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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 13 Antworten
und wurde 1.602 mal aufgerufen
 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.404

11.04.2017 00:32
Zeitmarke: Пломбированный вагон - der versiegelte Zug Antworten



"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire

Florian Offline



Beiträge: 3.171

11.04.2017 01:48
#2 RE: Zeitmarke: Пломбированный вагон - der versiegelte Zug Antworten

Zitat
Wenn es denn die Möglichkeit gäbe, ein einziges Ereignis der Weltgeschichte ungeschehen zu machen - (...)



Ihre Wahl ist plausibel.

Mein Vorschlag wäre der Schuss des Gavrilo Princip auf Erzherzog Ferdinand.
Weil es - noch mehr als Lenins Zugfahrt - wirklich an der Wurzel der europäischen Katastrophe im 20. Jahrhundert liegt.

(In Serbien hat man übrigens erst jüngst wieder Statuen zu Ehren von Gavrilo Princip aufgestellt.
Lenindenkmäler gibt es weltweit auch noch einige. Leninstraßen bis heute auch in Deutschland noch einige.
Die Menschheit lernt es eben nie).

Hier übrigens noch ein Tipp:
Wer es noch nicht kennt: "Die Schlafwandler" von Christopher Clark ist ein sehr starkes Buch über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit sehr detaillierter Schilderung des Tags von Sarajevo.
Speziell zu diesem Tag gibt es auch einen Vortrag von Clark auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=5hv4HfLQGlw

Sehenswert.
Erstens weil es einen typischen englisch-sprachigen Professor zeigt, der bei aller Ernsthaftigkeit des Themas dennoch auch unterhalten will. Wirklich guter, kurzweiliger Vortrag. Rein didaktisch können unsere deutschen Professoren da noch sehr viel lernen.
Zweitens, weil die Dramatik des Ablaufs gut rüberkommt: Es war wirklich eine schier unglaubliche Verkettung von unglücklichen Umständen, die das komplett dilettantische Attentat am Ende doch "erfolgreich" machte.)

Krischan Offline




Beiträge: 641

11.04.2017 08:31
#3 RE: Zeitmarke: Пломбированный вагон - der versiegelte Zug Antworten

Lieber Florian,
Ihre Wahl erscheint mir, mit Verlaub, fragwürdig. Das Buch von Christopher Clark (wie auch übrigens andere von ihm, seine Geschichte Preußens lese ich immer wieder gerne) macht ja deutlich, dass im Jahre 1914 jeglicher Anlass genügt hätte, um den Krieg vom Zaun zu brechen, die Protagonisten haben sich ja alle Mühe gegeben, jede Entspannung zu vermeiden. Verhindern Sie mal immer Herrn Princip, dann nimmt ein anderer seinen Platz ein.

Dagegen ist eine kommunistische Revolution in Russland ohne Lenin schwer vorstellbar. Er war nun mal der unumstrittene Anführer der russischen Kommunisten (Bolschewiki) - aber eben festgesetzt im Ausland. Gut möglich, dass ohne ihn die Demokratie nach Anfangswirren Fuß gefasst hätte in Russland. Vielversprechende Ansätze dazu gab es ja.

Freundlichst,
Krischan

Deutsche Wurst - alles andere ist Käse.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

11.04.2017 10:26
#4 RE: Zeitmarke: Пломбированный вагон - der versiegelte Zug Antworten

Zitat von Krischan im Beitrag #3
... dass im Jahre 1914 jeglicher Anlass genügt hätte, um den Krieg vom Zaun zu brechen, ...

Das sehe ich gerade umgekehrt. So sehr auf Krieg erpicht waren die Großmächte eben nicht (sie hatten ja auch in den Vorjahren diverse andere Anlässe entschärft). Sondern es bedurfte eines besonders krassen Anlasses plus eines unglücklichen Zusammentreffens diverser Umstände, damit es doch zum Krieg kam.

Und das Attentat auf den österreichischen Thronfolger war schon ein sehr krasser Anlaß. Damit wurde eine ohnehin schon fragile Großmacht zentral getroffen. Ziemlich jede andere Großmacht hätte die Ermordung einer vergleichbaren Persönlichkeit leichter weggesteckt. Es war die größtmögliche Provokation und damit war auch eine entsprechende Reaktion gerechtfertigt.
Mein Professor hat in seiner Darstellung von 1914 die Auffassung vertreten, eine sofortige Kriegserklärung an Serbien hätte keine Reaktion bei den übrigen Mächten hervorgerufen, nicht einmal eine Rußlands.
Nur das lange Zögern Österreichs hätte dann den Zusammenhang so geschwächt, daß das Ultimatum nicht mehr als direkte Reaktion auf einen Angriff gewertet wurde.

Zitat
Dagegen ist eine kommunistische Revolution in Russland ohne Lenin schwer vorstellbar.


Das ist bestimmt richtig.
Ich habe Florian so verstanden, daß ohne Princip und ersten Weltkrieg sich ja auch der kommunistische Putsch (von Revolution will ich da nicht reden) erledigt hätte. Es wäre sozusagen der umfassendere Ansatz einer "alternate history".

Krischan Offline




Beiträge: 641

11.04.2017 11:20
#5 RE: Zeitmarke: Пломбированный вагон - der versiegelte Zug Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #4

... Ziemlich jede andere Großmacht hätte die Ermordung einer vergleichbaren Persönlichkeit leichter weggesteckt. Es war die größtmögliche Provokation und damit war auch eine entsprechende Reaktion gerechtfertigt.
Mein Professor hat in seiner Darstellung von 1914 die Auffassung vertreten, eine sofortige Kriegserklärung an Serbien hätte keine Reaktion bei den übrigen Mächten hervorgerufen, nicht einmal eine Rußlands.
Nur das lange Zögern Österreichs hätte dann den Zusammenhang so geschwächt, daß das Ultimatum nicht mehr als direkte Reaktion auf einen Angriff gewertet wurde.


Wirklich? Jede andere Großmacht hätte ein Attentat auf einen Thronfolger oder hochrangigen Politiker leichter weggesteckt? Das erscheint mir doch etwas weit hergeholt, haben doch vorher wesentlich geringere Umstände ausgereicht, um Kriege zu entfachen (Emser Depesche, Jameson Raid - die Beispiele sind Legion). Österreich-Ungarn war sicher besonders exponiert und anfällig, die Entscheidungsprozesse im komplizierten k.u.k-Gebilde auch nicht gerade einfach. Eigentlich hat Österreich gar nicht mal so unbesonnen reagiert: Abwarten, bis Fakten vorliegen, angemessen Handeln, der Gegenseite Spielraum geben.

Zitat

Das ist bestimmt richtig.
Ich habe Florian so verstanden, daß ohne Princip und ersten Weltkrieg sich ja auch der kommunistische Putsch (von Revolution will ich da nicht reden) erledigt hätte. Es wäre sozusagen der umfassendere Ansatz einer "alternate history".



Nun, wenn es danach geht, können wir bei Napoleon anfangen, dessen Wirken ja unmittelbar zum Wiener Kongreß und dem fast 100jährigen wesentlichen Erhalt der europäischen Ordnung führte - hätte der nicht das Heilige Römische Reich deutscher Nation überrannt, wäre es nicht zum deutschen Nationalismus gekommen. Oder gleich bei Luther? Carolus Magnus?

Freundlichst,
Krischan

Deutsche Wurst - alles andere ist Käse.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.404

11.04.2017 11:54
#6 RE: Zeitmarke: Пломбированный вагон - der versiegelte Zug Antworten

Eine der klassischen Erzählungen zum Thema "Uchronie" - also der alternativ verlaufenden Historie, und in diesem Fall: ihrer Herbeiführung (bzw. deren Scheitern) stammt von Alfred Bester (1913-1987), und hat die Beharrung der Geschichte zum Thema, die sich gegen Versuche, in ihren Ablauf einzugreifen, wiedersetzt. Die praktisch-faktisch stattgehabten Ereignisse mit ihren real gelebten Konsequenzen entwickeln ein höheres ontologisches Gewicht als die im Virtuellen verbleibenden unendlichen Abzweigungen. Gewissermaßen die "normative Kraft des Faktischen". Die Frustration des Protagonisten führt ihn dazu, sich schlußendlich an der "Wurzel alles Übels der Weltgeschichte" zu versuchen. Er ist nicht der Einzige. 1958 erschienen, and the title says it all:

The Men Who Murdered Mohammed

Zitat von Krischan im Beitrag #5
Carolus Magnus?


R. A. Lafferty: Thus We Frustrate Charlemagne (1968) - auch dies ein warnendes Beispiel, daß ein Merkelscher Zeitrückspulungsapparat wegen kaskadierender Auswirkungen keine gute Idee sein möchte. Die Everett'sche "Viele-Welten-Theorie" hat das dann auf ihre logische (sit venia verbo) Spitze gebreieben.




Die Wortprägung Uchronie ist übrigens schon etwas älter: von 1876 & stammt von (Nomen est omen) Charles Renouvier.

http://uchronews.fr/litterature/92-uchro...stoire-d-un-mot

Zitat
Le mot « uchronie » est un néologisme du XIXe siècle fondé sur « utopie », mot créé par Sir Thomas More en 1516 pour désigner un pays imaginaire disposant d’un gouvernement idéal où le bonheur régnerait, et « chronos », le temps. Ce mot apparaît pour la première fois dans le titre d’un livre que Charles Renouvier fait paraître en 1876, Uchronie, l’utopie dans l’histoire. Il est question pour Renouvier de réécrire près de mille ans d’histoire européenne telle qu’elle aurait pu être si les Antonins avaient banni les chrétiens en Orient, en décrivant le « développement de la civilisation européenne ». Renouvier fait diverger ainsi l’Histoire : à l’article de sa mort, Marc Aurèle désigne le philosophe Avidius Cassius, qui n’est donc pas assassiné, fort sage et clairvoyant, pour lui succéder au lieu de son fils, le cruel Commode. Cassius fait appliquer une ligne politique révolutionnaire conduisant à un essor considérable dans les arts et les progrès technologiques. La religion chrétienne est bannie d’Occident faute de Constantin pour l’imposer. Renouvier n’est pas le premier à avoir imaginé un passé hypothétique même si le procédé n’était pas nommé avant lui. Bien avant, Pascal, dans ses Pensées avait évoqué l’uchronie avec le nez de Cléopâtre.



http://68.media.tumblr.com/360fc16e65211...vOHG1qz4rgp.jpg

Weswegen auch Emmanuel Carrères kleiner Überblick über diese Untergattung in der deutschen Fassung "Kleopatras Nase" heißt, wo in frz. Original die Behringstraße steht (gibt Gründe dafür, aber die zählen zu den Kakadenefffekten von Lenin & Cie.)

https://www.amazon.fr/D%C3%A9troit-Behri...e/dp/286744070X



"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

11.04.2017 13:52
#7 RE: Zeitmarke: Пломбированный вагон - der versiegelte Zug Antworten

Das Leitmotiv "Rückkehr des Revolutionärs aus dem Exil mit katastrophalen Folgen" wurde ja nicht nur 1917 von der OHL gespielt, sondern auch 1979 von Carter, Schmidt und Giscard d'Estaing. Die Parallelen sind frappierend, sowohl was das Kalkül der Sponsoren dieser Reisen angeht, wie auch das völlig gegensätzliche Ergebnis.

Der OHL ist im Vergleich allerdings der geringere Vorwurf zu machen, weil die Kriegssituation tatsächlich nicht viele Wahlmöglichkeiten offenließ.

Krischan Offline




Beiträge: 641

11.04.2017 15:29
#8 RE: Zeitmarke: Пломбированный вагон - der versiegelte Zug Antworten

Zitat von Emulgator im Beitrag #7

Der OHL ist im Vergleich allerdings der geringere Vorwurf zu machen, weil die Kriegssituation tatsächlich nicht viele Wahlmöglichkeiten offenließ.


Lieber Emulgator, ein guter Hinweis, danke. Geringer ist der Vorwurf wohl auch deswegen, weil der Kommunismus damals seine Unschuld noch nicht verloren hatte, sondern in der Theorie ein utopisches, schönes Gesellschaftsbild malte (abgesehen davon, dass Zeitgenossen mit Weitblick das Totalitäre im Kommunismus/Sozialismus bereits sahen, siehe die "Sozialdemokratischen Zukunftsbilder" von Eugen Richter, ein amüsantes Leseerlebnis). Richtig ausprobiert hatte den noch keiner. Die OHL wollte Russlands Kapitulation beschleunigen, mit allen Mitteln. Hat ja auch im Endeffekt gut funktioniert.

Freundlichst,
Krischan

Deutsche Wurst - alles andere ist Käse.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

11.04.2017 16:56
#9 RE: Zeitmarke: Пломбированный вагон - der versiegelte Zug Antworten

Zitat von Krischan im Beitrag #8
(abgesehen davon, dass Zeitgenossen mit Weitblick das Totalitäre im Kommunismus/Sozialismus bereits sahen, siehe die "Sozialdemokratischen Zukunftsbilder" von Eugen Richter, ein amüsantes Leseerlebnis).
Danke für den Hinweis. Richters Satire: "Die morsche Gesellschaftsordnung des Kapitalismus und des Ausbeutertums ist zusammengebrochen" -- Kannte Scheidemann den Text? Und Röhm, als man braune Uniformen wählte?

Zitat von Krischan im Beitrag #8
Die OHL wollte Russlands Kapitulation beschleunigen, mit allen Mitteln. Hat ja auch im Endeffekt gut funktioniert.
In einem kurzen Aufsatz über die Wahrnehmung der Februarrevolution im heutigen Rußland wird daran erinnert, daß die provisorische Regierung den Krieg weiterführte, obwohl die Kriegslage der Grund für die 1917er Revolution war. So habe die Revolution die Russen mit Wirkung in die Gegenwart enttäuscht.
Ein weiterer Aspekt ist, daß die provisorische Regierung von zu gegensätzlichen Bewegungen getragen wurde. Darin sehe ich wieder eine Parallele zur "Islamischen Revolution". Auch sie war ursprünglich eine Sammlungsbewegung, die dann von der brutalsten Fraktion, Khomeini, gekapert wurde.

Florian Offline



Beiträge: 3.171

11.04.2017 17:19
#10 RE: Zeitmarke: Пломбированный вагон - der versiegelte Zug Antworten

Zitat von Krischan im Beitrag #8
Zitat von Emulgator im Beitrag #7

Der OHL ist im Vergleich allerdings der geringere Vorwurf zu machen, weil die Kriegssituation tatsächlich nicht viele Wahlmöglichkeiten offenließ.


Lieber Emulgator, ein guter Hinweis, danke. Geringer ist der Vorwurf wohl auch deswegen, weil der Kommunismus damals seine Unschuld noch nicht verloren hatte, sondern in der Theorie ein utopisches, schönes Gesellschaftsbild malte (abgesehen davon, dass Zeitgenossen mit Weitblick das Totalitäre im Kommunismus/Sozialismus bereits sahen, siehe die "Sozialdemokratischen Zukunftsbilder" von Eugen Richter, ein amüsantes Leseerlebnis). Richtig ausprobiert hatte den noch keiner. Die OHL wollte Russlands Kapitulation beschleunigen, mit allen Mitteln. Hat ja auch im Endeffekt gut funktioniert.

Freundlichst,
Krischan




Auch hier ist übrigens Sebastian Haffner ("Die sieben Todsünden Deutschlands im Ersten Weltkrieg") interessant.

Haffner beschreibt den Vorgang wie folgt:

Lenin und die OHL waren perfekte Verhandlungspartner.
Beide wollten was vom anderen, dass dieser gerne zu geben bereit war:

- Das OHL wollte die Kapitulation Russlands (incl. großer Gebietsabtretungen).
Lenin war gern bereit, diese Forderung zu erfüllen. Denn für ihn stand die Weltrevolution ohnehin vor der Tür, womit sich dann das Problem nationaler Grenzen ohnehin erledigt hätte. Irgendwelche Gebietsabtretungen waren daher im Prinzip irrelevant.
Die Forderung des OHL konnte er daher leichten Herzens erfüllen.

- Lenin wollte freie Hand bei der Durchführung seiner Revolution.
Aus Sicht des OHL war diese Idee eines kommunistischen Staates aber ohnehin nur ein Luftschloss.
Am allermeisten in Russland, einem schwach industrialisiertem Land mit relativ wenigen Arbeitern.
(Die Befürchtung des OHL war daher eigentlich nur, dass Lenins Kommunisten zu schwach wären um sich zu halten, bis wenigstens die Kapitulation und der Friedensvertrag unter Dach und Fach wären). Lenins Forderung nach Unterstützung bzw. Duldung seiner kommunistischen Revolution konnte das OHL daher leichten Herzens geben.

Beide Seiten sahen die Gegenseite also als naiv an: bereit etwas herzugeben was man selbst als sehr wichtig erachtete - und als Gegenleistung etwas komplett unnützes zu fordern.
Im Nachhinein wissen wir natürlich, dass Lenin dieses Spiel gegen die OHL gewann.

Aber: Aus DAMALIGER Sicht war das bei weitem nicht so klar.

Dennis the Menace Offline




Beiträge: 459

11.04.2017 23:49
#11 RE: Zeitmarke: Пломбированный вагон - der versiegelte Zug Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #10



Im Nachhinein wissen wir natürlich, dass Lenin dieses Spiel gegen die OHL gewann.



Ja klar, aber nicht aus eigener Kraft, sondern des "Westens" wegen, wo die Gesamtveranstaltung letztlich entschieden wurde. Ostfrontmäßig ist die deutsche Rechnung ja durchaus aufgegangen, das alleine konnte aber keine weitere Bedeutung entfalten. Brest-Litowsk hatte sich nach gut einem halben Jahr erledigt.

Un so dolle war der Gewinn eigentlich nicht: Die verlorenen Gebiete (Baltikum pp), die nicht gerade wertlos waren, blieben großenteils verloren, vermutlich auch aus Lenins Sicht keine quantité négligeable, denn Versailles + Vororte war für Russland bzw. Soffjetrussland, wie das nachmalig im Adenauerdeutsch so schön hieß, ja nicht unbedingt ein Grund zum Jubeln , so dass der Weg nach Rapallo und zur heimlichen militärischen Zusammenarbeit mit Weimarer Regierungen der 20er geebnet war. Der Weg von Brest-Litowsk nach Rapallo nach nur zwei Jahren erscheint zwar prima facie als nicht gerade logisch, aber womöglich liegt die tiefere Logik darin, dass sich Brest-Litowsk nebst Vorgeschichte ab Bahnhof Zürich letztlich eher als loose-loose erwiesen hat, und ferner muss man wohl auch sehen: Ideologisch war der große Satan aus deutscher Sicht, also aus der Sicht nicht unmaßgeblicher gebildeter Kreise (vulgo: Eliten) eigentlich eher im Westen zu lokalisieren. Man denke nur an den "Unpolitischen" Thomas Mann et al. Jener beliebte anno '14 von "unserem sozialen Kaisertum", das eine "zukünftigere Staatsform" darstelle, zu schwärmen - im Vergleich zu jener "plutokratischen Bourgeois-Republik" im Westen, wo man noch immer "das Stroh von 1789 drischt". Da liegt dem teutschen Tiefsinn der Osten doch womöglich irgendwie näher.

lich
Dennis

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.404

12.04.2017 00:34
#12 RE: Zeitmarke: Пломбированный вагон - der versiegelte Zug Antworten

Thomas Mann gildet aber nicht: der war politisch dermaßen ahnungslos, in jeder seiner Epochen, daß es schon wehtut. (Insofern gildets doch, weil da ist er mit all seinen Kommilitonen der Dicht-Er und Denk-Er-Republik in guter Gesellschaft, bis heute.) Golo Mann, als der einzige in den gesamten Clan, der mit politischer Hellsicht gechlagen war, hat ja im Hinsicht auf die Dioskuren H+T nicht zu Unrecht von den "unwissenden Magiern" gesprochen. Wobei das, OT, überhaupt so "1 Frage" ist: was machen wir mit einem Romanzjehr, der ganz zentral politische & historische Stoffe durch die Lupe des historischen/politischen/beides Romans beleuchtet - und sich dann, als Anwendungsfall in eigener Sache, als vollster der Pfosten herausstellt? Ich denke da gerade an Gore Vidal... Wenn ich gemein wäre, könnte ich auch Joseph Roth nennen.



"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire

Frankenstein Offline




Beiträge: 891

14.04.2017 20:01
#13 RE: Zeitmarke: Пломбированный вагон - der versiegelte Zug Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #4
Zitat von Krischan im Beitrag #3
... dass im Jahre 1914 jeglicher Anlass genügt hätte, um den Krieg vom Zaun zu brechen, ...

Das sehe ich gerade umgekehrt. So sehr auf Krieg erpicht waren die Großmächte eben nicht (sie hatten ja auch in den Vorjahren diverse andere Anlässe entschärft). Sondern es bedurfte eines besonders krassen Anlasses plus eines unglücklichen Zusammentreffens diverser Umstände, damit es doch zum Krieg kam.

In Albert Jay Nocks Buch "The Myth of a Guilty Nation" arbeitet dieser - für mich durchaus überzeugend - heraus, wie einflussreiche Kreise innerhalb der französischen, britischen und russischen Eliten entschieden (und erfolgreich) konspirierten, um ihre Länder massiv aufzurüsten und anschließend in einen Krieg gegen die Mittelmächte zu verwickeln.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

14.04.2017 22:49
#14 RE: Zeitmarke: Пломбированный вагон - der versiegelte Zug Antworten

Zitat von Frankenstein im Beitrag #13
Zitat von R.A. im Beitrag #4
Das sehe ich gerade umgekehrt. So sehr auf Krieg erpicht waren die Großmächte eben nicht (sie hatten ja auch in den Vorjahren diverse andere Anlässe entschärft). Sondern es bedurfte eines besonders krassen Anlasses plus eines unglücklichen Zusammentreffens diverser Umstände, damit es doch zum Krieg kam.

In Albert Jay Nocks Buch "The Myth of a Guilty Nation" arbeitet dieser - für mich durchaus überzeugend - heraus, wie einflussreiche Kreise innerhalb der französischen, britischen und russischen Eliten entschieden (und erfolgreich) konspirierten, um ihre Länder massiv aufzurüsten und anschließend in einen Krieg gegen die Mittelmächte zu verwickeln.
Es gab ja wohl durchaus eine Art verbreiteter Kriegsbegeisterung in der Art, daß der Krieg auch als eine Art heilsame Erneuerungskraft gesehen wurde, eine Art bittere Medizin, eine Krisis. In Rußland haben manche diese Meinung heute (wieder) als Grundton ihrer polit. Überzeugung.
Vielleicht kann man das Augusterlebnis von 1914 ein bißchen mit der "Willkommenskultur" vergleichen. Eine kurze Begeisterung über etwas, was eigentlich unerwünscht und unbeabsichtigt kommt und bei klarem Nachdenken für die Begeisterten überwiegend Risiken erkennen läßt, wird durch Gruppenzusammengehörigkeit und "eine gemeinsame Aufgabe" erzeugt.

Ist natürlich nur eine Mutmaßung, aber das Funktionieren menschlicher Regungen und politischer Ökonomie hat sich in 100 Jahren eigentlich nicht grundlegend geändert.

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