den Sachverhalt/Stand der Wissenschaft kann man auf folgende Weise interpretieren/kolportieren:
1) Don't Panic. Selbst wenn es erst kürzlich gebebt hat, hat das gar nichts zu bedeuten.
2) Leute, wir leben hier sowieso in einer deutlich überdurchschnittlich erdbebengefährdeten Region. Erschwerend kommt hinzu, daß unsere Bausubstanz in weiten Teilen nur als bescheiden widerstandsfähig bezeichnet werden kann. Mit einem Beben mit katastrophalen Folgen ist demzufolge jederzeit zu rechnen.
Beide Interpretationen sind rein fachlich korrekt, aber sie sind dennoch nicht gleichwertig oder gleich aufrichtig. Die erste kann man gut und gerne als Entwarnung interpretieren, die zweite ist unmißverständlich eine eindringliche Warnung.
Ich vermute, daß sich dieser Prozeß eigentlich vor diesem Interpretationshintergrund abspielt und nicht vor der rein wissenschaftlichen Faktenlage.
Zitat von Christoph im Beitrag #22Die westliche Welt leidet an einer Krankheit, die sie vielleicht nicht überleben wird: eine extreme Aversion gegen das Risiko. Das Urteil von L‘Aquila ist ein Symptom von vielen.
Noch können wir Freiheit, Fortschritt und Wohlstand genießen; der Preis dafür ist die Gefahr. Viele scheinen das inzwischen anders zu sehen und glauben, dass es so etwas wie den Zufall nicht geben könnte (für jeden Unfall, jede Krise, jedes Problem existiert ein Schuldiger, der zur Verantwortung zu ziehen ist), oder dass man den Preis des Risikos nicht mehr bezahlen sollte, und lieber bewahrt was man hat: einen Bahnhof über der Erde Bäume voller Juchtenkäfer eine Landwirtschaft ohne Gentechnik eine Medizin ohne Stammzellforschung.
In diesem Klima gilt: „wer verhindert hat recht“ und dabei gerät leider außer Vergessenheit, dass es Dinge gibt, die es wert sind, ein Risiko einzugehen. Würden die Gebrüder Wright noch leben, hätte man sie schon längst eingesperrt, für all die Flugzeugunfälle, die sie durch die Erfindung des Flugzeugs fahrlässig herbeigeführt haben.
Ohne den festgestellten Sachverhalt zu kennen, möchte ich das Urteil nicht kritisieren. Aber mir ist beim Lesen dieser Meldung exakt derselbe Gedanke gekommen. Das Risiko wird in unserer Gesellschaft ausschließlich negativ gesehen; und wenn sich ein Risiko verwirklicht, dann muss es einen Schuldigen geben. Dies hat natürlich auch - ich wiederhole mich - mit der aufgeklärt-absolutistischen Tradition Deutschlands zu tun, die - im zeitgemäßen grünen Gewand - vielleicht unser größter ideeller Exportschlager der letzten Jahre ist und in Ländern mit etatistischer Tradition ohnehin auf fruchtbaren Boden fällt: Der Staat ist demnach verpflichtet und berechtigt, zum Nutzen und Frommen des Bürgers dessen Leben umfassend zu gestalten und alle möglichen (auch die bewusst eingegangenen) Gefahren von ihm fernzuhalten. Ich fürchte auch, dass sich diese Tendenz in den nächsten Jahren noch verstärken wird.
Ein wirklich ganz exzellenter Kommentar, Christoph
Zitat von Zettel im Beitrag #24Das ist alles das Übliche in archaischen Gesellschaften. Daß offenbar auch die italienische Justiz in Teilen noch nach dieser Mentalität funktioniert, gibt zu denken.
Ich würde in einer ersten Beurteilung davon ausgehen, dass die zuständigen Richter die Regeln der westlichen Gesellschaften kennen, dass es also andere Gründe gibt, die zu dem Urteil geführt haben. Denkbar ist, dass uns ein Stück Information fehlt, das bei dem Urteil eine wichtige Rolle gespielt hat. Denkbar ist aber auch, dass vermutlich aus der Region kommende Richter dem Druck von Angehörigen oder anderen Mitmenschen nachgegeben und ein vor einer nächsten Instanz unhaltbares Urteil gesprochen haben. Sie haben ihren Frieden, und für die Angeklagten wird es am Ende mit Freispruch enden. Ein Stück Pragmatismus, für den die Italiener vielleicht Verständnis haben, im Gegensatz zu unseren Breiten.
David Ropeik stellt seine Sicht der Dinge bei Scientific American dar und vermittelte zumindest mir dabei ein paar neue Aspekte über den damaligen Ablauf.
Die, lieber Leibniz, mit meiner Sicht übereinstimmt:
Zitat In earthquakes, lives are almost never saved by evacuations before the fact, because specific, timely warnings are currently scientifically impossible. They are saved by rigorous and well-enforced building codes, and a populace that knows to drop, cover and hold on. This is why the L’Aquila verdict is so damaging: not only will it have a chilling effect on what scientists are willing to say in public about the geological risks an area or population face, but it reinforces the all-too-common idea that earthquake safety is like a fire alarm; you only need to take action when there is a specific short-term warning.
Man hat von den Wissenschaftlern Magie erwartet, und jetzt verurteilt man sie wie Hexen. Archaisches Denken.
Tja. Die Erklärung mit der archaischen Psychologie hat schon manches für sich. Ich würde es so formulieren: »Eine erlogene Gewissheit ist viel angenehmer als eine reale Ungewissheit« – oder: »besser eine erlogene Lösung als ein ungelöstes Problem«. Die Mutter jeden Aberglaubens. Mögen diese Gedanken auch archaischen Ursprungs sein, so sind sie doch hochaktuell. Man denke an die Regeln für Rating Agenturen, die die EU-Komission vor einem Jahr vorschlug; oder an die Frauenquoten; oder an fast alle anderen Vorschläge, die Politiker unterbreiten, wenn irgend etwas schlimmes geschehen ist. Sei es ein Verbrechen, eine Wirtschaftskrise oder schlechtes Wetter. Es hilft nichts, aber man hat wenigstens was getan.
Die Ablehnung des Risikos, die ich behauptet habe, passt ganz gut in diesen Zusammenhang: Unerklärliche Ereignisse, kann man Gott zuschreiben oder dem Schicksal. Zumindest als altmodischer Romantiker (wie ich). Zeitgemäß ist es dagegen, den Menschen für jegliches Geschehen auf unserem Planeten verantwortlich zu machen. Wer so denkt, lehnt das Risiko nicht ab, er leugnet geradezu, dass es existiert, denn wo der Mensch für alles verantwortlich ist, haben Gott und Zufall keinen Platz.
In diesem Sinne wäre nicht ein Ressentiment gegen die Wissenschaft Grund für das Urteil, sondern im Gegenteil das grenzenlose Vertrauen in die Fähigkeit der Wissenschaft.
Zitat von Reader im Beitrag #23vielleicht hast du diesen Artikel von Alexandra Petri in der Opinion Section der gestrigen Washington Post ja schon gelesen: http://www.washingtonpost.com/blogs/comp...88962_blog.html Italian scientists found guilty of manslaughter for failure to perform magic.
Nein, hatte ich noch nicht, dear Reader - habe ich aber jetzt mit Vergnügen getan. Sehr gut geschrieben und ganz auf meiner Linie:
Zitat What’s next? Are we going to sue the weather forecasters for crop failures? “The doctor said there was a 100 percent probability that I would die on a day that ended in ‘day,’ so I’m never leaving the house again!” Where does this lead?
This is a horrible, medieval precedent to set. This is like when they used to behead the doctor when the king died. Except that it is really happening, and these scientists might actually have to spend years in jail for failing to do something that is NOT SCIENTIFICALLY POSSIBLE, all because people don’t understand how probability and risk work.
Alexandra Petri war mir noch gar nicht aufgefallen. Scheint ja eine begabte junge Frau zu sein; und für Talkshows etc. noch zu buchen.
Zitat von Tehut im Beitrag #29David Ropeik stellt seine Sicht der Dinge bei Scientific American dar und vermittelte zumindest mir dabei ein paar neue Aspekte über den damaligen Ablauf.
Die Gedankengänge David Ropeik´s erschliessen sich mir nicht.
....It was never about whether the scientists could or could not predict earthquakes. Even the leader of the 309 Martiri (309 Martyrs) who pressed for the case to be brought said so; Dr. Vincenzo Vittorini, who lost his wife and daughter in the quake, said back when the trial began “Nobody here wants to put science in the dock. We all know that the earthquake could not be predicted, and that evacuation was not an option. All we wanted was clearer information on risks in order to make our choices”....
Der Vertreter der "Geschädigten" (der Name der Gruppe weist auf das emotionale Moment und Selbstverständnis) räumt ein, dass eine sichere Vorhersage nicht möglich ist, klagt aber gleichzeitig an, dass "klarere" Informationen nicht kommuniziert wurden. Da thematisiert jemand seine kognitive Dissonanz...sehr schön.
Der Autor des Artikels beklagt das schlechte Kommunikationsmanagement, nicht eine fachliche Fehlleistung, die es anzuklagen gebe.
The experts met for several hours, discounted the radon-based prediction, and agreed that the tremors could not help predict whether there would be a major quake. The scientists then left town without speaking at all.
Auch er hat sich meiner Meinung nach auf verschiedenen Ebenen verheddert.
Sechs Jahre Haft dafür, dass Sachverhalte, die nicht zu klären sind, nicht besser kommuniziert worden sind. Das ist eine Pseudorationalisierung des Urteils.
Zitat von ZettelMan hat von den Wissenschaftlern Magie erwartet, und jetzt verurteilt man sie wie Hexen. Archaisches Denken.
Ja. Wobei die Rückkehr zu einfacheren Modellen nicht immer falsch sein muss.
Zitat "Earthquakes are complex natural processes with thousands of interacting factors, which makes accurate prediction of them virtually impossible. Earthquake prediction will only become possible with a detailed knowledge of the earthquake process. Even then, it may still be impossible."
Spätestens dann sollte man in der Kommission die Professoren aus Rom gegen die Kröten im Tümpel von L'Aquila auswechseln.
Übrigens kein Einzelfall im medizinischen Alltagsgeschäft und auch der Grund, warum Hippokrates von der Behandlung Todkranker abgeraten hat...aus Selbstschutz.
Zitat "Earthquakes are complex natural processes with thousands of interacting factors, which makes accurate prediction of them virtually impossible. Earthquake prediction will only become possible with a detailed knowledge of the earthquake process. Even then, it may still be impossible."
Spätestens dann sollte man in der Kommission die Professoren aus Rom gegen die Kröten im Tümpel von L'Aquila auswechseln.
Woran ich dachte ist sowas:
Zitat “We’re going to see scientific results that are correct, that are predictive, but are without explanation. We may be able to do science without insight, and we may have to learn to live without it. Science will still progress, but computers will tell us things that are true, and we won’t understand them.”
Das schrieb der Mathematikprofessor Steven Strogatz von der Cornell University in einer Science-Beilage der New York Times, die sich mit wissenschaftlichen Prognosen und Einschätzungen für das Jahr 2011 beschäftigte. Ich habe da eigentlich nur das Wort 'computers' durch 'toads' ersetzt. Wer mehr über solche 'kreativen Maschinen' erfahren will hier: Eureqa.
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