Das Jahr war 1991 - in Ost- und Mitteleuropa wurde gerade Geschichte geschrieben.
Ein damaliger Parteifreund, Leiter der Jugoslawienredaktion eines großen Rundfunksenders, war von Freunden aus dem Kosovo auf die prekäre Situation jenseits der Grenze hingewiesen worden, wo die alten Strukturen weitgehend verschwunden, aber noch keine neuen entstanden waren. Es fehlte an fast allem.
Die großen, etablierten Hilfswerke winkten mehr oder weniger ab; man wusste dort fast nichts über Albanien, hätte erst mal fact-finding missions dorthin schicken müssen etc. Von der Frau des Cap Anamur Gründers bekam mein Bekannter den Tipp: "Wenn Sie schnell und unbürokratisch helfen wollen, müssen Sie selber einen Verein gründen." Das taten wir dann auch, mit einigen prominenten Mitgliedern, die Türen öffnen konnten und deren Namen u.a. die Veröffentlichung von Pressemitteilungen beschleunigte, und diversen Leuten aus unserer Gemeinde, zumeist auch Parteifreunde.
Im Herbst brachten wir dann unseren ersten Konvoi in das von uns häufig so titulierte "Land der Skipetaren" - der Begriff war den meisten Lesern der Lokalzeitungen eher vertraut als alle Schilderungen des echten Albanien. Die meisten meiner damaligen Kollegen vermuteten das Land irgendwo weit hinter dem Ural, oder im Kaukasus.
Es wurde für mich zu einer unvergesslichen Erfahrung. An Bord der Fähre, die uns von Triest über Bari nach Durres brachte, befanden sich viele Albaner aus dem Kosovo und Mazedonien, denen der Landweg in die Heimat aufgrund der bereits ausgebrochenen Kämpfe in Ostslawonien zu riskant war. In Bosnien war es zu der Zeit noch ruhig, wenn auch gespenstisch ruhig. Unser Vorsitzender, der aufgrund seines Berufs viele der maßgeblichen Personen auf Seiten der Konfliktparteien kannte, sagte damals bereits: "Wenn die Kämpfe in Bosnien ausbrechen, wird es ganz furchtbar."
Am ersten Tag der Fährüberfahrt saß sich mit einem Kosovaren an Deck; er blickte in Richtung der kroatischen Küste, wo in der Krajna bereits gekämpft wurde, und sagte: "Da drüben ist jetzt Krieg. Ich kann das nicht glauben, vor ein paar Jahren waren wir doch alle noch Jugos."
Wir erlebten in Albanien Menschen, deren Offenheit und Gastfreundschaft überwältigend war - bei Essenseinladung sogar ein wenig gesundheitsgefährdend, zumindest was den Body Mass Index angeht. Dabei hatten sie doch kaum genug zum Leben.
Wir erlebten natürlich auch, welchen Druck und welche Ängste die Menschen in den Jahrzehnten zuvor erlebt hatten. Die alten Kräfte waren noch nicht verschwunden - ich erinnere mich, dass wir mit albanischen Freunden in einem Café saßen, als mehrere Männer mit Sonnenbrillen eintraten und sich an den Nachbartisch setzten. Unsere Freunde drängten zum Aufbruch. Draussen sagten sie nur: "Sigurimi."
Das Ganze ist schon über zwanzig Jahre her - wie gerne würde ich noch einmal nach Albanien zurückkehren, nur um zu sehen, wie sich das Land entwickelt hat. Seit über zwanzig Jahren ist der Eiserne Vorhang weg; und immer noch wissen wir ziemlich wenig über unsere Nachbarn östlich der Oder oder südöstlich von Wien. Gewiss, viele Westeuropäer sind in den letzten Jahren schon mal in Prag oder Budapest gewesen, in Krakau oder Riga. Bittet man sie aber, Tirana oder Belgrad, Skopje oder Sofia, Chisinau oder Kiew auf der Landkarte zu lokalisieren, dann werden die meisten ziemlich ins Schleudern kommen.
Kleine Randbemerkung: als ich vor etwa zehn Jahren einem guten Freund eröffnete, dass ich eine Frau aus Moldawien kennengelernt hatte - heute meine bessere Hälfte - da fragte er mich: "Moldawien, wo liegt das denn?" Ich erklärte ihm, dass Moldawien zwischen Rumänien und der Ukraine liegt. Dies führte zu einer seltsamen Bemerkung seinerseits: "Ach - ich hatte garnicht gewusst, dass das so groß war." Nun war es an mir, nachzuhaken: "Das was so groß war?" - Seine Antwort mag symptomatisch für unseren allgemeinen Wissensstand sein: "Na, dass Jugoslawien so groß war..." - Er hatte Moldawien wohl mit Mazedonien oder Montenegro verwechselt!
Zitat von Carlo M Dimhofen im Beitrag #1Das Jahr war 1991 - in Ost- und Mitteleuropa wurde gerade Geschichte geschrieben.
Danke für diesen schönen Beitrag!
Zu den Begleiterscheinungen der kommunistischen Herrschaft über Ost- und Südosteuropa gehörte ja auch, daß wir im Westen nur diesen monolithischen "Ostblock" sahen. Prag, westlich von Wien gelegen, gehörte dazu ebenso wie das einst venezianische Ragusa, nun Dubrovnik, und die schöne Stadt der des k.u.k. Reichs Fiume, dann Rijeka.
Das Land der Skipetaren, ja. Für mich alten Karl-May-Fan das Land des Schut. ;-)
Und für Linke in Deutschland einst der schlechthinnige Hoffnungsträger, als dort Enver Hodscha regierte. Hoffnungsträger und Geldgeber.
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