Es hat mich nicht überrascht, daß das zweite Gutachten zu einem anderen Ergebnis gekommen ist als das erste. Es gibt in der Psychiatrie eben wirklich Grenzfälle; gerade bei der Abgrenzung zwischen einer paranoiden Persönlichkeitsstörung und einer paranoiden Schizophrenie.
"...Wer eine paranoide Persönlichkeitsstörung hat, der ist schuldfähig. Eine paranoide Schizophrenie bedeutet Schuldunfähigkeit..."
Dies ist so nicht richtig. Für die Schuldfähigkeit ist nur die Ausprägung der krankhaften seelischen Störung (meistens der Störungen) von Bedeutung. Ob es sich um eine Persönlichkeitsstörung oder um eine Schizophrenie handelt, ist da völlig unbedeutend. Die meisten Insassen von forensischen Psychiatrien leiden unter Persönlichkeitsstörungen.
"...Viele der gemäß § 63 StGB untergebrachten Patienten leiden unter schizophrenen Psychosen, oft in Überlagerung mit Abhängigkeitserkrankungen. Eine andere große Gruppe leidet unter schweren Persönlichkeitsstörungen oder unter schwer behandelbaren sexuellen Abweichungen (Paraphilien) wie Pädophilie. Vergleichsweise seltener sind affektive Psychosen (etwa chronische Manien), andere Wahnkrankheiten (z. B. anhaltende wahnhafte Störung, isolierter Eifersuchtswahn) oder organisch bedingte Psychosen. Eine kleinere Gruppe hat eine Intelligenzminderung, oft einhergehend mit Impulskontrollstörung. Im Vollzug gemäß § 64 StGB steht die Alkoholabhängigkeit im Vordergrund, danach Drogenabhängigkeit, häufig liegen zugleich schwere Persönlichkeitsstörungen vor..." http://de.wikipedia.org/wiki/Ma%C3%9Fregelvollzug
Zitat von uniquolol"...Wer eine paranoide Persönlichkeitsstörung hat, der ist schuldfähig. Eine paranoide Schizophrenie bedeutet Schuldunfähigkeit..."
Dies ist so nicht richtig. Für die Schuldfähigkeit ist nur die Ausprägung der krankhaften seelischen Störung (meistens der Störungen) von Bedeutung.
Man muß, lieber uniquolol, unterscheiden zwischen einer krankhaften seelischen Störung wie einer Schizophrenie und einer "schweren anderen seelischen Abartigkeit".
Ich muß dazu allerdings sagen, daß ich die norwegische Rechtslage nicht kenne. Nach den Presseberichten zu urteilen, gleicht sie aber im wesentlichen der deutschen.
Zitat Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
Entscheidend ist die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Dies ist bei einer Schizophrenie grundsätzlich gegeben; bei einer paranoiden Persönlichkeitsstörung als solcher ist es nicht grundsätzlich gegeben. Allerdings kann diese eine solche Schwere erreichen - insofern haben Sie Recht -, daß sie unter den Begriff der "schweren anderen seelischen Abartigkeit" (SASA) fällt.
Da sind wir auf diesem heiklen Feld, lieber uniquolol - man kann auch sagen: in diesem undurchsichtigen Dschungel -, in dem Sachverständige und Richter entscheiden sollen, ob jemand in der Lage war, Unrecht einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Wie ich schon in den zitierten Artikeln vom Ende vergangenen und Beginn dieses Jahres geschrieben habe - wir sind damit bei dem philosophischen Problem der Willensfreiheit angekommen. Woher wissen wir, ob jemand in der Lage war, nach einer Einsicht zu handeln?
Ich räume aber ein, daß das, was Sie aus dem Artikel zitieren, mißverstanden werden konnte. Ich meinte, wie oben erläutert, daß eine paranoide Persönlichkeitsstörung als solche noch keine Schuldunfähigkeit begründet; nicht, daß sie nicht das Ausmaß einer SASA erreichen kann. Ich werde das umformulieren, mit Dank an Sie. - Bei dem Gesichtspunkt der Schwere spielt natürlich auch eine entscheidende Rolle, ob es um den Paragraphen 20 geht oder um den Paragraphen 21 (verminderte Schuldfähigkeit).
das oben Geschriebene gilt natürlich nur für Deutschland, die Gesetzgebung in Norwegen ist mir unbekannt.
(2) Gesetze:
§ 20 - Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen:
Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
§ 21 - Verminderte Schuldfähigkeit:
Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
§ 63 - Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus:
Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
§ 64 - Unterbringung in einer Entziehungsanstalt:
Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.
EDIT: Gleichzeitig mit dem obigen Beitrag von Zettel gesendet, daher keine Antwort!
Lieber Zettel (wenn ich mir diese vertrauliche Anrede erlauben darf),
Zitat Sich mit einer Ferndiagnose an einer Streitfrage zu beteiligen, in der die untersuchenden Psychiater zu verschiedenen Ergebnissen gekommen sind, wäre deshalb vermessen (wenngleich ein deutscher Blogger sich das erstaunlicherweise zugetraut hat).
Zitat von DahlmannsLieber Zettel (wenn ich mir diese vertrauliche Anrede erlauben darf),
Zitat Sich mit einer Ferndiagnose an einer Streitfrage zu beteiligen, in der die untersuchenden Psychiater zu verschiedenen Ergebnissen gekommen sind, wäre deshalb vermessen (wenngleich ein deutscher Blogger sich das erstaunlicherweise zugetraut hat).
Danke, lieber Dahlmanns. Vielleicht findet dieser Blogger ja den Weg hierher, und wir können das diskutieren.
Nur zwei Punkte: Entgegen dem, was er schreibt, wurde die Diagnose "Schizophrenie" nicht nur von Laien und von Leuten angezweifelt, die mit dem Fall nicht befaßt gewesen waren; sondern u.a. auch Mitglieder eines psychologisch-psychiatrischen Teams aus dem Distriktpsychiatrischen Zentrum in Sandvika, das Breivik seit seiner Inhaftierung ständig beobachtet hatte, sowie die führende norwegische Rechtspsychiatrin Randi Rosenqvist, ehemalige Vorsitzende der Norwegischen Kommission für Forensische Medizin, haben Zweifel geäußert.
Zum zweiten schreibt er:
Zitat Zettel hat den Punkt mit den definierten Kriterien ganz gut verstanden. Nicht ganz verstanden hat er aus meiner Sicht, dass die paranoide PS und Schizophrenie zwei völlig verschiedene Krankheiten sind. Es gibt keinen „Grenzfall“ bei der eine paranoide PS sich quasi in eine Schizophrenie „entwickeln“ kann oder andersherum.
Daß sich aus einer paranoiden Persönlichkeitsstörung eine Schizophrenie entwickeln kann, habe ich nun freilich auch nicht behauptet. Natürlich sind das verschiedene Störungen (von "Krankheit" spricht man bei einer personality disorder, nach alter deutscher Terminologie einer Psychopathie, üblicherweise nicht) mit einer unterschiedlichen Ätiologie. Aber das heißt ja nicht, daß es keine Grenzfälle geben würde. Breivik ist ein solcher Grenzfall.
Es gibt bei Psychiatern (zumal in der deutschen Tradition) das Problem einer overconfidence bei der Diagnose: Man ist sich seiner Diagnose subjektiv sicher; und es gibt oft kein Außenkriterium, an dem sie gemessen werden würde. Der Psychiater wird selten damit konfrontiert, daß er sich geirrt hat (anders als der Somatiker, dem der Pathologe das irgendwann verrät ).
Daraus kann sich dann diese aus meiner Sicht ein wenig verwunderliche Überzeugung entwickeln, mit Sicherheit Recht zu haben, die mir auch beim ersten Beitrag dieses Bloggers schon aufgefallen war; ansonsten ja ein durchaus kundiger Beitrag.
Zitat von ZettelEs hat mich nicht überrascht, daß das zweite Gutachten zu einem anderen Ergebnis gekommen ist als das erste. Es gibt in der Psychiatrie eben wirklich Grenzfälle; gerade bei der Abgrenzung zwischen einer paranoiden Persönlichkeitsstörung und einer paranoiden Schizophrenie.
Jetzt steht es 1:1, das macht es ja wohl nicht leichter. Wird jetzt zur Entscheidung ein dritter Gutachter beauftragt? Oder traut sich das Gericht eine Entscheidung zu oder würfelt der Richter?
Zitat von C.Warum dann das Gewese mit den Gutachtern?
Naja, aus dem Nichts zu schöpfen, traut der Jurist sich auch nicht zu. Aber die Beurteilung, ob ein Gutachten glaubwürdig und relevant ist, die lag und liegt bei ihm. Nicht der Gutachter entscheidet, sondern immer das Gericht.
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12.04.2012 21:53
#11 RE: Marginalie: Neues Gutachten im Fall Breivik
Was soll eigentlich dieses ganze Theater? Ein Mensch begeht eine Tat und wird für diese zur Rechenschaft gezogen. Punkt. Gleichheit vor dem Gesetz war doch als Gleichbehandlung ohne Rücksicht auf Ansehen und Stellung einer Person gedacht. Warum nun durch die Hintertür genau dies, in Form von schuldfähig oder nicht, schleifen? Es ist mir schwer begreiflich, wie man derartiges gutheißen kann, führt es doch dazu, daß dem Täter unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit zuteil wird - die Opfer bzw. deren Angehörige schauen in die Röhre.
Zitat von VogelfreiWas soll eigentlich dieses ganze Theater? Ein Mensch begeht eine Tat und wird für diese zur Rechenschaft gezogen. Punkt. Gleichheit vor dem Gesetz war doch als Gleichbehandlung ohne Rücksicht auf Ansehen und Stellung einer Person gedacht. Warum nun durch die Hintertür genau dies, in Form von schuldfähig oder nicht, schleifen? Es ist mir schwer begreiflich, wie man derartiges gutheißen kann, führt es doch dazu, daß dem Täter unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit zuteil wird - die Opfer bzw. deren Angehörige schauen in die Röhre.
Es gehört zur Gleichheit vor dem Gesetz, dass die Schuldfähigkeit jedes Täters untersucht wird.
Zitat von VogelfreiWas soll eigentlich dieses ganze Theater? Ein Mensch begeht eine Tat und wird für diese zur Rechenschaft gezogen. Punkt. Gleichheit vor dem Gesetz war doch als Gleichbehandlung ohne Rücksicht auf Ansehen und Stellung einer Person gedacht. Warum nun durch die Hintertür genau dies, in Form von schuldfähig oder nicht, schleifen?
Keine zivilisierte Gesellschaft, lieber Vogelfrei, bestraft jemanden, der für eine Tat nicht verantwortlich ist - also nicht ein Kind, das noch strafunmündig ist; nicht einen Geisteskranken (und übrigens auch nicht ein Tier, wie das bis ins 18. Jahrhundert hinein vorkam).
Wo die Grenze zu ziehen ist, das mag im Einzelfall schwierig sein; wie jetzt bei Breivik. Aber Strafe setzt grundsätzlich Verantwortlichkeit voraus. Wer das aufheben wollte, der würde dem Rechsstaat eine seiner Grundlagen entziehen.
Zur Frage, wie es im Prozess weitergeht: Aller Voraussicht nach wird ein drittes Gutachten, ein sog. Obergutachten eingeholt, das - vereinfacht gesagt - darüber entscheidet, welches der beiden anderen Gutachten Recht hat. Und bitte: Wenn ein Richter eine Tatfrage (d.h. eine die Faktenbasis betreffende Frage) mangels Sachkunde nicht beurteilen kann, dann muss er ein Gutachten einholen. Die Rechtsfragen hingegen hat er ganz allein zu beantworten (dafür hat man ihn ja Jura studieren lassen). Konkret heißt dies: Ob und ggf. wie (schwer) Breivik gestört ist, entscheiden die Psychiater (Tatfrage). Ob Breivik aufgrund der psychiatrischen Gutachten als schuldunfähig anzusehen ist, entscheidet der Richter (Rechtsfrage). (Aber natürlich präjudiziert die Beantwortung der Tatfrage die Beantwortung der Rechtsfrage.)
@ Vogelfrei: Was Sie befürworten, ist das sog. Erfolgsstrafrecht: Wer ein strafrechtlich missbilligtes Ergebnis herbeiführt, wird jedenfalls bestraft. Dieses Prinzip galt z.B. bei den Germanen. Heutzutage herrscht das Schuldstrafrecht: Bestraft wird nur, wer anders (d.h. rechtmäßig) hätte handeln können, weil er im Tatzeitpunkt das Unrecht seiner Tat einzusehen imstande war. Mit der Gleichheit vor dem Gesetz hat das nichts zu tun, sondern mit der rechtsphilosophischen Wertung, dass das sozialethische Unwerturteil, das in der Kriminalstrafe liegt, nur über den ausgesprochen werden soll, der die Verwerflichkeit seines Handelns auch begreift.
Zitat von C.Warum dann das Gewese mit den Gutachtern?
Naja, aus dem Nichts zu schöpfen, traut der Jurist sich auch nicht zu. Aber die Beurteilung, ob ein Gutachten glaubwürdig und relevant ist, die lag und liegt bei ihm. Nicht der Gutachter entscheidet, sondern immer das Gericht.
Das stimmt, lieber Rayson. Aber in diesem Fall vermute ich, wie C., daß das schwer für das Gericht sein wird.
Vielleicht kann man in der Tat ein Obergutachten anfordern, wie es in solchen Fällen einander widersprechender Gutachten nicht selten ist. Da Norwegen ein kleines Land ist, könnte das Gericht vielleicht auch an Experten aus dem Ausland denken, die auf die Differentialdiagnose zwischen einer paranoiden Persönlichkeitsstörung und einer paranoiden Schizophrenie spezialisiert sind; die also darüber geforscht und publiziert haben.
Der Fall ist ja auch wissenschaftlich interessant. Ich habe versucht, das in den Artikeln anzudeuten: Es geht darum, wie eigentlich solche psychischen Störungen und Krankheiten zu definieren sind und letztlich um das Problem der Willensfreiheit; gerade auch mit Blick auf die Fortschritte der Hirnforschung, die es immer offensichtlicher machen, daß es keine "rein psychischen" Prozesse gibt, die nicht ihre hirnphysiologische Grundlage hätten.
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12.04.2012 22:21
#17 RE: Marginalie: Neues Gutachten im Fall Breivik
Dessen bin ich mir durchaus bewußt. Nur kann ich für meinen Teil nicht erkennen, daß dies tatsächlich die bessere, gerechtere Art der Rechtsprechung sei. Denn das Hauptaugenmerk liegt dabei unvermeidlich bei den Tätern - nicht bei den Opfern. Und da man letztlich niemanden in den Kopf schauen kann, gibt es auch keine objektive Möglichkeit, mit Sicherheit festzustellen, ob und inwieweit jemand sich den Folgen seiner Taten bewußt ist.
Zitat von VogelfreiNur kann ich für meinen Teil nicht erkennen, daß dies tatsächlich die bessere, gerechtere Art der Rechtsprechung sei. Denn das Hauptaugenmerk liegt dabei unvermeidlich bei den Tätern - nicht bei den Opfern. Und da man letztlich niemanden in den Kopf schauen kann, gibt es auch keine objektive Möglichkeit, mit Sicherheit festzustellen, ob und inwieweit jemand sich den Folgen seiner Taten bewußt ist.
Sind Sie ernsthaft der Meinung, daß beispielsweise in einem US-Staat, in dem es die Todesstrafe gibt, ein Geisteskranker hingerichtet werden sollte, der im Wahn jemanden ermordet hat? Wollen Sie, daß in unserem Land ein solcher Geisteskranker ins Gefängnis kommt?
Von allen anderen Gesichtspunkten abgesehen: Wenn die Strafe nicht mehr an Verantwortlichkeit geknüpft ist, dann ist sie auch nicht ethisch zu rechtfertigen. Der Willkür sind dann Tür und Tor geöffnet; wie im Nazismus und im Kommunismus.
Zitat von ZettelAber in diesem Fall vermute ich, wie C., daß das schwer für das Gericht sein wird.
Ja, lieber Zettel, das ist wohl so. Ich referiere hier auch nicht im Brustton der Überzeugung (bin ja eben *kein* Jurist), sondern mehr zweifelnd. Schon bei "stinknormalen" Prozessen ist es so, dass die Gutachten zwar willkommene Möglichkeiten bieten, sich dahinter zu verstecken, andererseits aber die letztliche Würdigung immer Aufgabe des Gerichts bleibt, und aus dieser Problematik sind ganz sicher bereits eine Menge Fehlurteile entstanden.
Ob "noch'n Gutachten" aus dem Dilemma heraushilft ("Es steht 2:1 für Schuldfähigkeit!"), wage ich zu bezweifeln. Das Gericht ist verpflichtet, die Güte zu beurteilen und nicht die Quantität.
Und ja, die können das nicht wirklich, jedenfalls nicht fachmännisch (oder -fraulich). Aber so ist das mit Gerichten nun mal.
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12.04.2012 22:53
#20 RE: Marginalie: Neues Gutachten im Fall Breivik
Zitat von ZettelSind Sie ernsthaft der Meinung, daß beispielsweise in einem US-Staat, in dem es die Todesstrafe gibt, ein Geisteskranker hingerichtet werden sollte, der im Wahn jemanden ermordet hat? Wollen Sie, daß in unserem Land ein solcher Geisteskranker ins Gefängnis kommt?
Von allen anderen Gesichtspunkten abgesehen: Wenn die Strafe nicht mehr an Verantwortlichkeit geknüpft ist, dann ist sie auch nicht ethisch zu rechtfertigen. Der Willkür sind dann Tür und Tor geöffnet; wie im Nazismus und im Kommunismus.
Herzlich, Zettel
Warum eigentlich immer das Maximal Schlimmste unterstellen? ;)
Ich habe nie behauptet, daß das zur Anwendung kommende Strafmaß nicht (auch) an der angenommenen Verantwortungsfähigkeit geknüpft zu sein habe. Das heißt: Ja, auch ein Geisteskranker oder (sagt man das heute noch so?) Schwachsinniger ist zu bestrafen und zwar in einer Weise, die ihm zugänglich ist. Ich hatte über mehrere Jahre das Vergnügen (ganz und gar nicht ironisch sondern vollkommen ernst gemeint) in einem Heim für geistig- und körperlich beeinträchtigte Kinder und Jugendliche tätig zu sein und kann Ihnen versichern, daß auch dies alles Menschen sind, die durchaus ein (wenn auch zum Teil verschrobenes) Rechtsempfinden haben. Ähnliches gilt auch für Kinder - sollte man bei ihnen von einer Bestrafung aufgrund einer angenommenen Strafunmündigkeit absehen, dann haben eben die Eltern zu haften. Nach meinem Dafürhalten gibt es aber keinen, wie auch immer gearteten Grund, bei erwiesener Täterschaft keine Strafe zu verhängen.
Zitat von VogelfreiIch hatte über mehrere Jahre das Vergnügen (ganz und gar nicht ironisch sondern vollkommen ernst gemeint) in einem Heim für geistig- und körperlich beeinträchtigte Kinder und Jugendliche tätig zu sein und kann Ihnen versichern, daß auch dies alles Menschen sind, die durchaus ein (wenn auch zum Teil verschrobenes) Rechtsempfinden haben. Ähnliches gilt auch für Kinder - sollte man bei ihnen von einer Bestrafung aufgrund einer angenommenen Strafunmündigkeit absehen, dann haben eben die Eltern zu haften. Nach meinem Dafürhalten gibt es aber keinen, wie auch immer gearteten Grund, bei erwiesener Täterschaft keine Strafe zu verhängen.
Ich weiß nicht, lieber Vogelfrei, ob Ihnen bewußt ist, daß sie damit wirklich die Grundlagen des Rechtsstaats in Frage stellen, wie er aus der Aufklärung hervorgegangen ist.
Gewiß haben auch Kinder, haben auch Schwachsinnige und viele Psychotiker ein Rechtsempfinden. Das hat aber auch ein Hund, der es durch sein Verhalten sehr genau zeigt, wenn er ein schlechtes Gewissen hat.
Man kann den Hund infolgedessen (auch) durch Strafen erziehen (der kluge Hundebesitzer setzt dieses Mittel sehr, sehr vorsichtig ein). Man kann das bekanntlich bei Kindern: man kann auch das Verhalten von Schwachsinnigen und Geisteskranken durch Belohnungen und Bestrafung beeinflussen.
Aber das reicht ja nicht aus, um sie zu Rechtssubjekten zu machen. Srafen, die der Staat verhängt, sind eben nicht einfach ein Erziehungsmittel; jedenfalls nicht bei Erwachsenen, die zu erziehen niemand ein Recht hat. (Übrigens ist es einer der Gesichtspunkte, unter denen die DDR wesensmäßig ein Unrechtsstaat war, daß sie Strafen primär als Erziehungsmittel ansah).
Eine Strafe ist die Folge, die ein frei entscheidender, verantwortlicher Bürger als Konsequenz seines Verhaltens zu gewärtigen hat. Sie ist die Antwort der Gemeinschaft der Rechtssubjekte auf seine Entscheidung, deren Gesetze zu brechen. Sie beinhaltet ausdrücklich die Achtung vor der Autonomie auch des Täters. Wer diese Autonomie nicht besitzt, weil er zum Beispiel geisteskrank ist oder noch ein Kind, kann deshalb nicht bestraft werden.
Herzlich, Zettel
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13.04.2012 00:33
#22 RE: Marginalie: Neues Gutachten im Fall Breivik
glauben Sie mir ruhig, daß ich mir dessen bewußt bin und es ja auch weitestgehend so sehe. Aber! Einen wichtigen und alles andere als nebensächlichen Aspekt lassen Sie außer acht. Die Rechstsprechung hat auch und vor allem die Aufgabe befriedend zu wirken und das bedeutet eben auch, den Opfern und ihren Angehörigen zumindest in einem gewissen Maße Genugtuung zu verschaffen. Ich bin der Meinung, daß die allgemeine Akzeptanz einer Rechtsordnung nicht zuletzt von eben diesem Aspekt abhängig ist.
Nehmen wir nun Breivik. Dieser Mann hat durch sein absichts- und planvolles Handeln eindeutig bewiesen, daß er Kausalketten auch über viele Glieder und lange Zeiträume hinweg zu verstehen im Stande ist. Ihm nun eine verminderte oder gar nicht vorhandene Schuldfähigkeit zu attestieren, weil er sich (oder man ihn) der Einsicht außerstande sieht, zu erkennen, welch Leid er damit verursacht (ja ich weiß, grob vereinfacht und sehr polemisch), trägt diesem Bedürfnis der Betroffenen nun gerade eben keine Rechnung, sondern stellt den Täter in den Mittelpunkt der Betrachtung und nicht die Tat und deren Sühne.
Zitat von ZettelDas hat aber auch ein Hund, der es durch sein Verhalten sehr genau zeigt, wenn er ein schlechtes Gewissen hat.
Auch wenn wir Menschen gern zur Vermenschlichung unserer treuen Vierbeiner neigen, so hat ein Hund kein schlechtes Gewissen - er paßt seine Verhaltensweisen schlicht an die unsrigen an. Wenn er uns, ob eines zerstörten Zimmers, zornig erlebt hat, so ist sein vermeintlich schlechtes Gewissen, seine Reue gar, nichts anderes als die Erfahrung, daß ein zerstörtes Zimmer kombiniert mit besonders unterwürfigem Verhalten, des Herrchens Zorn zu mildern imstande ist.
Wenn nun aber selbst relativ primitive Lebewesen zu derartigen Täuschungen "fähig" sind, was muß dann erst für unsere Mitmenschen gelten?
Zitat Eine Strafe ist die Folge, die ein frei entscheidender, verantwortlicher Bürger als Konsequenz seines Verhaltens zu gewärtigen hat.
Richtig. Nur wird daraus in der derzeitigen Rechtsprechung: Eine Strafe ist die Folge, die ein, als frei entscheidender, verantwortlicher Bürger eingeschätzter als Konsequenz seines Verhaltens zu gewärtigen hat. Und genau da liegt für mich das Problem. Wer hat in einem solchen Maße die Früchte vom Baum der Erkenntnis genossen, daß er in das innerste Seelenleben eines Menschen blicken kann? Wie will man das unumstößlich und definitiv festmachen und entscheiden? Zumal jede unserer Handlungen Ausfluß unserer genetischen Disposition und angesammelten Erfahrung ist, sodaß wir uns an exakt den selben Punkt zurückversetzt, mit den exakt selben Vorraussetzungen und Erkenntnissen, exakt selbig entscheiden würden. Wo also sind wir wirklich frei? Ist dann nicht einjeder strafunmmündig? Haben wir doch nur auf einen Bruchteil dessen Einfluß, was uns begegnet, widerfährt und prägt.
Zitat von VogelfreiDieser Mann hat durch sein absichts- und planvolles Handeln eindeutig bewiesen, daß er Kausalketten auch über viele Glieder und lange Zeiträume hinweg zu verstehen im Stande ist.
Als da wären?
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@ Vogelfrei: Wenn Breivik schuldunfähig ist, kommt er deshalb ja nicht frei, sondern wird in ein psychiatrisches Krankenhaus bzw. eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. So wäre die Rechtslage in Deutschland und Österreich; schenkt man den darin übereinstimmenden Presseberichten Glauben, verhält es sich in Norwegen nicht anders. Das heißt: Breivik wird in jedem Fall vom Rest der Menschheit isoliert; wenn er schuldfähig ist, zur Strafe; wenn er schuldunfähig ist, als sog. freiheitsentziehende Maßregel (bzw. mit Freiheitsentziehung verbundene vorbeugende Maßnahme). Am faktischen Ergebnis ändert die Frage nach der Schuldfähigkeit also nicht viel.
@ Gutachten-Thematik: Bei zwei einander widersprechenden Gutachten wird der Richter mangels eigener Sachkunde den entscheidungserheblichen Sachverhalt kaum so feststellen und seine Entscheidung so begründen können, dass man ihm sein Urteil in der Rechtsmittelinstanz nicht um die Ohren haut. Was bleibt ihm also anderes übrig, als ein Obergutachten einzuholen?
Zettel: Entgegen dem, was er schreibt, wurde die Diagnose “Schizophrenie” nicht nur von Laien und von Leuten angezweifelt, die mit dem Fall nicht befaßt gewesen waren;
American Viewer: Das habe wiederum ich nicht behauptet. Von “nur” war bei mir nie die Rede. Sandvika ist bekannt. Die stehen bei mir auch im Original-Artikel. Ich bin auf die Leute eingegangen, die man klar kritisieren kann, weil sie einfach aus der Ferne Dinge behauptet haben.
Zu Sandvika kann man sagen, dass sie wohl erst Wochen nach dem ersten Gutachten ihre Meinung breit äußerten, als die Wetterlage opportun war. Und dann auch noch in der Öffentlichkeit. Ich habe mich schon damals gefragt, ob es in Norwegen eigentlich keine Schweigepflicht gibt. Dieses psychiatrische Zentrum in Sandvika ist mir suspekt. Die werden nicht allzuoft bei Breivik im Gefängnis gewesen sein. Die werden gerufen, schreiben ihr Konsil, in dem steht, er habe nichts behandelbar Psychiatrisches und das war es dann. Es sei denn Breivik randaliert jede Nacht in seinen drei Zellen, weil er nicht genug Playstation spielen darf.
Die Erstgutachter dagegen waren über Monate bei Breivik. Breivik behauptet jetzt, dass die Erstgutachter viele Aussagen und Verhaltensweisen Breiviks frei erfunden hätten. Die Frage ist nur: Warum sollten sie das machen?
Zettel: Der Psychiater wird selten damit konfrontiert, daß er sich geirrt hat (anders als der Somatiker, dem der Pathologe das irgendwann verrät). Daraus kann sich dann diese aus meiner Sicht ein wenig verwunderliche Überzeugung entwickeln, mit Sicherheit Recht zu haben, die mir auch beim ersten Beitrag dieses Bloggers schon aufgefallen war; ansonsten ja ein durchaus kundiger Beitrag.
American Viewer: Zettels Glauben an die Somatiker will ich ihm nicht nehmen. Auch die Trennung Somatiker Psychiater ist eher künstlich. Psychiatrische Erkrankungen wie die Schizophrenie haben natürlich ein Korrelat auf Organebene. Man hat es nur noch nicht hinreichend genau nachvollziehen können. Aber indirekt über die Medikamentenwirkungen kommt man der Sache immer näher. In der sogenannten „Somatik“ funktioniert es auch nicht anders.
Er meint offenbar auch immer noch, dass ich quasi ein Rechthaber sei. Dabei haben wir beide klare Aussagen getroffen, nur in eine andere Richtung.
Ich sage nicht, dass ich “mit Sicherheit Recht” habe. Ich habe nur eine klare Arbeitsdiagnose wie Zettel auch. Der Unterschied ist nur: Meine Diagnose kann und muss man natürlich testen. Wie das geht, habe ich dargelegt. Zettels Ausführungen dagegen kann man schlecht falsifizieren. Er selbst hat auch keine Lösung parat.
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