Es erscheint mir fruchtbar, in Generationen zu denken. Vieles am politischen Geschehen, an gesellschaftlichen Entwicklungen versteht man besser, wenn man sich klarmacht, mit welchen prägenden Erfahrungen die jeweiligen Akteure aufgewachsen sind. Die Rebellion der Achtundsechziger, also der Nachkriegsgeneration, hatte aus meiner Sicht beispielsweise ihre zentrale Ursache darin, daß diese Generation eine Wirklichkeit vorfand, auf welche die Werte ihrer Eltern nicht mehr paßten.
Frank Schirrmacher hat sich jetzt die nachfolgende Generation vorgenommen, diejenige der Babyboomer. Dazu einige Anmerkungen.
Es sieht ganz so aus, dass Zettel bei seiner Betrachtung ein schwerer Fehler unterlaufen ist. Die Eltern von "Thomas" waren keineswegs die linken, antiautoritär erziehenden 68er, sondern die betont unpolitische Nachkriegsgeneration. Die Kinder der 68er, also die "Generation Golf" kam erst später.
Zitat von ZettelFrank Schirrmacher hat sich jetzt die nachfolgende Generation vorgenommen, diejenige der Babyboomer. Dazu einige Anmerkungen.
Bisher hatte ich mir eingebildet, dass ich das Wesentliche eines Textes nach zweimaligen Durchlesen erfassen könnte, bei Schirrmacher gelingt es noch nicht einmal im fünften Anlauf. Vielleicht liegt es daran, dass ich zur Post-Babyboomer-Generation gehören, die mit Schirrmachers Weltschmerz, der schon seit einigen Jahren andauert, nicht anfangen kann. Es mag auch sein, dass ich zu jung bin, um in Generationen zu denken, die eigene Generation vor Augen, so heterogen, dass mir bisher noch kein Überbegriff eingefallen ist. Ich habe dafür aber auch noch keine Veranlassung gesehen, Kategorien liegen mir fern, auch für die Vorgängergenerationen.
Schirrmachers Welt zirkuliert um die politische Elite, oder auf die Spitze getrieben, die Elite der Elite, die für ihn "die Generation" darstellt, er ertappt sich selbst dabei, dass er zu weit geht, um erst recht Fahrt aufzunehmen.
Zitat von SchirrmacherJa, es ist ungerecht, den Einzelnen für seine Generation verantwortlich zu machen, einfältig oft und gezwungen. Aber umgekehrt, das ist möglich: Man kann eine Generation für den Einzelnen zur Rechenschaft ziehen.
Das ist vielleicht für Schirrmacher möglich, ich kann es einfach nicht nachvollziehen, seine Begründung ist leer, sein marktkritischer Ansatz so wohlfeil wie falsch. Ich empfinde es als wohltuend, wenn politische Leistung im Unterlassen liegt, der Markt wird es regeln.
Wenn sich Schirrmacher die Zeit nehmen würde, sich mit den Kollegen vom Wirtschaftsteil der FAZ zusammensetzen, um sich erklären zu lassen, was "der Markt" wirklich ist, dann könnte er weitaus entspannter leben.
Zitat von jukaDie Eltern von "Thomas" waren keineswegs die linken, antiautoritär erziehenden 68er, sondern die betont unpolitische Nachkriegsgeneration. Die Kinder der 68er, also die "Generation Golf" kam erst später.
Genau das wollte ich auch schreiben, nicht nur als "Betroffener" (Jahrgang 60, zweiter Vorname Thomas ;-)
Bei den jüngeren Lehrern gab es einige, die unsere Generation als zu "unpolitisch" kritisierten (so politisch wie die Schüler 10 Jahre vorher konnte man aber auf Dauer auch nicht sein). Von "konsumorientiert" war aber noch wenig die Rede. Das kam einige Jahre später ganz schwach mit den "Poppern", die waren aber nur eine Randgruppe.
Zitat von C. dann könnte er weitaus entspannter leben.
Es gibt da die apokryphe Anekdote vom Regisseur oder Schriftsteller (Hitchcock wars nicht, aber er hätte es sein können), der zum Psychiater sagte: "Doktor, nehmen Sie mir nicht meine Angst - sie ist mein ganzes Kapital!" Andererseits hat die Vorstellung vom Herrn Schirrmacher beim Blick in den Wirtschaftsteil einen eigenen Reiz: Schirrmacher, der einen gewissen Typus der deutschen intellektuellen Tradition nahezu in Reinform verkörpert (im 19. Jahrhundert waren das die Leser von Ernst Haeckel), ist als Ressortchef angetreten, um das Spektrum der Kulturkritik dort um mathematischen und naturwissenschaftlichen Zeitgeist (oder was er dafür hielt) auszuweiten. Als er merkte, daß er davon nichts verstand, ist er peu à peu auf den klassischen Kulturpessimismus zurückgekommen. Daß er sich mittlerweile aus dem rhetorischen Fundus des Klassenkampfs bedient, dürfte letztlich nicht viel zu besagen haben: als Steinbruch bieten sich da die älteren Bände der bibliothek suhrkamp an (so von Lukacz bis Ernst Bloch), mit denen die Büros der F.A.Z. sicher gut bestückt sind. Im Grunde geht es ihm, scheint mir, eher um das freischwebende Jonglieren mit Zündbegriffen, so wie Walter Benjamin sich aus dem Fundus des Marxismus bediente und diese eigentlich ziemlich eindeutige Kampfrhetorik in wolkiges Geraune ummünzte. Adorno hat das dann so gedreht (Stichwort: "negative Dialektik"), daß jedes Optieren für Richtung & Eindeutigkeit schon einen Verrat an der Sache darstellt; von daher bleibt dann nur das "Nichteinverstandensein mit den Verhältnissen" (vulgo: "mir ist so mies") als Legitimation.
ich halte von dieser Art Nabelschauen recht wenig, da übertragen offensichtlich orientierungslos gewordene Publizisten die Leere ihrer Gedanken auf ihre Generation. Vielleicht liegt es ja auch nur an der Berufswahl, wer in einem technischen oder naturwissenschaftlichen Bereich arbeitet hat vielleicht etwas festeren Boden unter den Füßen. Ich decke mit meinen Geschwistern (und damit Schwagern, Bekanntenkreisen) die Geburtsjahrgänge 1950 bis 1970 ab (die Eltern waren immer dieselben) und kann Schirrmachers Nabelschau aus persönlicher Erfahrung nicht bestätigen. Abgesehen davon scheint Schirrmacher entgangen zu sein, dass ein bekannter spektakulärer Fall des Vom-Acker-Machens, ein Herr Lafontaine, nicht gerade in seine Kategorie 'Babyboomer' passt.
Ob Konsumgesellschaft oder nicht, wenn ich ein Merkmal nennen müsste, das sich in den letzten 50 Jahren verändert hat, dann ist es der Verlust klarer, überschaubarer Strukturen, die nun einer großen Beliebigkeit Platz gemacht haben. Und sicher waren es die 68er, die diesen Weg eingeleitet/forciert haben, und Nachfolgegeneration, die das begierig aufgenommen hat. Nun beschleichen einige dieser Repräsentanten die Zweifel, ob das denn alles so gut ist: Zerfallende Familienstrukturen, im Rampenlicht stehendes Führungspersonal, das Ehefrauen schon fast im regelmäßigen Zyklus durch neue ersetzt, und vielleicht tatsächlich auch Führungspersonal, das sich nach Erreichen von Versorgungsansprüchen schnell aus dem Staub macht, Wulff's Scheitern war ja wohl der Anlass des Beitrags. Und zu allem wurde die jeweils passende Rethorik geliefert. Also einfach ein moralischer Zerfall, der so langsam ins Bewusstsein dringt, gepaart mit dem Gefühl der Ohnmacht, dies irgendwie wieder korrigieren zu können?
Natürlich experimentiert man kontinuierlich an den Symptomen, vergrößert aber nur die Orientierungslosigkeit. Das Ausbildungssystem ist ein ganz gutes Beispiel. Wer politisch kann, versucht dort zu verschlimmbessern, was nur geht. Lehnt man sich aber mal zurück und stellt die Frage, aus welchem Schulsystem heraus die Grundlagen unseres heutigen Wohlstands geschaffen wurden, man müsste eigentlich an dem ganzen Aktionismus zweifeln. Und wenn sich etwas ältere Lehrer der Baby-Boomer-Generation aus dem chaotischen System so früh wie möglich verabschieden, dann würde ich den Grund nicht unbedingt in deren schlechter Arbeitsmoral suchen.
Zitat von jukaEs sieht ganz so aus, dass Zettel bei seiner Betrachtung ein schwerer Fehler unterlaufen ist. Die Eltern von "Thomas" waren keineswegs die linken, antiautoritär erziehenden 68er, sondern die betont unpolitische Nachkriegsgeneration. Die Kinder der 68er, also die "Generation Golf" kam erst später.
"Generationen", lieber juka, sind ja immer eine im Grunde fiktive Konstruktion. Kinder werden ja immer geboren und nicht sozusagen in Schüben.
Wenn man von einer Generation spricht und sie mit bestimmten Merkmalen belegt, dann stützt man das meist darauf, daß es über eine bestimmte Zeispanne ähnliche Erfahrungen, eine ähnliche Umwelt und damit ähnliche Verhaltensmuster gibt. Helmut Schelsky hat zum Beispiel von der "Skeptischen Generation" gesprochen; das waren die jungen Kriegsheimkehrer und diejenigen, die den Krieg vielleicht noch als Flakhelfer oder beim "Volkssturm" erlebt hatten.
Also, man schafft zum Zweck der Analyse Kategorien, wo es in Wahrheit immer gleitende Übergänge gibt.
Der Thomas in meiner Fiktion ist 1963 geboren. Wenn ich das weiter hätte ausspinnen wollen, dann hätte ich geschrieben: Sein Vater war 1940 geboren; im selben Jahr wie Rudi Dutschke, und hieß zufällig auch Rudi. Als Thomas zur Welt kam, war sein Vater 23. Vier Jahre später, mit 27, organisierte er in Frankfurt Studentendemonstrationen usw.
Nun können Sie natürlich zu Recht sagen: Aber es gab auch 68er, die waren jünger als Dutschke, vielleicht erst 1948 geboren. Und Schirrmacher läßt die Babyboomer schon 1955 beginnen. Da wäre der Vater von Thomas also sieben Jahre gewesen, als dieser zur Welt kam ...
Aber so ist das immer mit dem Konstrukt der Generation. Wenn man an bei einer Generation an die obere und bei der nachfolgenden an die untere Grenze geht, dann gibt es keinen Abstand von "einer Generation" mehr.
Nehmen Sie vielleicht das Beispiel der Farben. Der Farbe Grün entspricht Licht von einer Wellenlänge von ungefähr 530 Nanometer, der Farbe Gelb Licht von einer Wellenlänge von ungefähr 570 Nanometer. Es gibt also eine Differenz von rund 40 Nanometer. Aber der Übergang ist fließend. Es gibt eine Wellenlänge, bei der man die Farbe ebenso als ein grünliches Gelb wie als ein gelbliches Grün bezeichnen kann.
So ist es auch mit den Generationen. Sie "folgen" eigentlich nicht aufeinander, sondern sie gehen ineinander über. Der Letzte der Achtundsechziger war sozusagen genauso alt wie der Erste der Babyboomer.
Danke für Ihren Einwand, der mir erlaubt hat, das nachzutragen!
Zitat von ZettelSo ist es auch mit den Generationen. Sie "folgen" eigentlich nicht aufeinander, sondern sie gehen ineinander über. Der Letzte der Achtundsechziger war sozusagen genauso alt wie der Erste der Babyboomer.
Es ist ja nicht nur das, lieber Zettel, was die Zusammenfassung zu einem Generations-Kollektiv so fragwürdig erscheinen lässt. Gerade die Einstellungen von Menschen hängen doch auch noch von sehr vielen anderen Bedingungen ab, also tatsächlich dem Alter und dem Status der Eltern, oder dem Milieu, in dem sie aufgewachsen sind.
Als jemand, der vom Alter her genau ins Schema passen müsste, kann ich mich und viele meiner mir bekannten Altersgenossen daher zu großen Teilen nicht in deiner kleinen Skizze wiederfinden. Richtig ist, dass die Schlachten der 68er weitestgehend geschlagen waren, als wir in die Schule kamen, so dass wir dort (natürlich später am Gymnasium) tatsächlich zu Kritik ermuntert statt zum Gehorchen verdonnert wurden. Aber abgesehen davon, dass meine Eltern älter als die 68er waren, sie hatten auch weder das Geld noch den Willen, mir jeden (materiellen) Wunsch zu erfüllen. "Klamotten" oder Statussymbole überhaupt waren bei unsereins überhaupt kein Thema, wir sind praktisch die ganze Schulzeit mit Parka und Jeans ausgekommen. Konsum war als Begriff und Handeln eher verpönt, wir dünkten uns der tumben Masse (nicht nur in dieser Hinsicht) überlegen.
Rauschgift war vielleicht zu haben, wurde aber von 90% gemieden. Für Politik interessierte sich tatsächlich nur eine Minderheit, aber erstens ist das in keiner Generation anders und zweitens war sie nicht allzu klein, außerdem wurde sie von den Lehrern ermutigt und gefördert. Immerhin war der Ost-West-Konflikt noch reale Bedrohung, und als gegen Ende meiner Schulzeit die Nachrüstungsdiskussion hochkochte, berührten die von linker Seite ausgemalten Horrorszenarien (ebenso wie bei der Kernenergie) viele Menschen sehr emotional. Es waren dann wohl vor allem die Babyboomer, die für den Aufschwung der "Grünen" gesorgt haben. Jedenfalls habe ich in all den Jahren in der Blogosphäre kaum je Argumente gehört, die nicht schon in den vielen Diskussionen an der Schule mal aufgetaucht wären (bis auf die klassisch liberale bis libertäre Ausrichtung - die fand praktisch gar nicht statt).
Und eins ist nicht zu vergessen: Quasi in die Mitte unseres Lebens fielen das Ende des Sowjetimperiums und die Aufgabe der nationalen Währung. Wir sind diejenigen, die das maßgeblich mit zu gestalten bzw. die Konsequenzen illusorischer Politik auszubaden hatten und noch haben. Wie wir auch diejenigen sein werden, die als erste umittelbar spüren, was gemeint ist, wenn das Wort "Schneeball" im Zusammenhang mit gesetzlicher Rente und Pension fällt. Wir sind die erste Nachkriegsgeneration, für die Veränderung nicht immer automatisch auch immer nur Verbesserung bedeutete, was viele von uns dazu veranlasst, das kleine Idyll, in dem wir uns einmal eingerichtet haben, mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, weil sie der Meinung sind, es könne alles nur noch schlechter werden. Diese Angst vor Veränderung, diese Sehnsucht nach den ersten Jahren unserer Kindheit, wo das Wort "Reform" ein Synonym für "Versprechen" war (statt wie heute für "Verzicht"), diese "BRD-Nostalgie" steckt hinter dem ewigen "dagegen" der uns am besten repräsentierenden "Grünen".
-- L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)
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