Hallo. In diesen Thread soll es um ein bekanntes, aber selten thematisiertes Phänomen gehen.
Nehmen wir als Beispiel George Orwell, seine Romane "1984" und "Die Farm der Tiere" kann als musterbeispiel für literarische Kritik an der Sowjetunion und ihren Kommunismus betrachtet werden. Sogar des Kommunismus überhaupt. Dennoch war George Orwell keineswegs ein Liberaler oder Konservativer, sondern sah sich selbst Kommunist oder zumindest Sozialist. Er stand Trotzki nahe, war aber wahrscheinlich kein "Trotzkist".
Ferner, etwas kontroverser, könnte man in Deutschland die "Antideutschen" dazu zählen, die auch weiterhin politisch Links bleiben, aber in Sachen "Imperialismustheorie" andere Ansichten vertreten.
Nun meine Frage: Wie kann man diese Haltung bezeichnen? Und wie sollte man sie einordnen? Gibt es sowas auch "andersrum"?
Ich weiß es auch nicht, aber dieser Thread scheint mir passend, um auf eine interessante Debatte innerhalb des linken Mainstreams aufmerksam zu machen, die anlässlich des Tages der deutschen Einheit in der taz aufgekommen ist. Es geht um diesen Artikel, der aus linker Sicht die deutschen "Leistungen" bejubelt:
Zitat Deutschland hat sich von der Arschgeige der Staatengemeinschaft zum Nachhilfelehrer in Sachen Demokratisierung entwickelt. Unsere Großväter mordeten und ließen sich lieber erschießen, als Demokraten zu werden; unsere Mütter haben die 68er erst 98 verstanden. Aber heute sind wir deutschen Demokratie-Spätzünder zu einem Land geworden, das so oft auf der Seite der Guten steht, dass schon eine Enthaltung wie bei der Libyenresolution einen Aufschrei auslöst. Irgendwie gehen alle davon aus, dass Deutschland immer das Richtige mit den Richtigen tut. In der Eurokrise dürfen sich alle anderen Länder nationalen Eigensinn erlauben. Bei uns wird derartiges Verhalten von den Wählern mit 1,8 Prozent für die FDP abgestraft. Das ist doch schon mal was.
Auch sonst hat Schwarz-Rot-Gold eine Menge angenehmer Schattierungen: Deutschland ist reich, aber nicht geizig: Wir spenden hohe Millionenbeträge für Erdbebenopfer und Greenpeace, wir zahlen brav in alle UN-Töpfe. Deutschland ist ein ziviles Land, in dem das Militär gesellschaftlich kaum eine Rolle spielt - wie anders ist das in den USA, Frankreich oder Russland. Deutschland reflektiert so sehr über seine eigene Geschichte, dass praktisch auf jedem Gedenkstein ein hingespraytes "Denk mal!" steht und eine Sendung namens "Hurra Deutschland!" nur eine Satire sein kann.
Deutschland ist so liberal, dass es von einer kinderlosen Frau in zweiter Ehe, einem Rollstuhlfahrer, einem bekennenden Schwulen und einem vietnamesischen Bootsflüchtling regiert wird. Deutschland ist so sicher, dass Berichte über "No-go-Areas" noch für Schlagzeilen sorgen. Deutschland ist so mutig, dass es gleichzeitig aus der Atomkraft und der Kohle aussteigen will, ohne zu wissen, woher der Strom kommen soll. Deutschland ist eine offene Gesellschaft mit Qualitätsmedien für die politische Hygiene, mit politischen Stiftungen und einer lebendigen Szene von Bürgerinitiativen und NGOs und mit einem breiten Konsens in Fragen wie Energiepolitik, Mindestlohn oder Militäreinsätzen.
So weit hätte der Artikel auch in Zettels Thread zur Bionade-Bourgeoisie gepasst. Alle linksgrünen Errungenschaften "made in Germany" , die unsere dummen Nachbarn nicht haben, werden trotzig aufgelistet. Interessant wird es aber, wenn man in die Leserkommentare schaut: Die Reaktionen sind ungefähr hälftig aufgeteilt zwischen uneingeschränkter Zustimmung und heftigen Beschimpfungen:
Zitat Wenn ich diesen merkwürdigen Artikel richtig verstehe, dann ist die Aussage: Alle Länder sind ganz schrecklich, es lebt sich nur in Deutschland gut. Soll das ein statement für ein vereintes Europa sein? Hatten wir so eine Einstellung nicht schon einmal? Am Deutschen Wesen soll die Welt genesen... Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt ... Führer befiel, wir folgen... Dieser Artikel ist eine einzige, unglaublich und unsägliche Hetze gegen alle Länder Europas und die dort lebenden Menschen und darüber hinaus. Wie eklig dieser Schreiberling
Zitat Am deutschen Wesen soll die Welt genesen, oder wie? Entschuldigung aber, der Herr soll doch bitte, mit Deutschland zusammen, einfach mal das Maul halten! Das ist ja wirklich große kotzescheiße sowas zu schreiben... Und dann auf so einem Kindergartenniveau á la die anderen sind doch viel schlimmmer... Na das hält er bestimmt für adressatengerechtes Schreiben. Die Leser_in da abholen, wo sie stehen. Dabei steht er selber mit beiden Beinen in der selbstgefälligen Mittelschicht und holt jede_n mit solchem Geseier nur dahin
Zitat Denn am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Bernhard Pötter hätte '33 sicherlich ganz vorne mitgemischt.
Die Frage ist, welche Seite vertritt nun die Renegaten? Ich denke, dass die Linke sich durch die Bank von dem, was man früher einen "festen Klassenstandpunkt" nannte, endgültig verabschiedet hat und sich als Mittel zur Verdrängung der offenbar werdenden Widersprüche selbst zerreißt. Das Paradox liegt darin, dass in einer sozialdemokratisierten Gesellschaft die eigenen Errungenschaften nicht gelobt werden können, ohne in die Patriotismusfalle zu tappen. Dass in einer deindustrialisierten Gesellschaft die Arbeiterklasse sich aufgelöst hat und vom ausufernden öffentlichen Dienst ins Schweinesystem integriert worden ist. Dass in einer pazifistischen Gesellschaft jede revolutionäre Rhetorik sofort vor der Gewaltfrage kapitulieren muss, bzw. die Gewalt nur als verurteilenswerte Folge des Systems bezeichnen kann, aber nicht mehr als legitimes Mittel zu dessen Beseitigung. Dass in einer uniform grünen Gesellschaft der Atomausstieg verwirklicht worden ist, nagt an der selbst empfundenen Alternativlosigkeit. Es fehlt, wenn man so will, an konkret wahrnehmbaren Feindbildern im Alltag der Linken, vor allem auf Seiten des Staates. Die Bullen lassen sich nicht mal nach heftigster Provokation auf eine Schlägerei ein. An das bevorstehende 4. Reich glaubt keiner mehr. Deshalb muss man Popanze aufbauen (Israel, Banken, Konzerne, Papst, je weiter weg um so besser), um überhaupt noch ein gemeinsames Betätigungsfeld zu finden. Und was passiert? Westerwelle kuschelt mit den Palis, die Occupy-Bewegung findet Sympathie bis hinein in die FDP, und Merkel besteht in Brüssel auf die Finanztransaktionssteuer.
Die Linke hat sich zu Tode gesiegt, und weil niemand mehr da ist, den man auffressen kann, frisst man sich entweder gegenseitig auf oder macht es sich (wie der Autor des Textes) in der Bionadebourgeosie bequem. Die einzige Frage, die es noch zu beantworten gilt, ist: Wieso ist man in weiten Teilen so blind dafür, was mit einem selbst und um einen herum passiert?
Ist es denn so besonders, dass sich gerade die Extremen besonders gerne aufspalten? Wer besonders reine Lehren mag, wird auch immer dazu neigen, noch hehrer und reiner in seinen Ansichten zu werden und Abweichungen davon besonders energisch zu bekämpfen. Und wenn es dann dabei trotz einen gemeinsamen Ausgangspunkts irgendwann zu Verästelungen kommt, weil man sich nicht einig ist, in welche Richtung man noch hehrer und reiner werden muss, dann bilden sich eben diese Sekten.
Nehmen wir z.B. den Antisemitismus. Es war mal linker Konsens, diesen für besonders verwerflich zu halten. Aber man begann, sich in der Analyse seiner Gründe uneinig zu werden. Für die einen ist die Ursache natürlich vor allem eine ökonomische. Es sind die Produktionsverhältnisse, die in ihrer finalen Ausprägung als Imperialismus quasi zwangsläufig zu solchen Unmenschlichkeiten führen. Vertreter dieser Richtung erkennen aber entsprechend ihres Musters auch den Staat Israel als imperialistisch, was ein entschiedenes Eintreten für die Palästinenser zur Folge hat. Andere geißeln die Produktionsverhältnisse zwar auch, ziehen zur Erklärung des Antisemtismus und der Judenverfolgung aber vor allem den antinationalistischen Impetus der Linken heran, der dann in seiner spezifischen deutschen Ausprägung verantwortlich gemacht wird, während der eben durch den Kapitalismus vorangetriebene Internationalismus ("Globalisierung") in Form des Vorreiters USA als "Weißer Ritter" dargestellt wird. In der marxistischen Analyse wird der Kapitalismus ja durchaus auch als notwendiger Fortschritt verstanden, weswegen die "Antideutschen" in der Kapitalismus- und USA-Kritik ihrer Antipoden vor allem antisemitische Muster entdecken.
Je nachdem, wo man entlang der Weggabelung hehrer und reiner wird, in der Imperialismustheorie Lenins oder der Ablehnung des Antisemitismus, sucht man sich dann eben seine passende Sekte.
-- L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)
Zitat von RaysonNehmen wir z.B. den Antisemitismus. Es war mal linker Konsens, diesen für besonders verwerflich zu halten. Aber man begann, sich in der Analyse seiner Gründe uneinig zu werden. Für die einen ist die Ursache natürlich vor allem eine ökonomische. Es sind die Produktionsverhältnisse, die in ihrer finalen Ausprägung als Imperialismus quasi zwangsläufig zu solchen Unmenschlichkeiten führen.
Ganz so simpel scheint mir der Widerspruch nicht angelegt zu sein. Schließlich argumentieren einige "Antideutsche" auch damit, dass die Globalisierung ("globaler Kapitalismus") notwendig ist, um zur Weltrevolution ("globaler Kommunismus") zu kommen. Und politische Richtungen wie der Neokonservativismus erfreuen sich grade unter "nicht linken" Pro-Westlern einiger Sympathien.
Was mich nach einigen nachdenken doch überrascht, ist, wie relativ jung solche Ideen wie die Imperialismustheorie eigentlich noch sind. Selbst noch zur Zeiten der Weimarer Republik war sie extrem umstritten und in der SPD gibt es bis heute Strömungen, die genauso alte Rechte an den Ideen des Kommunismus in Anspruch nehmen könnten wie Marx.
Zitat von JohanesGanz so simpel scheint mir der Widerspruch nicht angelegt zu sein. Schließlich argumentieren einige "Antideutsche" auch damit, dass die Globalisierung ("globaler Kapitalismus") notwendig ist, um zur Weltrevolution ("globaler Kommunismus") zu kommen.
Richtig. Deswegen gehe ich vom nächsten Satz an auch darauf ein. Was für einen Sinn es haben soll, mein Zitat so zu verkürzen, erschließt sich mir nicht so unmittelbar. Muss ich gestehen.
Zitat von JohanesUnd politische Richtungen wie der Neokonservativismus erfreuen sich grade unter "nicht linken" Pro-Westlern einiger Sympathien.
Sie erfreuen sich der Sympathien fast ausschließlich unter ehemaligen Linken, die heute als "Pro-Westler" firmieren. Wer in seinem politischen Leben nie links war, wird auch kein guter Neocon.
-- L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)
Zitat von RaysonRichtig. Deswegen gehe ich vom nächsten Satz an auch darauf ein. Was für einen Sinn es haben soll, mein Zitat so zu verkürzen, erschließt sich mir nicht so unmittelbar. Muss ich gestehen.
Ich zitiere:
Zitat von RaysonAndere geißeln die Produktionsverhältnisse zwar auch[...]
Kann man wirklich von "geißeln" reden, wenn der temporäre Sieg des Kapitalismus als Durchgangsstadium geduldet wird?
Zitat von Rayson
Zitat von JohanesUnd politische Richtungen wie der Neokonservativismus erfreuen sich grade unter "nicht linken" Pro-Westlern einiger Sympathien.
Sie erfreuen sich der Sympathien fast ausschließlich unter ehemaligen Linken, die heute als "Pro-Westler" firmieren. Wer in seinem politischen Leben nie links war, wird auch kein guter Neocon.
Einige heutige Liberal(-konservative) waren vorher mal links. Aber von Neocon selbst habe ich in Deutschland bisher nur selten gehört.
Zitat von Johanes im Beitrag #9Die moderne Konsumkritik als säkularisierte Form der Askese.
Das ist nett: "Ihre öffentlichen Äußerungen klingen häufig wie alte Sonntagspredigten und Jeremiaden protestantischer Landpfarrer - und möglicherweise sind es auch Strukturen eines ruralen Pietismus, die hinter Verzichtsaufrufen und empörten Wortverboten stecken. Da fehlt oft nur noch der Zusatz "Wasch dir den Mund mit Seife aus!" Vor allem Aufrufe und Pressemitteilungen wirken in ihrer mit soziologischen Phrasen durchmischten Einfalt häufig so sinnfrei wie Gebete."
"Wir-Imperativ für die gesamte Menschheit" .... "die eigene moralische Höherwertigkeit gegenüber dem anderen"
Zitat von JohanesUnd politische Richtungen wie der Neokonservativismus erfreuen sich grade unter "nicht linken" Pro-Westlern einiger Sympathien.
Sie erfreuen sich der Sympathien fast ausschließlich unter ehemaligen Linken, die heute als "Pro-Westler" firmieren. Wer in seinem politischen Leben nie links war, wird auch kein guter Neocon.
Legen Sie viel Wert auf dieses "nie"? . Einer der klassischen Syllogismen der Scholastik bezog sich auf die Nichtexistenz von schwarzen Schwänen. Mit der Beschreibung der Flora Australiens avancierte diese vorschnelle a priori-Setzung zum Musterbeispiel eines Fehlschlusses auf ungenügender Datenbasis. Bislang war mir von eigener ex-linker Grundierung nichts bekannt (allerdings ist dieses Selbsturteil erfahrungsgemäß dadurch korrigierbar, daß man die Vergangenheit mittels Dialektik oder Psychoanalyse lang genug schrubbt). Es gibt-&-gab zwar einige Neokonservative, die aus einem ausgesprochenen "K-Gruppen-Milieu" entlaufen sind - Christopher Hitchens, der sich bei aller Deckungsgleichheit im Inhaltlichen daher zeitlebens das "neoconservative"-Etikett verbeten hat; für Teile der "Gründungsgeneration" in den USA gilt das ebenfalls (aber nur für Teile: für Irving Kristol & Gertrude Himmelfarb z.B. nicht); für die "Nach-68er" dürfte das keine bedeutende Rolle spielen (& wo doch, kann man darauf schließen, daß hier jemand durch die harte Konfrontation mit linker Traumtänzerei bitteres Lehrgeld bezahlt hat). Es stimmt aber: zum Neocon wird man erst, man wird nicht in diese Position hineingeboren (das ist wie beim ernsthaften Atheismus). Die Bezeichnung deckt auch ein ziemliches Feld ab: da finden sich sowohl Libertäre wie Ayn-Rand-Anbeter (nicht alle neocons sind Anhänger des starken Staats oder gar "Interventionisten"). Worauf sich die meisten wohl einigen könnten: während der "Paläokonservatismus" sich eher von der Richtschnur der "traditionellen" Werte, handelsüblicherweise Religion, Staat, Familie herleitet, stehen die neocons diesen Tragsäulen eher zweifelnd bis gleichgültig gegenüber: R. & F. kommen vor, sollten aber nicht als eisernes Fundament in der eigenen Weltsicht verbaut werden, sondern strictissime privat bleiben. Aber immerhin haben Sie mich auf 1 Idee gebracht, welches Wappentier ich mir zum Avatar küren könnte...
PS. Als allgemeine Richtschnur: was fühlt sich, hierzulande & von gewisser Bekanntheit, "neokonservativ an"? Während der letzten 15-20 Jahre durchweg der "Merkur" unter der Ägide Karl Heinz Bohrers (ob sich das unter der neuen Herausgeberchaft ändert, bleibt noch abzuwarten); vieles von dem, was auf AchGut aufscheint.
PPS: weitere Wegmarken zur Vermessung der Grafschaft Neokonservenberg. Aus dem Wilden Westen: das Umfeld des Cato Institute, besagter Hitchens (der ja Kissinger wegen Kriegsverbrechen vor den Kadi ziehen wollte; 1 Pfaffenfresser von Graden), Niall Ferguson (die Imperiale Schiene), Francis Fukuyama (1 unsicherer Kantonist), Ayaan Hirsi Ali, Tom Wolfe, P, J. O'Rourke; aus dem Milieu "tech geeks/eco-nerds": Kevin Kelly & Stewart Brand; Frank Furedi, Theodore Dalrymple, Pat Condell.
Zitat von Johanes im Beitrag #1Nehmen wir als Beispiel George Orwell, seine Romane "1984" und "Die Farm der Tiere" kann als musterbeispiel für literarische Kritik an der Sowjetunion und ihren Kommunismus betrachtet werden. Sogar des Kommunismus überhaupt. Dennoch war George Orwell keineswegs ein Liberaler oder Konservativer, sondern sah sich selbst Kommunist oder zumindest Sozialist. Er stand Trotzki nahe, war aber wahrscheinlich kein "Trotzkist". [...] Gibt es sowas auch "andersrum"?
Dieses Herkommen ist typisch bei vielen der "Renegaten": Sie können aus Arthur Koestler nehmen, Leszek Kolakowski, Czesław Miłosz oder Manès Sperber, auch Vaclav Havel (bei Solschenizyn liegt der Fall, wie bei vielen "unter diesem Dach Aufgewachsenen", noch ein wenig anders). Zwei Dinge: zum einen gibt es bei den literarischen Klassikern, zumal in Romanform, also den Dystopien "mit Bestand" einen bias: wir beziehen uns naturgemäß auf die Werke, die Bestand gehabt haben: "1984", "Brave New World", Samjatins "Wir". Es gibt ja durchaus vehemente Antiutopien von Autoren, die nie von den jeweiligen utopischen Versprechen mitgerissen worden waren: Milo Hastings "City of Endless Night" oder Ayn Rands "Anthem": samt & sonders vergessen; bei den "Renegaten" mag hineinspielen, daß sie das System von innen her kannten; daß sie die Lähmung, den Verrat an den Idealen, selbst erfahren hatten. Sie kritisierten nicht von der Warte eines anderen Systems aus, sondern gewissermaßen "vorbehaltlos", aus der elementaren Vergewaltigung der menschlichen Natur heraus, nicht weil der ererbte Glaube abgelehnt wurde. 2) Vielleicht auch, daß diese Bücher zwar bitter, aber durchaus komisch sind: bei "1984" bleibt einem das Lachen im Hals stecken & wandelt sich in Entsetzen, aber es ist da; "Brave New World" ist über weite Strecken ein sehr komisches Buch (Huxley saß ja direkt an der Quelle der Entstehung des "Neodarwinismus" & hatte viele der eugenischen Visionen der 20er Jahre geteilt).
* Als "prophetische Leistung" ist "Anthem" (1936) insofern bemerkenswert, indem dort eine Ausprägung der Entwertung des Einzelnen vorausgesehen wird, die selbst das Orwellsche Neusprech nicht sah. Im Buch wird den "menschlichen Ameisen" der Gebrauch des Personalpronomen "Ich" ausgetrieben: wir dürfen uns das nie herausnehmen. Westliche Berichterstatter nach der Vertrebung Pol Pots waren erstaunt, daß viele Kambodschaner zu zweit auf sie zukamen: "Sie sind Westler? Mein Freund hätte gerne eine Zigarette"; wonach Freund 2 dann für Freund 1 darum bat; für sich selbst etwas zu erbitten, war in den Augen von Angkar ("der Partei") ein todeswürdiges Verbrechen gewesen.
Zitat von Johanes im Beitrag #1Dennoch war George Orwell keineswegs ein Liberaler oder Konservativer, sondern sah sich selbst Kommunist oder zumindest Sozialist. Er stand Trotzki nahe, war aber wahrscheinlich kein "Trotzkist". [...] Ein anderes Beispiel aus den USA wären die sog. "Neokonservativen": http://de.wikipedia.org/w/index.php?titl...alten_Linken.29
Ferner, etwas kontroverser, könnte man in Deutschland die "Antideutschen" dazu zählen, die auch weiterhin politisch Links bleiben, aber in Sachen "Imperialismustheorie" andere Ansichten vertreten. [...]
"Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche." (F. W. Bernstein)
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #12Sie kritisierten nicht von der Warte eines anderen Systems aus, sondern gewissermaßen "vorbehaltlos", aus der elementaren Vergewaltigung der menschlichen Natur heraus, nicht weil der ererbte Glaube abgelehnt wurde.
Vorbehaltlos sind sie damit eben nicht. Sie kritisieren eher von der Ausgangsbasis der Utopie selbst aus und beleuchten sie dabei besonders dunkel. Das wirkt natürlich für Anhänger oder noch Unentschiedene umso eindrucksvoller.
Das bestätigt aber noch mehr die Existenz von "Renegaten".
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