Erinnern Sie sich noch an den "Plastinator" Gunther von Hagens? Er tingelt jetzt mit seinen Leichen durch die USA und will mit ihnen demnächst in Kalifornien gastieren. Dort allerdings könnte ihn eine Überraschung erwarten.
Lieber Zettel, es musste mal passieren: Ich bin anderer Meinung. Ich denke nicht, dass Respekt, Achtung, Ehrfurcht (nichts anderes ist Pietät) vor den körperlichen Überresten (ich meine nicht sein Wesen, seine Persönlichkeit) eines Menschen noch heute als Grundlage der menschlichen Kultur an sich gewertet werden darf.
Dass wir unsere Ahnen vergraben und damit von der Erdoberfläche entfernen, hat ja den einfachen Grund, dass unsere grunzenden Vorfahren nicht mitansehen wollten, wie Mutter/Vater/Onkel/Freund von Geiern zerhackt wird. Auch ein wichtiger Schritt in der Menschheitsentwicklung, da es ein Indiz für die Entwicklung von sozialen Fähigkeiten war, aber eben nur ein Symptom, nicht der Inhalt.
Was uns als Menschen dagegen tatsächlich auszeichnet, ist die Vernunft. Und bei vernünftiger Betrachtung ist das reine Verscharren von Leichen eben nicht mehr notwendig.
Dass man da andererseits dennoch gewisse gesetzliche Sanktionen auferlegt, kann ich zumindest deshalb verstehen, weil auch ich den von Hagens wahnsinnig schmierig finde, sein Konzept (die Ausstellung überhaupt) fragwürdig, ihm auch nicht vertraue was Abstammung und Zustimmung seiner Leichen angeht und deshalb ohnehin auch nie eine Eintrittskarte lösen würde.
Zitat von WullenweverLieber Zettel, es musste mal passieren: Ich bin anderer Meinung.
Ja, nichtwahr.
Zitat von WullenweverDass wir unsere Ahnen vergraben und damit von der Erdoberfläche entfernen, hat ja den einfachen Grund, dass unsere grunzenden Vorfahren nicht mitansehen wollten, wie Mutter/Vater/Onkel/Freund von Geiern zerhackt wird. Auch ein wichtiger Schritt in der Menschheitsentwicklung, da es ein Indiz für die Entwicklung von sozialen Fähigkeiten war, aber eben nur ein Symptom, nicht der Inhalt.
Dem stimme ich zu. Aber, lieber Wullenwever, ich sehe das gerade als Argument für meine Position.
Denn solche Symptome - man kann die ganze Religion darunter rechnen, das "Numinose" - haben ja im Lauf der Evolution (der kulturellen; wieweit dabei auch noch der biologischen, ist eine empirische Frage) ihr Eigenleben gewonnen.
Ich habe, obwohl Agnostiker, nie Verständnis für die Verunglimpfung, für das Lächerlichmachen von Religion gehabt. Es wehrt sich in mir etwas dagegen. Man macht das nicht. Ich empfinde es als etwas Unanständiges.
Und ebenso wehrt sich in mir etwas dagegen, die Körper Verstorbener als Material zu behandeln, gar als eine Art Disneyland-Staffage.
Warum scheuen wir uns eigentlich, das Fleisch Verstorbener zu essen?
Auch dieses Tabu ist so irrational wie das, mit den Verstorbenen sonst etwas Pietätloses anzustellen.
Nur in Extremsituationen essen Menschen Verstorbene. In manchen Kulturen rituell, um zum Beispiel deren Kraft in sich aufzunehmen. In ganz wenigen Kulturen auf Neuguinea vielleicht (es ist wohl umstritten) auch tatsächlich schlicht als Nahrungsquelle.
Aber in den allermeisten Kulturen gab und gibt es das nicht; nicht in unserer. Da ist der Menschenfresser, der Ogre nur noch eine archaische Erinnerung. Und Verstorbene essen, das tun Menschen nur, wenn sie wirklich am Verhungern sind; wie damals diese Passagiere des in den Anden abgestürzten Flugzeugs.
Dabei spielte natürlich auch die Kälte einer Rolle, durch die das Fleisch konserviert wurde.
Wie auch in den Polarzonen zum Beispiel. Aber ich kenne keinen einzigen Fall, wo zB im 20. Jahrhundert Expeditionen, deren Teilnehmer am Verhungern waren, das Fleisch Verstorbener gegessen hätten; sie haben eher ihre treuen und für sie bitter notwendigen Schlittenhunde geschlachtet.
Also, lieber Wullenwever, da muß doch wohl etwas sein, ein Tabu. Ob es nun rein kulturell oder nicht auch genetisch verankert ist, das mag, wie gesagt, dahingestellt bleiben.
Ich attestiere, dass es den menschlichen Kulturen in der überwiegenden Zahl eigen ist, weder Menschenfleisch zu verzehren, noch mit den Leichen verstorbener mehr anzustellen, als sie anständig zu bestatten. Die Pietät ist auch heute, nicht in Riten, sondern in der Anwendung, in Herz und Kopf, eine beachtenswerte, menschliche Errungenschaft. Wenn das also unser Ziel ist: Einverstanden.
Aber dann, andererseits, spricht wieder ein gewichtiges Argument für den Hagens-Tamtam: Wenn nämlich dieses ein wesentlicher Bestandteil unserer Kultur ist und aber die menschliche Vernunft und Augeklärtheit das Wesen unserer Kultur ebenfalls ausmacht, so muss gerade diese Infragestellung doch stattfinden! Dann hat sie nämlich die Berechtigung, als die sie immer ausgegeben und auch medial diskutiert wurde: Ein Tabubruch.
Wenn ich als Teilzeit-Agnostiker also zum Beispiel eine gewaltlose Empörung Betroffener über dänische Mohammed-Karikaturen verstehen kann, so erwarte ich doch ebenso eine von der Vernunft gesteuerte Akzeptanz für ebendiesen Tabubruch. Wenn, einen Schritt weiter, ich Holocaust-Karikaturen ablehne, dann in der Erwartung und mit der Sicherheit, dass meine Kultur, meine Gesellschaft, diese Ablehnung rational begründen kann.
Nur Tabubrüche führen zu dieser Erkenntnis und zu einem kulturellen Selbstverständnis. Da das Aufhängen von plastinierten Leichen nicht zu der Aufhebung des Wertes "Pietät" geführt hat, hat es vielleicht das Nachdenken einzelner über die Rolle von Leben und Tod ermöglicht, am Ende gar eine stärkeren Verankerung von Pietät als eine kulturelle Grundlage?
Nun muss ich von Hagens verteidigen und wollte das gar nicht. Denn mir ist es lieber, wenn jeder für sich und einzeln erklärt: Ich will das nicht sehen. Oder die anderen, wenn einer es sehen will, fragen: Warum?
Neben moralischen und ethischen Einwänden auf folgende Frage,
In Antwort auf:Warum scheuen wir uns eigentlich, das Fleisch Verstorbener zu essen?
gibt es auch praktische Gründe. Alles Fleisch was auf unseren Tellern landet ist von jungen Tieren, (Rind ~2 Jahre, ein Hase nur 3 Monate), ältere Tiere eignen sich nur als Gulasch. Wie genießbar ist dann ein einige Jahrzehnte alter Mensch, gerade mit unserer Ernährung?
In Antwort auf: Aber ich kenne keinen einzigen Fall, wo zB im 20. Jahrhundert Expeditionen, deren Teilnehmer am Verhungern waren, das Fleisch Verstorbener gegessen hätten; sie haben eher ihre treuen und für sie bitter notwendigen Schlittenhunde geschlachtet.
Schlittenhunde/ Ponys (Scott) gehen ebenfalls bei der Kälte ein, besonders wenn deren Nahrungsmittelreserven zur Neige gehen.
In Antwort auf:Und ebenso wehrt sich in mir etwas dagegen, die Körper Verstorbener als Material zu behandeln, gar als eine Art Disneyland-Staffage.
Ich bin wie Sie dafür, irrationale Tabus zu brechen, wenn dadurch mehr Vernunft in unser Leben Einzug hält. Das Körpertabu zum Beispiel, das es verbietet, seinen Körper unbekleidet zu zeigen. In einigen Kulturen den ganzen Körper, jedenfalls von Frauen. In unserer Kultur bestimmte Teile des Körpers.
Ich bin, lieber Wullenwever, genauer gesagt, willens, persönlich solche Tabus zu brechen. Es leuchtet mir nicht ein, daß wir uns über Moslems erheben, die es ihren Frauen gebieten, nur verschleiert in die Öffentlichkeit zu gehen, daß wir es aber in unserer eigenen Kultur verlangen, sogar am Strand Badebekleidung zu tragen. Ich halte dieses Tabu für albern und gehe also lieber an den FKK-Strand.
Wer sich aber an solche Tabus halten will - wer auf Verschleierung von Frauen besteht, wer kein Schweinefleisch oder kein Rind oder überhaupt kein Fleisch ißt, wer nur koschere Nahrung ißt usw. -, der hat gleichwohl meinen Respekt und kann auf meine Toleranz zählen.
Ebenso ist es mit dem Tabu der Pietät. Wenn jemand nichts dabei findet, die Körper Verstorbener als Ausstellungsobjekte zu benutzen, wenn jemand sich das ansehen will - er hat meinen Segen. Ich käme nie auf die Idee, daß das verboten werden sollte. So, wie ich blasphemische Theaterstücke à la Schlingensief widerlich finde, aber ihm nie das Recht absprechen würde, das zu inszenieren.
Aber ich will mir das nicht ansehen. Nein, mein Respekt vor der Würde des Totes ist nicht rational begründbar. Ich habe ihn halt, so wie die meisten Menschen unserer Kultur, wie die meisten Menschen der meisten Kulturen.
Und ich kann es nicht finden, liebe Wullenwever, daß wir eine vernünftiger Gesellschaft hätten, wenn es zur Regel würde, daß man die Körrper Verstorbener, statt sie zu beerdigen, für allerlei Schnickschnack verwendet.
der Einwand mit Mumien und Ötzi ist interessant. Denn es scheint ja wirklich so zu sein, daß irgendwann aus dem Verstorbenen ein Objekt wird, dem keine Pietät mehr "zusteht".
Das ist zB so bei den Skeletten, die früher oft in den Arztpraxen standen (heute nur noch in Witzzeichnungen). Es ist so bei Mumien, "Schrumpfköpfen".
Für auf Friedhöfen Bestattete gibt es eine bestimmte "Liegezeit". Danach ist es keine Störung der Totenruhe mehr, ihre Knochen zu entfernen.
In der berühmten Friedhofs-Szene im "Hamlet" sieht Hamlet, wie der Totengräber einen Schädel ausgräbt und erfährt, daß er einmal dem Hofnarren Yorick "gehörte", den er als Kind kennengelernt hatte. Daran knüpft Hamlet Gedanken über Leben und Tod, über diese seltsame Verwandlung an, die aus einem lebendigen Menschen ein totes Objekt machen. Alas, poor Yorick, I knew you ...
Aber ich kenne keinen einzigen Fall, wo zB im 20. Jahrhundert Expeditionen, deren Teilnehmer am Verhungern waren, das Fleisch Verstorbener gegessen hätten; sie haben eher ihre treuen und für sie bitter notwendigen Schlittenhunde geschlachtet.
In Extremsituationen gab es Kannibalismus schon. z.B damals in den Anden, 1972.
Zitat von M.SchneiderAber ich kenne keinen einzigen Fall, wo zB im 20. Jahrhundert Expeditionen, deren Teilnehmer am Verhungern waren, das Fleisch Verstorbener gegessen hätten; sie haben eher ihre treuen und für sie bitter notwendigen Schlittenhunde geschlachtet.
In Extremsituationen gab es Kannibalismus schon. z.B damals in den Anden, 1972.
Das hatte ich ja erwähnt, lieber M. Schneider; vielleicht haben Sie es überlesen. Aber das war keine Expedition, sondern ein Flugzeugabsturz.
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