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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 38 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
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Zettel Offline




Beiträge: 20.200

23.10.2012 00:23
Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Wenn man von einem solchen Urteil liest, dann wird wieder einmal deutlich, welch eine Errungenschaft eine aufgeklärte Justiz ist, die nicht nach dem psychologischen Bedürfnis nach Genugtuung, sondern streng nach Schuld urteilt.

Das Gericht in L'Aquila, das gestern sechs Wissenschaftler und einen Beamten verurteilte, hat dieses zivilisatorische Niveau offenbar noch nicht erreicht.

Tehut Offline



Beiträge: 11

23.10.2012 01:44
#2 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Die Situation ist doch etwas komplexer, als es in den meisten Zeitungsberichten dargestellt wird. Lesenswert (in Englisch): http://rogerpielkejr.blogspot.de/2012/10...la-lawsuit.html

Leibniz Offline




Beiträge: 383

23.10.2012 02:26
#3 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Zettel
Sie hatten als Kommission am 31. März - zutreffend - konstatiert, daß es keine Anzeichen für ein bevorstehendes Erdbeben gab.

Das ist so nicht richtig.

(1) Es gab deutliche Warnzeichen. Viele kleine Tremors und am 30. März ein Erdbeben der Stärke 4. Viele Menschen bereiteten sich auf ein Verlassen der Häuser vor.

(2) Es war nicht die Aufgabe der Experten ein 'Erdbeben vorauszusagen', sondern die Wahrscheinlichkeit für ein heraufziehendes stärkeres Beben auf Grund dieser Ereignisse einzuschätzen und die Behörden darüber zu informieren.

(3) Am 31. März beratschlagten die sieben Experten und sagten im wesentlichen, dass es keinen Grund gibt, dass ein Schwarm kleinerer Ereignisse ein sicheres Vorzeichen für einen größeres Beben ist. Dabei sind möglicherweise auch Begründungen gefallen, die wohl falsch sind: dass kleine Ereignisse Energie freisetzen und somit die Lage verbessern.

(4) Die italienischen Zivilschutzbehörde gab daraufhin eine Presseerklärung ab, in der das verharmlosend dargestellt wurde. De Bernardinis sagte dabei grob dies: "Die Wissenschaftler sagen uns, es besteht keine Gefahr, denn es ist gibt ein kontinuierliche Entladung von Energie. Die Situation sieht günstig aus."

(5) Nach dieser Erklärung haben, so wird berichtet, viele der späteren Opfer ihre Meinung geändert und sind in ihren Häusern geblieben.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

23.10.2012 02:26
#4 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Tehut im Beitrag #2
Die Situation ist doch etwas komplexer, als es in den meisten Zeitungsberichten dargestellt wird. Lesenswert (in Englisch): http://rogerpielkejr.blogspot.de/2012/10...la-lawsuit.html

Vielen Dank für den Hinweis!

Allerdings überzeugt mich das nicht. Der Autor zitiert Science:

Zitat
Prosecutors didn't charge commission members with failing to predict the earthquake but with conducting a hasty, superficial risk assessment and presenting incomplete, falsely reassuring findings to the public. They have argued in court that the many tremors that L'Aquila experienced in the preceding months did provide at least some clues about a heightened risk.


Das klingt doch ein wenig nach Laienwissenschaft. Offenbar meint die Anklage besser als die Seismologen die Bedeutung dieser vorausgehenden Erschütterungen beurteilen zu können.

Dann schreibt Roger Pielke:

Zitat
The public concerns were the result of at least two factors: One was the recent occurrence of a number of small earthquakes. A second factor was the prediction of a pending large earthquake issued by Gioacchino Giuliani, who was not a seismologist and worked as a technician at Italy’s National Institute of Nuclear Physics.

The deputy chief and scientists held a short one-hour meeting and then a press conference, during which they downplayed the possibility of an earthquake.


Die Wissenschaftler haben also der Vorhersage eines Laien nicht geglaubt. Dafür wurden sie jetzt verurteilt?

Daß das, was die Laien befürchteten, tatsächlich eingetreten ist, bedeutet ja nicht, daß sie es mit guten Gründen fürchteten. Auch ein Heiler-Scharlatan kann jemandem per Irisdiagnose sagen, er haben Krebs, und das erweist sich dann zufällig als wahr.

Herzlich, Zettel

grenzenlosnaiv Offline



Beiträge: 88

23.10.2012 04:02
#5 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Zettel im Beitrag #4
Zitat von Tehut im Beitrag #2
Die Situation ist doch etwas komplexer, als es in den meisten Zeitungsberichten dargestellt wird. Lesenswert (in Englisch): http://rogerpielkejr.blogspot.de/2012/10...la-lawsuit.html

Vielen Dank für den Hinweis!

Allerdings überzeugt mich das nicht. Der Autor zitiert Science:

Zitat
Prosecutors didn't charge commission members with failing to predict the earthquake but with conducting a hasty, superficial risk assessment and presenting incomplete, falsely reassuring findings to the public. They have argued in court that the many tremors that L'Aquila experienced in the preceding months did provide at least some clues about a heightened risk.

Das klingt doch ein wenig nach Laienwissenschaft. Offenbar meint die Anklage besser als die Seismologen die Bedeutung dieser vorausgehenden Erschütterungen beurteilen zu können.


Wenn es wirklich so war, dann macht das die Sache schon deutlich komplizierter. Es ist ein Unterschied, ob ich etwas nicht vorhersage oder begründete Befürchtungen anderer damit zertreue, dass ich glaubhaft mache, ich wäre Experte, hätte Ahnung und es gäbe absolut keine Gefahr.
Wenn ich einem Blinden an einer Straße sage, er könne ruhig rübergehen, da kein Auto käme, obwohl er Motorgeräuche gehört hat und deswegen verunsichert ist und ich bin selbst stark kurzsichtig und dann kommt ein Auto und überfährt ihn, dann... würde ich mich wohl irgendwie schuldig fühlen.
Wenn man weder etwas wirklich vorhersagen, noch es ausschließen kann, dann soll man es einfach lassen. Zumindest wenn ein Irrtum Tote zur Folge haben kann.
Und dass die Seismologen die Bedeutung der vorausgehenden Erschütterungen anscheinend nicht gut beurteilt haben, sollte doch zumindest im Nachhinein unstrittig sein.

Solus Offline



Beiträge: 384

23.10.2012 04:11
#6 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von grenzenlosnaiv im Beitrag #5
Zitat von Zettel im Beitrag #4
Zitat von Tehut im Beitrag #2
Die Situation ist doch etwas komplexer, als es in den meisten Zeitungsberichten dargestellt wird. Lesenswert (in Englisch): http://rogerpielkejr.blogspot.de/2012/10...la-lawsuit.html

Vielen Dank für den Hinweis!

Allerdings überzeugt mich das nicht. Der Autor zitiert Science:

Zitat
Prosecutors didn't charge commission members with failing to predict the earthquake but with conducting a hasty, superficial risk assessment and presenting incomplete, falsely reassuring findings to the public. They have argued in court that the many tremors that L'Aquila experienced in the preceding months did provide at least some clues about a heightened risk.

Das klingt doch ein wenig nach Laienwissenschaft. Offenbar meint die Anklage besser als die Seismologen die Bedeutung dieser vorausgehenden Erschütterungen beurteilen zu können.

Wenn es wirklich so war, dann macht das die Sache schon deutlich komplizierter. Es ist ein Unterschied, ob ich etwas nicht vorhersage oder begründete Befürchtungen anderer damit zertreue, dass ich glaubhaft mache, ich wäre Experte, hätte Ahnung und es gäbe absolut keine Gefahr.
Wenn ich einem Blinden an einer Straße sage, er könne ruhig rübergehen, da kein Auto käme, obwohl er Motorgeräuche gehört hat und deswegen verunsichert ist und ich bin selbst stark kurzsichtig und dann kommt ein Auto und überfährt ihn, dann... würde ich mich wohl irgendwie schuldig fühlen.
Wenn man weder etwas wirklich vorhersagen, noch es ausschließen kann, dann soll man es einfach lassen. Zumindest wenn ein Irrtum Tote zur Folge haben kann.
Und dass die Seismologen die Bedeutung der vorausgehenden Erschütterungen anscheinend nicht gut beurteilt haben, sollte doch zumindest im Nachhinein unstrittig sein.


Ja, wer beurteilt denn, was begründet ist? Wenn die Wissenschaft allgemein garnicht in der Lage ist, zu etwas auch nur halbwegs korrekte Vorhersagen zu machen, wie kann es dann falsch sein, genau das auch zu sagen?

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

23.10.2012 07:09
#7 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von grenzenlosnaiv im Beitrag #5
Und dass die Seismologen die Bedeutung der vorausgehenden Erschütterungen anscheinend nicht gut beurteilt haben, sollte doch zumindest im Nachhinein unstrittig sein.

Wer vom Rathaus kommt, ist klüger. Hätten die Wissenschaftler denn, wenn sie keine Anzeichen für ein bevorstehendes Erdbeben hatten, sich dennoch für eine Evakuierung der Region aussprechen sollen?

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

23.10.2012 07:11
#8 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Solus im Beitrag #6
Wenn die Wissenschaft allgemein garnicht in der Lage ist, zu etwas auch nur halbwegs korrekte Vorhersagen zu machen, wie kann es dann falsch sein, genau das auch zu sagen?

Es geht ja, lieber Solus, nicht um "die Wissenschaft", sondern um die Vorhersage von Erdbeben. Wer da einen wissenschaftlichen Durchbruch schaffen würde, der hätte den Nobelpreis sicher.

Herzlich, Zettel

ratloser ( gelöscht )
Beiträge:

23.10.2012 08:07
#9 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Zettel im Beitrag #8
Zitat von Solus im Beitrag #6
Wenn die Wissenschaft allgemein garnicht in der Lage ist, zu etwas auch nur halbwegs korrekte Vorhersagen zu machen, wie kann es dann falsch sein, genau das auch zu sagen?

Es geht ja, lieber Solus, nicht um "die Wissenschaft", sondern um die Vorhersage von Erdbeben. Wer da einen wissenschaftlichen Durchbruch schaffen würde, der hätte den Nobelpreis sicher.

Herzlich, Zettel



Die Rigorosität, mit der ein italienisches Gericht dem allzu menschlichen Bedürfnis nachgekommen ist, dass bei jeder Katastrophe Individuen "schuld" sein müssen, wünschte man der italienischen Justiz auch mal auf anderen Gebieten...

Solus Offline



Beiträge: 384

23.10.2012 08:25
#10 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Zettel im Beitrag #8
Zitat von Solus im Beitrag #6
Wenn die Wissenschaft allgemein garnicht in der Lage ist, zu etwas auch nur halbwegs korrekte Vorhersagen zu machen, wie kann es dann falsch sein, genau das auch zu sagen?

Es geht ja, lieber Solus, nicht um "die Wissenschaft", sondern um die Vorhersage von Erdbeben. Wer da einen wissenschaftlichen Durchbruch schaffen würde, der hätte den Nobelpreis sicher.

Ja, da habe ich mich unklar ausgedrückt. Gemeint war: Wenn mit dem derzeitigen Stand der Forschung keine exakten oder auch nur annähernd exakten Vorhersagen zu etwas bestimmtem möglich sind, dann kann es nicht strafbewehrt sein, diesen Umstand klar auszusprechen. Meine Aussage bezog sich nur auf den bestimmten Zweig der Wissenschaft und im Hinblick auf die exakte Frage, nicht auf die grundsätzliche Möglichkeit, auf wissenschaftlicher Basis Aussagen zu einer beliebigen Frage zu machen.

Martin Offline



Beiträge: 4.129

23.10.2012 09:58
#11 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Solus im Beitrag #10
Ja, da habe ich mich unklar ausgedrückt. Gemeint war: Wenn mit dem derzeitigen Stand der Forschung keine exakten oder auch nur annähernd exakten Vorhersagen zu etwas bestimmtem möglich sind, dann kann es nicht strafbewehrt sein, diesen Umstand klar auszusprechen. Meine Aussage bezog sich nur auf den bestimmten Zweig der Wissenschaft und im Hinblick auf die exakte Frage, nicht auf die grundsätzliche Möglichkeit, auf wissenschaftlicher Basis Aussagen zu einer beliebigen Frage zu machen.


Gerichte nach westlichem Standard können nur urteilen, ob der Stand der Wissenschaft eingehalten wurde. Das dürfte durch gutachten zu beleuchten sein. Der 'Stand der Wissenschaft' schließt nicht mit ein, dass es vielleicht ein einzelnes Genie gibt, das überlegene Beurteilungsverfahren entwickelt hat, solange diese nicht wiederum zum 'Stand der Wissenschaft' geworden sind. Im englischen benutzt man die Begriffe 'generally accepted stae of the art' oder 'acknowledged state of the art': Das zeigt an, dass es einen Anerkennungsprozess gibt. Am solidesten ist natürlich eine auf statistischen Verfahren basierende Validation. Beim Vorhersagen von Erdbeben, deren Ort und Zerstörungskraft dürfte diese statistische Basis wegen weltweit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen dünn sein.

Gruß, Martin

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

23.10.2012 10:59
#12 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Ich habe zwar meine Zweifel, ob die Wissenschaftler in dieser Situation wirklich geschickt agiert und formuliert haben - aber das Urteil ist natürlich trotzdem skandalöser Unsinn.

Und was mich wirklich befremdet: Eigentlich gehören doch die Leute auf die Anklagebank, die für die Stabilität der eingestürzten Gebäude verantwortlich waren. Statiker, Baufirmen, Bauaufsicht, Eigentümer ...
Denn es ist m. W. doch so, daß moderne und sachgerecht errichtete Gebäude einen solchen Erdstoß aushalten müssen. Und "sachgerecht" bedeutet in einer für Erdbeben berüchtigten Region auch eine entsprechende Sicherheitszulage in der Statik.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

23.10.2012 11:07
#13 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Zettel im Beitrag #7
Wer vom Rathaus kommt, ist klüger. Hätten die Wissenschaftler denn, wenn sie keine Anzeichen für ein bevorstehendes Erdbeben hatten, sich dennoch für eine Evakuierung der Region aussprechen sollen?

Nach Tehuts Links haben sie ja gerade behauptet, Anzeichen zu haben, daß kein Erdbeben käme. Details aus der inkriminierten Pressekonferenz habe ich nicht, aber vertretbar wäre m.E. gewesen, entweder anhand des Musters der Vorbeben die (Null)Hypothese zu testen, daß kein Beben [im nächsten überschaubaren Zeitintervall] auftritt. Man kann auf diese Weise zwar nicht die Wahrscheinlichkeit für Fehlalarme unter Kontrolle halten, wohl aber die Wkeit für "übersehene" Erdbeben, wo man sagt: "keine Anzeichen gefunden". In der geologischen Literatur wird es dafür bestimmt schon halbwegs grobe Verfahren geben. Man hätte auch die Wkeiten für ein Beben oder für kein Beben in den nächsten Monaten abschätzen können. Die Nullhypothese auf das gefährliche Ereignis zu setzen (und die Wkeit für Fehlalarme gering zu halten), ist aber definitiv nicht sinnvoll.

Diesen wissenschaftlichen Fehler mit solch saftigen Strafen zu belegen, ist allerdings nicht korrekt. Sonst müßten die Staatsanwaltschaften ja Zweigstellen an den Universitäten einrichten, wo derlei oft passiert.

Leibniz Offline




Beiträge: 383

23.10.2012 13:03
#14 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Zettel im Beitrag #7
Hätten die Wissenschaftler denn, wenn sie keine Anzeichen für ein bevorstehendes Erdbeben hatten, sich dennoch für eine Evakuierung der Region aussprechen sollen?
Wie kommen Sie nur darauf? Selbstverständlich gab es Anzeichen, dass ein schweres Erdbeben bevorstehen könnte. Ich fasse einen Absatz zusammen aus Nature

Zitat
Im Schlussplädoyer der Anklage machte Staatsanwalt Fabio Picuti klar, dass die Wissenschaftler nicht vorgeworfen wird, das Erdbeben nicht vorhergesagt zu haben. "Auch sechsjährige Kinder wissen, dass Erdbeben nicht vorhergesagt werden können ", sagte Picuti. "Das Ziel des Treffens der Experten war ein ganz anderes: Die Wissenschaftler sollten beurteilen, ob die seismischen Ereignisse als Vorläufer eines größeren Ereignisses gedeutet werden können, zu beurteilen, welche Schäden zu diesem Zeitpunkt bereits passiert waren und zu diskutieren wie Risiken zu mindern sind. Picuti sagte, dass die Mitglieder des Komitee diese Verpflichtungen nicht erfüllt haben, und dass ihre Risikoanalyse fehlerhaft war, unzulänglich, nachlässig und irreführend, was dazu führte, dass falsche Informationen an die Bürger gegeben wurden.

In dem Prozess wurde deutlich, dass die Wissenschaftler die Arbeit, für die sie bezahlt wurden, eine Risikoanalyse zu erstellen mehr als nachlässig geführt haben mit der Folge dass kein adäquates Risikomanagement eingeleitet wurde. De Bernardinis sagte damals (zusammengefasst, nicht wörtlich): "Die Wissenschaftler sagen uns, es besteht keine Gefahr, denn es ist gibt ein kontinuierliche Entladung von Energie. Die Situation sieht günstig aus."

Der Chef der Expertengruppe, Barberi, saß daneben und widersprach nicht.

Thomas Pauli Offline




Beiträge: 1.486

23.10.2012 13:22
#15 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat
Hätten die Wissenschaftler denn, wenn sie keine Anzeichen für ein bevorstehendes Erdbeben hatten, sich dennoch für eine Evakuierung der Region aussprechen sollen?


Lieber Zettel,

genau darin liegt das Problem. Was wird denn in Zukunft passieren, wenn dieses Urteil Bestand haben sollte? Jede Institution, die belangt werden könnte, wird in Zukunft die allerschlimmste Variante aller möglichen Vorhersagen wählen, nur um sich selbst zu schützen. Das ist schön für die Medien, denn dann gibt's immer was zu "warnen", aber die Bevölkerung wird bald nichts mehr davon glauben. Das nennt man wohl das 'cry wolf' Syndrom.
Jede Abweichung von der größtmöglichen Wahrhaftigkeit erodiert das Ansehen.

Herzlich, Thomas

ratloser ( gelöscht )
Beiträge:

23.10.2012 13:30
#16 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Leibniz im Beitrag #14
Zitat von Zettel im Beitrag #7
Hätten die Wissenschaftler denn, wenn sie keine Anzeichen für ein bevorstehendes Erdbeben hatten, sich dennoch für eine Evakuierung der Region aussprechen sollen?
Wie kommen Sie nur darauf? Selbstverständlich gab es Anzeichen, dass ein schweres Erdbeben bevorstehen könnte. Ich fasse einen Absatz zusammen aus Nature

Zitat
Im Schlussplädoyer der Anklage machte Staatsanwalt Fabio Picuti klar, dass die Wissenschaftler nicht vorgeworfen wird, das Erdbeben nicht vorhergesagt zu haben. "Auch sechsjährige Kinder wissen, dass Erdbeben nicht vorhergesagt werden können ", sagte Picuti. "Das Ziel des Treffens der Experten war ein ganz anderes: Die Wissenschaftler sollten beurteilen, ob die seismischen Ereignisse als Vorläufer eines größeren Ereignisses gedeutet werden können, zu beurteilen, welche Schäden zu diesem Zeitpunkt bereits passiert waren und zu diskutieren wie Risiken zu mindern sind. Picuti sagte, dass die Mitglieder des Komitee diese Verpflichtungen nicht erfüllt haben, und dass ihre Risikoanalyse fehlerhaft war, unzulänglich, nachlässig und irreführend, was dazu führte, dass falsche Informationen an die Bürger gegeben wurden.
In dem Prozess wurde deutlich, dass die Wissenschaftler die Arbeit, für die sie bezahlt wurden, eine Risikoanalyse zu erstellen mehr als nachlässig geführt haben mit der Folge dass kein adäquates Risikomanagement eingeleitet wurde. De Bernardinis sagte damals (zusammengefasst, nicht wörtlich): "Die Wissenschaftler sagen uns, es besteht keine Gefahr, denn es ist gibt ein kontinuierliche Entladung von Energie. Die Situation sieht günstig aus."

Der Chef der Expertengruppe, Barberi, saß daneben und widersprach nicht.






Manoman, wenn man auf der Grundlage anfängt, Experten zu verurteilen, wird sich bald kein Experte mehr finden, der Expertisen erstellt. Die Sache ist doch hanebüchen. Die Siedlungen befinden sich in einer allen als solcher bekannten Erdbebenregion. Wer da wohnt, weiß genau, dass jederzeit ein schweres Erdbeben auftreten kann (siehe Assisi 1997).

Auch wenn der Staatsanwalt selber einräumt, "sechsjährige Kinder" wüssten schon, dass man Erdbeben nicht voraussagen könne, wurden die Beklagten genau aufgrund dieses Unvermögens verurteilt.

Am ehesten könnte man noch dem Verwaltungsangestellten Bernardo De Bernardinis vorwerfen, dass er im Bestreben, Panik zu vermeiden, die Expertenmeinung recht frei wiedergegeben hat. Ich habe leider nirgendwo gefunden, was denn von den Experten bei dem Treffen konkret geäußert wurde. Die Aussage Bernadinis ist jedenfalls so absurd, dass sie kaum von einem Seismologen geäußert worden sein kann.

Alles in allem erinnert mich der Prozess etwas an mittelalterliche Bräuche, bei denen menschliche Sündenböcke als Reaktion auf nicht kontrollierbare Naturgewalten gesucht, gefunden und geopfert wurden.

Johann Grabner Offline



Beiträge: 84

23.10.2012 13:33
#17 hindsight bias Antworten

Zitat von Leibniz im Beitrag #14
"Die Wissenschaftler sagen uns, es besteht keine Gefahr, denn es ist gibt ein kontinuierliche Entladung von Energie. Die Situation sieht günstig aus."

zum Zeitpunkt, wo er das gesagt hat, war das Stand der Wissenschaft. Es gibt täglich hunderte von Beben auf der Erde und kurzfristig zunehmende Bebenaktivität in einer bestimmten Region hat keine Vorhersagekraft. Das wissen wir spätestens seitdem DIE Profis wenn es um Erdbeben geht, die Japaner, das Tōhoku-Beben letztes Jahr nicht vorhersagen konnten:

Zitat

Some large earthquakes have foreshocks, and some don’t. How to (in advance) distinguish a foreshock from any other earthquake remains an enigma. There are, for example, more than 100 magnitude 6 to 7 earthquakes occurring each year, the vast majority of which are not foreshocks of huge earthquakes like the Japan quake. It would, therefore, not be practical to issue an earthquake prediction and call for evacuation every few days when these inevitable magnitude 6 to 7 earthquakes occur, on the slight chance that they might be foreshocks of a huge quake.


http://akafka.wordpress.com/2011/04/11/w...pan-earthquake/

das Problem in Italien ist der schwer abschüttelbare hindsight bias, also die Tatsache, daß wir heute etwas mit heutigem Wissen beurteilen, was vor dem Ereignis mit damaligem Wissen beurteilt wurde. Heute wissen wir, daß den Vorbeben ein großes Beben gefolgt ist und suchen alle möglichen Indizieren nach ihrer Eignung zur Ereignisvorhersage ab. Damals war aber die Wahrscheinlichkeit, daß innerhalb sagen wir einer Woche ein großes Beben folgen wird, nicht größer als zu jeder anderen Zeit.

Zitat

Even in areas where foreshocks are fairly common, there is no way of distinguishing a foreshock from an independent earthquake. In the Pacific Northwest, there is no evidence of foreshock activity for most historic earthquakes.

One well-known successful earthquake prediction was for the Haicheng, China earthquake of 1975, when an evacuation warning was issued the day before a M 7.3 earthquake. In the preceding months changes in land elevation and in ground water levels, widespread reports of peculiar animal behavior, and many foreshocks had led to a lower-level warning. An increase in foreshock activity triggered the evacuation warning. Unfortunately, most earthquakes do not have such obvious precursors. In spite of their success in 1975, there was no warning of the 1976 Tangshan earthquake, magnitude 7.6, which caused an estimated 250,000 fatalities.


http://www.ess.washington.edu/SEIS/PNSN/...prediction.html

wenn ein Test in 99,9% der Fälle ein false positive liefert, dann ist er wertlos. Und es würde nicht mal etwas nützen, wenn man immer nach einem kleinen Beben für tagelang ganze Landstriche evakuiert (wie absurd teuer das auch sein mag), weil es ja eben schwere Beben gibt, die ohne irgenwelche Vorankündigung auftreten. Das macht Schlußfolgerungen aus dem Auftreten von Vorbeben noch unmöglicher. Beliebig viele kleinere Beben in egal welcher Frequenz oder geographischen Häufung sind kein "Anzeichen" und das Ausbleiben von kleineren Beben ist keine Garantie, daß kein großes Beben kommt.

Daher war die Empfehlung, ruhig zu bleiben und Wein zu trinken, zu dem Zeitpunkt der wissenschaftlich gebotene Rat.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

23.10.2012 16:00
#18 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Solus im Beitrag #10
Zitat von Zettel im Beitrag #8
Zitat von Solus im Beitrag #6
Wenn die Wissenschaft allgemein garnicht in der Lage ist, zu etwas auch nur halbwegs korrekte Vorhersagen zu machen, wie kann es dann falsch sein, genau das auch zu sagen?

Es geht ja, lieber Solus, nicht um "die Wissenschaft", sondern um die Vorhersage von Erdbeben. Wer da einen wissenschaftlichen Durchbruch schaffen würde, der hätte den Nobelpreis sicher.

Ja, da habe ich mich unklar ausgedrückt. Gemeint war: Wenn mit dem derzeitigen Stand der Forschung keine exakten oder auch nur annähernd exakten Vorhersagen zu etwas bestimmtem möglich sind, dann kann es nicht strafbewehrt sein, diesen Umstand klar auszusprechen. Meine Aussage bezog sich nur auf den bestimmten Zweig der Wissenschaft und im Hinblick auf die exakte Frage, nicht auf die grundsätzliche Möglichkeit, auf wissenschaftlicher Basis Aussagen zu einer beliebigen Frage zu machen.


Danke für die Klärung! Tut mir leid, daß ich Sie mißverstanden hatte; war mein Fehler.

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

23.10.2012 16:21
#19 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Emulgator im Beitrag #13
Zitat von Zettel im Beitrag #7
Wer vom Rathaus kommt, ist klüger. Hätten die Wissenschaftler denn, wenn sie keine Anzeichen für ein bevorstehendes Erdbeben hatten, sich dennoch für eine Evakuierung der Region aussprechen sollen?

Nach Tehuts Links haben sie ja gerade behauptet, Anzeichen zu haben, daß kein Erdbeben käme.

Ich hatte, lieber Emulgator, vor meiner Antwort diesen Blogeintrag von Roger Pielke jr. gelesen und ihn nicht überzeugend gefunden. Ich habe Ihn jetzt nach Lektüre Ihrer Anmerkung nochmals gründlich gelesen.

Ich kann auch danach nichts darin finden, was ein Verschulden der Wissenschaftler begründen könnte. Sie haben sich gegen einen Außenseiter ausgesprochen, der das zu können behauptete, was kein seriöser Wissenschaftler behauptet; nämlich ein Erdbeben vorherzusagen. Sie haben - was ja bei einem solchen Gremium von Experten nicht aus der Luft gegriffen gewesen sein dürfte - darauf hingewiesen, daß leichte Beben die Wahrscheinlichkeit eines schweren Bebens verringern können, weil sie Spannungen abbauen.

Das ist das Faktenbezogene. Ansonsten wird ja nur über die Sicht der Anklage berichtet (Hervorhebungen von mir):

Zitat
Prosecutors didn't charge commission members with failing to predict the earthquake but with conducting a hasty, superficial risk assessment and presenting incomplete, falsely reassuring findings to the public. They have argued in court that the many tremors that L'Aquila experienced in the preceding months did provide at least some clues about a heightened risk.


Mit anderen Worten, die Anklage meint, sie können die geologische Situation vor dem Beben besser beurteilen als die Experten, die damit beauftragt worden waren.

Mir ist aufgefallen, daß in keinem der Prozeßberichte von Gutachtern der Anklage die Rede ist. Wenn tatsächlich die Angeklagten die Anzeichen grob falsch gedeutet haben sollten, gegeben den Stand der Wissenschaft - dann hätte die Anklage das doch anhand von Gutachten zeigen müssen; man hätte vergleichbare Beben hinzuziehen müssen, in denen Wissenschaftler solche Anzeichen richtig gedeutet hatten.

Nichts davon. Die Wissenschaftler haben geirrt, wie das jedem Wissenschaftler immer wieder passiert. Dafür sollen sie jetzt ins Gefängnis. Ich bleibe dabei, lieber Emulgator: Ein Skandalurteil.



Die Konsequenz für jeden italienischen Geologen, der sich mit Erdbeben befaßt, kann nur sein: Künftig den Mund halten. Nichts sagen, auch wenn man Sorgen hat, es könne ein Beben bevorstehen.

Denn wenn man zu Unrecht gewarnt hat, dann wird man nach der Logik dieses Gerichts in L'Aquila ja vermutlich für den Schaden haftbar gemacht werden, der durch unnötige Evakuierungen usw. entstand. Und wenn dabei Menschen zuschaden kamen, dann dürfte wiederum Gefängnis drohen.

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

23.10.2012 16:30
#20 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Leibniz im Beitrag #14
Zitat von Zettel im Beitrag #7
Hätten die Wissenschaftler denn, wenn sie keine Anzeichen für ein bevorstehendes Erdbeben hatten, sich dennoch für eine Evakuierung der Region aussprechen sollen?
Wie kommen Sie nur darauf? Selbstverständlich gab es Anzeichen, dass ein schweres Erdbeben bevorstehen könnte. Ich fasse einen Absatz zusammen aus Nature

Zitat
Im Schlussplädoyer der Anklage machte Staatsanwalt Fabio Picuti klar, dass die Wissenschaftler nicht vorgeworfen wird, das Erdbeben nicht vorhergesagt zu haben. "Auch sechsjährige Kinder wissen, dass Erdbeben nicht vorhergesagt werden können ", sagte Picuti. "Das Ziel des Treffens der Experten war ein ganz anderes: Die Wissenschaftler sollten beurteilen, ob die seismischen Ereignisse als Vorläufer eines größeren Ereignisses gedeutet werden können, zu beurteilen, welche Schäden zu diesem Zeitpunkt bereits passiert waren und zu diskutieren wie Risiken zu mindern sind. Picuti sagte, dass die Mitglieder des Komitee diese Verpflichtungen nicht erfüllt haben, und dass ihre Risikoanalyse fehlerhaft war, unzulänglich, nachlässig und irreführend, was dazu führte, dass falsche Informationen an die Bürger gegeben wurden.
In dem Prozess wurde deutlich, dass die Wissenschaftler die Arbeit, für die sie bezahlt wurden, eine Risikoanalyse zu erstellen mehr als nachlässig geführt haben mit der Folge dass kein adäquates Risikomanagement eingeleitet wurde. De Bernardinis sagte damals (zusammengefasst, nicht wörtlich): "Die Wissenschaftler sagen uns, es besteht keine Gefahr, denn es ist gibt ein kontinuierliche Entladung von Energie. Die Situation sieht günstig aus."

Der Chef der Expertengruppe, Barberi, saß daneben und widersprach nicht.


Das ist die Sicht der Anklage, lieber Leibniz. Der Ankläger Picuti nennt die Analyse der Wissenschaftler flawed, inadequate, negligent and deceptive; Sie haben das ja übersetzt. Auf welche Gutachten stützt er sich dabei? Oder ist das sein Eindruck als der eines Juristen, der über Geologie urteilt?

In dem verlinkten Artikel ist von dem Plädoyer der Verteidigung nicht die Rede, weil dieses noch bevorstand. Der Bericht ist dadurch einseitig.

Herzlich, Zettel

FTT_2.0 Offline



Beiträge: 537

23.10.2012 16:57
#21 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Zettel im Beitrag #19

Die Konsequenz für jeden italienischen Geologen, der sich mit Erdbeben befaßt, kann nur sein: Künftig den Mund halten. Nichts sagen, auch wenn man Sorgen hat, es könne ein Beben bevorstehen.

Denn wenn man zu Unrecht gewarnt hat, dann wird man nach der Logik dieses Gerichts in L'Aquila ja vermutlich für den Schaden haftbar gemacht werden, der durch unnötige Evakuierungen usw. entstand. Und wenn dabei Menschen zuschaden kamen, dann dürfte wiederum Gefängnis drohen.




Der Präsident der aktuellen Kommission, also der Nachfolger der Angeklagten, ist mittlerweile unter einer ähnlichen Begründung zurückgetreten. Weitere Rücktritte werden erwartet.
http://www.corriere.it/cronache/12_ottob...0ed15c6ac.shtml

Auch führende Politiker zeigen sich kritisch gegenüber dem Urteil:

Zitat von eigene Übersetzung
„Das ist ein etwas seltsames und peinliches Urteil: wer in Zukunft herbeigerufen wird, diese Rollen auszuführen, wird sich scheuen“ erklärte der Präsident des Senats, Renato Schifani. „Dieses Urteil ist der Tod des Rechtsstaats und eine Verrücktheit der reinsten Sorte“, kommentierte der Führer der UDC, Pier Ferdinando Casini.


http://www.corriere.it/cronache/12_ottob...a2a76be41.shtml

Christoph Offline




Beiträge: 241

23.10.2012 17:04
#22 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Die westliche Welt leidet an einer Krankheit, die sie vielleicht nicht überleben wird:
eine extreme Aversion gegen das Risiko.
Das Urteil von L‘Aquila ist ein Symptom von vielen.

Noch können wir Freiheit, Fortschritt und Wohlstand genießen; der Preis dafür ist die Gefahr.
Viele scheinen das inzwischen anders zu sehen und glauben, dass es so etwas wie den Zufall nicht geben könnte
(für jeden Unfall, jede Krise, jedes Problem existiert ein Schuldiger, der zur Verantwortung zu ziehen ist),
oder dass man den Preis des Risikos nicht mehr bezahlen sollte, und lieber bewahrt was man hat:
einen Bahnhof über der Erde
Bäume voller Juchtenkäfer
eine Landwirtschaft ohne Gentechnik
eine Medizin ohne Stammzellforschung.

In diesem Klima gilt: „wer verhindert hat recht“ und dabei gerät leider außer Vergessenheit,
dass es Dinge gibt, die es wert sind, ein Risiko einzugehen. Würden die Gebrüder Wright noch leben,
hätte man sie schon längst eingesperrt, für all die Flugzeugunfälle, die sie durch die Erfindung des
Flugzeugs fahrlässig herbeigeführt haben.

Reader Offline



Beiträge: 803

23.10.2012 17:05
#23 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Zettel im Beitrag #20
Zitat von Leibniz im Beitrag #14
Zitat von Zettel im Beitrag #7
Hätten die Wissenschaftler denn, wenn sie keine Anzeichen für ein bevorstehendes Erdbeben hatten, sich dennoch für eine Evakuierung der Region aussprechen sollen?
Wie kommen Sie nur darauf? Selbstverständlich gab es Anzeichen, dass ein schweres Erdbeben bevorstehen könnte. Ich fasse einen Absatz zusammen aus Nature

Zitat
Im Schlussplädoyer der Anklage machte Staatsanwalt Fabio Picuti klar, dass die Wissenschaftler nicht vorgeworfen wird, das Erdbeben nicht vorhergesagt zu haben. "Auch sechsjährige Kinder wissen, dass Erdbeben nicht vorhergesagt werden können ", sagte Picuti. "Das Ziel des Treffens der Experten war ein ganz anderes: Die Wissenschaftler sollten beurteilen, ob die seismischen Ereignisse als Vorläufer eines größeren Ereignisses gedeutet werden können, zu beurteilen, welche Schäden zu diesem Zeitpunkt bereits passiert waren und zu diskutieren wie Risiken zu mindern sind. Picuti sagte, dass die Mitglieder des Komitee diese Verpflichtungen nicht erfüllt haben, und dass ihre Risikoanalyse fehlerhaft war, unzulänglich, nachlässig und irreführend, was dazu führte, dass falsche Informationen an die Bürger gegeben wurden.
In dem Prozess wurde deutlich, dass die Wissenschaftler die Arbeit, für die sie bezahlt wurden, eine Risikoanalyse zu erstellen mehr als nachlässig geführt haben mit der Folge dass kein adäquates Risikomanagement eingeleitet wurde. De Bernardinis sagte damals (zusammengefasst, nicht wörtlich): "Die Wissenschaftler sagen uns, es besteht keine Gefahr, denn es ist gibt ein kontinuierliche Entladung von Energie. Die Situation sieht günstig aus."

Der Chef der Expertengruppe, Barberi, saß daneben und widersprach nicht.


Das ist die Sicht der Anklage, lieber Leibniz. Der Ankläger Picuti nennt die Analyse der Wissenschaftler flawed, inadequate, negligent and deceptive; Sie haben das ja übersetzt. Auf welche Gutachten stützt er sich dabei? Oder ist das sein Eindruck als der eines Juristen, der über Geologie urteilt?

In dem verlinkten Artikel ist von dem Plädoyer der Verteidigung nicht die Rede, weil dieses noch bevorstand. Der Bericht ist dadurch einseitig.

Herzlich, Zettel



Lieber Zettel,
vielleicht hast du diesen Artikel von Alexandra Petri in der Opinion Section der gestrigen Washington Post ja schon gelesen:
http://www.washingtonpost.com/blogs/comp...88962_blog.html
Italian scientists found guilty of manslaughter for failure to perform magic
Mit einem herzlichen Gruß,
R.r

Zettel Offline




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23.10.2012 17:52
#24 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Christoph im Beitrag #22
Die westliche Welt leidet an einer Krankheit, die sie vielleicht nicht überleben wird:
eine extreme Aversion gegen das Risiko.
Das Urteil von L‘Aquila ist ein Symptom von vielen.

Noch können wir Freiheit, Fortschritt und Wohlstand genießen; der Preis dafür ist die Gefahr.
Viele scheinen das inzwischen anders zu sehen und glauben, dass es so etwas wie den Zufall nicht geben könnte
(für jeden Unfall, jede Krise, jedes Problem existiert ein Schuldiger, der zur Verantwortung zu ziehen ist),
oder dass man den Preis des Risikos nicht mehr bezahlen sollte, und lieber bewahrt was man hat: (...)

Ich stimme Ihnen zu, was die Rundum-sorglos-Mentalität in vielen westlichen Gesellschaften angeht; am ausgeprägesten vermutlich in Skandinavien und Deutschland.

Vielleicht hat das bei diesem Urteil auch eine Rolle gespielt. Ich sehe es aber eher in dem in dem Artikel angedeuteten archaischen Kontext: Wenn eine Katastrophe geschehen ist, dann sucht man nach Schuldigen. Früher waren das die Juden, die Zigeuner, Hexen mit dem bösen Blick usw. Es ist im Grunde egal, wenn man aussucht - jedenfalls fühlen sich die Opfer besser, wenn man Schuldige am Schlaffitchen hat.

Warum es eigentlich dieses Bedürfnis gibt, ist eine ganz interessante Frage. Offenbar kann man Leid besser ertragen, wenn man es einem Urheber attribuieren kann, der dafür drakonisch bestraft wird.

Das ist alles das Übliche in archaischen Gesellschaften. Daß offenbar auch die italienische Justiz in Teilen noch nach dieser Mentalität funktioniert, gibt zu denken. Zumal man als Sündenbock ja nicht mächtige Politiker oder Bauunternehmer augeguckt hat, sondern Wissenschaftler, die keine andere Lobby haben dürften als die von anderen Wissenschaftlern, die einen Offenen Brief schreiben.

Mir scheint deshalb zum Hintergrund auch das Ressentiment gegen die Wissenschaft und ihrer Vertreter zu gehören.

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

23.10.2012 18:00
#25 RE: Zitat des Tages: Das Urteil von L'Aquila Antworten

Zitat von Reader im Beitrag #23
vielleicht hast du diesen Artikel von Alexandra Petri in der Opinion Section der gestrigen Washington Post ja schon gelesen:
http://www.washingtonpost.com/blogs/comp...88962_blog.html
Italian scientists found guilty of manslaughter for failure to perform magic.


Nein, hatte ich noch nicht, dear Reader - habe ich aber jetzt mit Vergnügen getan. Sehr gut geschrieben und ganz auf meiner Linie:

Zitat
What’s next? Are we going to sue the weather forecasters for crop failures? “The doctor said there was a 100 percent probability that I would die on a day that ended in ‘day,’ so I’m never leaving the house again!” Where does this lead?

This is a horrible, medieval precedent to set. This is like when they used to behead the doctor when the king died. Except that it is really happening, and these scientists might actually have to spend years in jail for failing to do something that is NOT SCIENTIFICALLY POSSIBLE, all because people don’t understand how probability and risk work.


Alexandra Petri war mir noch gar nicht aufgefallen. Scheint ja eine begabte junge Frau zu sein; und für Talkshows etc. noch zu buchen.

Herzlich, Zettel

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