... mit dem Versuch einer nun doch längeren Einleitung von mir.
Lateinamerika ist eine uns verwandte aber andere Kultur, die nicht leicht zu begreifen ist.
Gerade die Fremdheit ermöglicht es, dorthin eigene Träume zu projizieren. So konnte Chávez kurzzeitig zu so etwas wie eine Lichtgestalt orientierungsloser europäischer Linker werden. Erinnert mich an einen Satz in Mario Vargas Llosas Roman "Der Krieg am Ende der Welt".
Las mentiras machacadas días y noche se vuelven verdades. Die Tag und Nacht wiederholten Lügen werden zu Wahrheiten.
Der von Chávez unermüdlicher Energie in Gang gesetzte und aufrechterhaltende Zirkus. Grelles Licht, das die wahren Konturen des von ihm regierten Landes verschwimmen ließ.
Pablo Neruda beschreibt in seiner Autobiographie seine Konversion zum Kommunismus in den 20ern oder 30ern damit, dass er plötzlich Empathie für diese Armen empfand, die er vorher nicht wahrgenommen hat. Ein Gefühl nach einem langen Auslandsaufenthalt als Botschafter in Rangoon. Gesellschaften mit einer starken sozialen Ungleichheit entwickeln andere Perspektiven. Ich bin entschiedener Anti-Kommunist, aber die Wurzel von Nerudas Protest kann ich sehr gut nachvollziehen, auch wenn Armut in Chile heute anders aussieht als zu seinen Zeiten. Ich war oft dort und zweimal lange. Chávez echte Empathie mit den Benachteiligten erzeugte ein emotionales Band. Dieses Band war der Rohstoff seiner Wahlerfolge. Emotionen sind leider ein schlechter Ratgeber für Regierung und Management. Und letzteres war sein Job.
Natürlich das Glück, dass venezolanisches Erdöl in den letzten 5 Jahren vor Chávez erster Präsidentschaft 15 bis 30 $ je barrel kostete und dann seit 2002 anstieg auf 80 bis 100$.
Die zerstörerischen Auswirkungen seiner Regierungszeit wird aus meiner Sicht erst in den nächsten Jahren sichtbar.
Liege ich falsch mit der Annahme, dass die Menschen in Lateinamerika oft nur die Wahl zwischen Scylla und Charybdis haben, also zwischen Repräsentanten einer quasi-feudalistischen Oberschicht und selbstherrlichen, wirtschaftlich herumstümpernden Caudillos?
-- L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat) Je länger das Dritte Reich tot ist, um so stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen. (Johannes Gross)
So negativ sehe ich es auch nicht. Die Verdammung der Alternativen oder Vorgänger gehört zur Taktik der linken Ideologen. Und dieser Zynismus wird der menschlichen Spezies nicht gerecht, auch wenns Südamerikaner bzw. deren Politiker sind, um es böse auszudrücken. Ich kanns nicht mehr hören.
Die Vierte Republik Venezuelas 1958 bis 1998 hatte neben Schatten eben auch Licht. Da gabs natürlich eine sich verfestigende institutionalisierte Ausgrenzung, immer weniger Aufstiegsmöglichkeiten, etc. Darin verloren immer mehr den Glauben. 1982 bis ca 2001 war eine lange Phase niedriger Ölpreise. Die Vierte Republik ist viel hoffnungsmutiger gestartet und hatte Erfolge. Heute sagen die Frohnaturen auf Telepolis "Chávez hat ein öffentliches Bildungssystem eingerichtet". Chávez selbst hat gratis eine öffentliche Schule besucht... wie praktisch alle Kinder seiner Generation und der folgenden. Die öffentlichen Krankenhäuser, das gute Straßennetz, der vergleichsweise gute öffentliche Nahverkehr. Alles Dinge, die in den 70ern und Anfang der 80er hochgezogen wurden und die Chávez trotz der höchsten Erdöleinnahmen der Geschichte vergammeln liess.
Es gibt ja Fortschritte. Chile hat beispielsweise heute ein BIP pro Einwohner von 18.400$ Kaufkraftparität. Knapp hinter Ungarn, vor praktisch allen Balkan-Staaten, der Ukraine und Rußland, um es geographisch ein wenig mehr in die Nähe zu rücken. Das wurd jetzt in 15 Jahren verdoppelt. Nochmal so eine Verdoppelung und die wären fast so produktiv pro Einwohner wie wir. Die Rohstoffpreise helfen gewaltig und die werden noch eine längere Zeit dort bleiben wo sie sind. Der Gini bleibt "Weltspitze", aber das hat imho auch mit einem zum Teil mit neoliberales Denken trifft auf verfestigte Klassengesellschaft zu tun. Das Faß möchte ich aber hier gar nicht aufmachen.
Trotz der skandalösen Features im Bildungssystem werden 70% der aktuellen Schüler-Generation die Hochschulreife erreichen, d.h. bis zur 12. Klasse zur Schule gehen. Bei sich stetig verbessernden PISA Ergebnissen. Der Markt für die entsprechenden Arbeitsstellen hat sich dramatisch ausgeweitet, bei oft sinkenden Löhnen in Vergleich zu dem sehr exklusiven Status der wenigen Universitäts-Absolventen vor sagen wir 30 Jahren. Bei natürlich hohen Studiengebühren mit Wucherzinsen von 8% vor den Protesten. Ab dieses Jahr sinds 2%, also unter Inflationsrate. Schon mal ein RIESEN-Fortschritt. Ich kenn einige, die das abgestottert haben und andere, die es eben nicht bezahlt haben, und damit lebenslänglich auf die kredit-unberührbaren Liste DICOM landeten und damit in ihrem Leben keine Kreditkarte besitzen werden und für viele Jobs sich wg DICOM nicht mal bewerben können. Ich rede hier über Absolventen von Universitäten mit Diplom.
In Mexiko werden heute mehr Ingeniöre ausgebildet als in Deutschland. Mexikanische Auto-Fabriken haben die besten Qualitäts-Werte in Nordamerika. Wir reden hier nicht über Bohnenfarmer.
Natürlich lastet das Beziehungsgeflecht der Klassengesellschaft stark auf den Chancen. Andererseits diffundieren angesichts des real existierenden Wirtschaftswachstums immer mehr Leute in den gut bezahlten Bereich. Ich kenn eine resoluten Mutter, die als Dienstmädchen quasi aufgewachsen und dies geblieben ist. Zwischenzeitlich hat sie für ca. 170 Euro härteste Landwirtschafts-Jobs gemacht. Ihr Lebenspartner arbeitet seit 25 Jahren für die gleiche Baufirma als Maurer. Die haben 3 Kinder. Jeder mit anderen Vater. Der älteste wird bald ein E-Technik Studium beginnen. Mit Stipendium an einer okayen Uni. Ein 1er Schüler auf einer vergleichsweise schlechten Schule. Sein 13-jähriger Bruder ist so ähnlich. Die haben gute Chancen, ihren Weg zu gehen.
Die lange Phase der demokratischen Grundordnung führt zu einer Verfestigung der Gewaltenteilung. Die Justiz hat in den letzten 4 Jahren in mindestens 6 großen Fällen gegen das Establishment entschieden, dass ja mit S. Piniera den Präsidenten stellt. Vor 10 Jahren wären die Entscheidungen zumindest in 4 dieser Fälle so sehr unwahrscheinlich gewesen. Die Verbraucherschutzbehörde SERNAC agiert zwar oft seltsam, aber eben nicht immer.
Ich ärger mich oft über die traditionelle Presse, aber die wichtigen Informationen bekommt man dort auch. Daneben gibts inzwischen viel und hochwertige kritische Print- und Web-Medien, über die ich mich auch oft ärgere, nur halt aus anderen Gründen. Auch dort hervorragende sachliche, unideologische und investigative Information.
LAN Chile ist heute die Qualitätsgesellschaft für Flüge in den Anden-Raum. Iberia, Air France und die US-Amerikaner sind meist ein bischen billiger aber eben auch schlechter und bei 13 Stunden Flug von Madrid... oder die 10 + 10 Stunden Nummer über die USA...
In den 15 Jahren seitdem ich das Land kenne, immer bessere Straßen, Verkehrsmittel und öffentliche Gebäude.
Daneben viel Schmutz, Verzweiflung und unhaltbare Lebensumstände, was ich en detail nur langsam verstanden habe. Politiker, die Bildungs-Hoffnungen für zwei Generationen von Kindern ungebildeter Eltern dahingehend ausbeuten, dass sie aus gemäss Gesetz eigentlich nicht-profit Einrichtungen einen solchen Gewinn ziehen, dass diese Institutionen für 100 Mio Dollar den Eigentümer wechseln. Und der ihre Bilanzen waren über Jahre sehr geheim und der Zugang zu den Positionen sehr eingeschränkt. Ich sag denen: "Die Nummer in Deutschland und die gesamte Familie Joaquín Lavíns müsste das Land verlassen". In Chile bekommt der Mann ein neues Ministerium und erholt sich gerade von seinen schlechten Umfragewerten (http://de.wikipedia.org/wiki/Joaqu%C3%ADn_Lav%C3%ADn). Viele Beispiele mehr. Die Bettgeschichten eines mir bekannten Homosexuellen auch gerade mit Leuten mit Geld und Macht. Viel Koks, sehr verrückt, sehr archaisch... ich glaub nicht, dass das in Deutschland in den Details so abläuft.
Aber ganz sicher eine erwachende und sich immer rationaler artikulierende Zivilgesellschaft. Die "gewachsenen Ansprüche" der Gesellschaft, von denen in den traditionellen Medien so viel die Rede ist. Aus meiner Sicht: Der langsame Beginn von Normalität.
In Brasilien erstmals ernsthafte Prozesse gegen korrupte Politiker. Im Andenraum Bergbauprojekte, für die Gerichte ernsthafte soziale und ökologische Auflagen durchsetzen.
Bolivien und Ecuador werden vergleichsweise gut regiert. Das kann man nicht mit Venezuela in einen Topf werfen: Funktionierende Bildungsreformen. Bessere Infrastruktur. Auch wirkliche Partizipation der Zivilgesellschaft an den politischen Entscheidungs-Prozessen wie nie in der Geschichte. Eine verantwortungsvolle Geld- und Fiskalpolitik. Wie sich das alles bei sinkenden Rohstoffpreisen verhalten wird, vermag ich nicht zu sagen. Nur damit ist gottseidank auch nicht zu rechnen.
Noch 10 solche Jahre mit diesen Rohstoffpreise und dem zugehörigen wirtschaftlichen Grundrauschen für Chile. Noch 20 für Peru. Australien geht es gut.
Venezuela mit dem ganzen bolivarischen Zirkuszauber. Weltrekord in der Mord-Rate. 65 pro 100.000 Einwohner, offiziell 49 aber selbst die Statistik ist gefälscht. 1998 waren das 19. Auch damals schon sehr viel. Chile hat 2,0. Deutschland 0,8. Brasilien 21. Eine Verschuldung von alles zusammengerechnet inklusive ausstehende Entschädigungen für Verstaatlichungen, die deals mit China, die Bonds des staatlichen Ölkonzerns PVDSA, die "normalen" Staatsschulden von vielleicht 60 bis 80% BIP. Ein bedeutender Teil zu Zinsen von 14%!!! Eine verottete Infrastruktur. Eine gespaltene Gesellschaft mit einem Großteil der besser Ausgebildeten in Kanada, den USA, anderen lateinamerikanischen Staaten. Eine große ideologisierte Gruppe, die gewalttätigen Trash-Talk gewohnt ist. Chávez war sehr speziell. Chávez war im regionalen Vergleich nicht besonders übel charakterlich. Da gabs viel schlimmere strongmen. Aber er war möglicherweise aus reiner Management-Unfähigkeit mit Hinblick auf die Entwicklung des Landes echt sehr kostspielig. http://www.americasquarterly.org/Chavez-leaves-a-mess
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