Jahrzehnten wieder in die Hand zu nehmen ist oft eine interessante Erfahrung. Manchmal lese ich mich wieder fest und erliege zum zweiten Mal dem Zauber eines Textes.



Man kann statt "Buch" und "Jahrzehnte" auch "ZR-Artikel" und "Jahre" einsetzen, ohne dass sich die Aussage im Kern verändert.

Gruß Petz

Gansguoter Offline



Beiträge: 988

04.10.2010 14:16
#16 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Zitat
Können Sie sich vorstellen, dass das in der DDR und dann in den neuen Ländern als besonders erniedrigend empfunden wurde, wenn man, was einigen passiert ist, bei der Westreise oder kurz nach der "Wende" gefragt wurde: "Waren Sie schon mal in Deutschland"?



Natürlich kann ich mir das vorstellen und will das auch gar nicht gutheißen, und soweit ich mich erinnere, ist mir das auch nur 1991 als Jugendlichem passiert - froh, die schlechten Straßen, die heruntergekommenen Häuser, die mit flüssiger Butter übergossenen Kartoffeln, die "Fettbrote" etc. hinter mir gelassen zu haben. Damals waren die "neuen Länder ein vollkommen fremdes Land für einen wie mich. Dass diese Formulierungen auch später noch zu hören waren, berichte ich ja nur, um die festverwurzelten Denkmuster zu dokumentieren, wie weit man sich im Westen schon gefühlsmäßig von der DDR getrennt hatte - so weit, dass "Deutschland" auf die BRD beschränkt wurde.

Gansguoter Offline



Beiträge: 988

04.10.2010 14:18
#17 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Zitat
Diese Erinnerung kann ich aus meiner Sicht nicht bestätigen, lieber Gansgouter. Ich bin 1978 geboren, die Wendejahre fallen also in meine angehende Gymnasialzeit. Alles, was ich in dieser Zeit über die DDR gelernt habe, weiß ich von neuen Klassenkameraden, die nach der Wende rübergemacht hatten.



Ich beziehe mich ja ausdrücklich auf das Jahr 1990 und auch nur auf meinen Geschichts-LK mit einer höchst engagierten Lehrerin; sie und auch nur sie hat die aktuellen Ereignisse (Wahlen im Frühjahr 90, Währungsunion, 2+4-Vertrag etc.) immer historisch kommentiert und eingeordnet. Sonst spielt das keine Rolle, und auch bis heute ist DDR das Thema, das am ehesten "hinten runterfällt". Leider und fatalerweise.

Calimero Offline




Beiträge: 3.280

04.10.2010 15:16
#18 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Ein sehr interessanter Thread hier, da wir bisher ja meist die Besonderheiten der Ex-Zonis, also der Minderheit behandelt haben. Jetzt lerne ich auch mal die andere Seite außerhalb Zettels Vita kennen. Ich setze mal, als 1973 geborener, meine BRD-Bilder in blau dazu.

Zitat von Gansguoter
Also, das Bild von der DDR, das ich als Schüler bis 1989 hatte:


- Ein Land, das früher einmal zu "Deutschland" gehört hat (so, wie auch Schlesien früher mal zu Deutschland gehört hat)
In Westdeutschland gab es alles zu kaufen, sofern man nicht arbeitslos war. Es hatte mit der DDR nichts zu tun, sondern war ein anderes Land. Von Schlesien redeten nur die Alten. Schlesien liegt in Polen.
- An der Grenze ist eine Mauer, wo Leute erschossen werden, die das Land verlassen wollen
Das Land hinter der Grenze ist unerreichbar bis man Rentner ist.
- In diesem Land gibt es so etwas Komisches wie eine LPG, wo man nicht recht versteht, was das soll; mit den Bauernhöfen hier schien es doch ganz gut zu funktionieren
Die LPG war normal. Nicht vorstellbar, wie ein Bauer solche Felder und Stallanlagen nur mit seiner Familie bewirtschaften sollte.
- Offenbar ein armes Land, weil meine Großmutter von der Kirche aus hin und wieder Geschenkpakete an Leute dort geschickt hat, mit denen wir nicht verwandt waren; also offenbar so etwas wie eine Dritte-Welt-Land
Ein Land in dem es alles gibt, was im Fernsehen beworben wird ... aber immer droht die Arbeitslosigkeit.
- Im Austausch bekam ich über meine Oma von diesen Leuten Briefmarken aus der DDR; diese Briefmarken zeichneten sich durch mangelhafte Qualität aus, was beim Ablösen leicht deutlich wurde, wenn sich nicht nur die Gummierung, sondern die ganze Briefmarke auflöste
Hey, das Zeugs war total öko! Die Marken selbst bestimmt auch.
- Ein fremdes Land, denn man kannte kaum jemanden, der je dort gewesen war
Oh, man kannte seine Verwandten bis ins letzte Glied. Westbesuch oder Westpakete waren schließlich die absoluten Highlights.
- Politiker sprachen hin und wieder davon, dass es eine Vereinigung mit diesem Land geben sollte
Vereinigung mit Westdeutschland? Nie ein Thema. Das wäre ja wie eine Vereinigung von Feuer und Wasser. Zwei unabhängige Staaten vereinen? Unvorstellbar.
- Dieses Land wurde von einigen alten Männern regiert, über die beim Mainzer oder Kölner Karneval auch Witze gemacht werden konnten.
Westdeutschland wurde von Helmut Kohl regiert, über den sich selbst das eigene Fernsehen ständig lustig machte.
- Aus diesem Land DDR wurden wir von den "Russen" mit Atomraketen bedroht.
Der Ami bedroht uns von Westdeutschland aus mit Pershing 2 Raketen.

Beste Grüße nach drüben! ... Calimero

----------------------------------------------------
Wir sind alle gemacht aus Schwächen und Fehlern; darum sei erstes Naturgesetz, dass wir uns wechselseitig unsere Dummheiten verzeihen. - Voltaire

Gansguoter Offline



Beiträge: 988

04.10.2010 16:10
#19 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Lieber Calimero,

danke für die Gegenüberstellung - doppelt interessant, da wir gleicher Jahrgang sind!

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

04.10.2010 18:13
#20 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Zitat von Gansguoter
Meiner Ansicht nach ist die Vereinigung fast im letztmöglichen Moment gekommen. Die Bevölkerung der beiden deutschen Staaten hatte sich schon weit auseinandergelebt.


Beim "fast letztmöglichen Moment" stimme ich zu. Aber weniger in Hinblick auf die Bevölkerung. Allen Ihren Beschreibungen über den Informationsstand "im normalen Volk" stimme ich durchaus zu - aber trotz dieser Fremdheit war doch die Akzeptanz der Wiedervereinigung auch bei denen groß, die gar keine Verbindungen nach "drüben" hatten.

Aber wie Barbara sehe ich das "letztmöglich" bei den handelnden Spitzenpolitikern. Ein Kohl und ein Genscher haben sich mit hohem persönlichen Engagement daran gemacht, die Weichen schnell richtig zu stellen. Grundsätzlich nehme ich zwar auch beim heutigen politischen Personal bei CDU und FDP an, daß sie grundsätzlich für die Wiedervereinigung gewesen wären. Aber sie wären nur sehr begrenzt ins persönliche Risiko gegangen (ist überhaupt eine zu glatte, risikoaverse Generation, um in Krisen durchzustarten), das hätte zu Verzögerungen oder gar zum Scheitern führen können.

Und noch viel wichtiger: In der Opposition stand ein Willy Brandt bereit. Er hat mit diversen Anderen ebenfalls aufs Gas getreten, und ohne SPD wäre die Sache nicht gelaufen (alleine schon wegen der nötigen GG-Anpassungen). Willy Brandts entschlossenes Auftreten 1989/1990 (eigentlich war er ja schon fast abgemeldet, und dann plötzlich war er wieder der zentrale Akteur bei der SPD) rechne ich ihm als politische Lebensleistung höher an als seine ganze Kanzlerzeit.

Wäre die Chance zur Wiedervereinigung nur einige Jahre später gekommen, dann hätten Lafo, Schröder und Genossen den Vorgang sabotiert, bis die Möglichkeit weg gewesen wäre.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

04.10.2010 18:20
#21 RE: Sommer 1990 im Osten, im Westen Antworten

Zitat von Gansguoter
Ansonsten wäre theoretisch im Geschichtsunterricht die DDR ein Thema gewesen; da der Geschichtsunterricht nur bis 1945 kam, blieb das Thema außen vor.


Und das ist heute leider noch völlig genauso.

Ganz frisch: Meine Tochter war letzte Woche mit ihrer 11. Klasse auf der traditionellen Berlin-Fahrt. Wie schon viele Jahrgänge vor ihr ...

Zum Besuchsprogramm gehörten u. a. der Reichstag, ein KZ-Besuch - und immerhin die Gedenkstätte Hohenschönhausen.

Allgemeiner Kommentar der Schüler: Hohenschönhausen wäre deutlich der interessanteste Programmpunkt gewesen. Denn Nazizeit und KZs hätten sie ja schon jedes Jahr wieder in irgendwelchen Fächern durchgenommen. Aber noch nie etwas über die DDR oder gar die StaSi-Verbrechen gehört - das wäre nun wirklich neu und spannend gewesen.

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