Mit einer gewissen Beharrlichkeit habe ich im vergangenen Jahr in ZR vier Themen verfolgt, bei denen ich den Eindruck hatte, eine Entwicklung vorhersagen zu können: Daß Putin die Macht in Rußland nicht abgeben würde, daß sich im Irak die Lage zum Besseren wenden würde, daß Chávez nach dem Tod Castros eine Union Venezuelas mit Cuba anstrebt und daß sich in Deutschland eine Volksfrontregierung vorbereitet.
Ich musste gerade wider Willen ganz ordentlich lachen. Eigentlich ist es im nachhinein sogar offensichtlich. Der Kerl hat die Präsidialdemokratie in ein parlamentarisches Kanzlersystem umgewandelt. Ok, die Anforderung an die Kanzlermehrheit ist ungewöhnlich hoch. Aber er hat ja genug für Verfassungsänderungen. Raffiniert gemacht.
Klug und fleißig - Illusion Dumm und faul - das eher schon Klug und faul - der meisten Laster Dumm und fleißig - ein Desaster The Outside of the Asylum
Nun, einer meiner Professoren erzählte einst die Anektode, Gödel (der von der Unvollständigkeitshypothese) habe bei der Einbürgerung in die USA dem Beamten auf die Frage 'Sie sind Deutscher, wie halten Sie es denn mit der Demokratie, nach Hitler?' erklärt, dass er a) Österreicher sei und b) wie er die USA nach der Verfassung in eine Diktatur umbauen könnte.
Ob das stimmt, weiss ich nicht, aber eine Verfassung an der Intention vorbei umzuinterpretieren ist ein leichtes Spiel.... Siehe etwa in der Formel 1, wenn jedes Jahr neue Regeln rauskommen und die Teams diese innerhalb kürzester Zeit dem Sinn nach umgehen.
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Zitat von DagnyOb das stimmt, weiss ich nicht, aber eine Verfassung an der Intention vorbei umzuinterpretieren ist ein leichtes Spiel....
In der Tat. Hitler hat ja - zumindest in den ersten Jahren nach der Machtergreifung - innerhalb der unveränderten Weimarer Verfassung regiert. Ob Gödel vielleicht darauf angespielt hat?
In Frankreich gab es in der Zeit der beiden Cohabitations (Mitterand mit einer rechten, Chirac mit einer linken Mehrheit in der Nationalversammlung) auch eine gewisse Verschiebung des Machtgefüges hin zum Ministerpräsidenten. Aber der Unterschied zur jetzigen Situation in Rußland war, daß beide Staatspräsidenten ihre volle Macht dagegensetzen konnten.
Medwedew dagegen hat kaum Spielraum, weil Putin nicht nur eine Mehrheit in der Duma hat, sondern eine verfassungsändernde 70-Prozent-Mehrheit.
Von daher, liebe Dagny, ergibt sich auch eine weitere Antwort auf die Frage, die wir in Zusammenhang mit Wahlfälschungen (allerdings bei der Wahl Medwedews) diskutiert hatten: Warum fälscht man eigentlich, wenn man auch ohne Fälschung eine Mehrheit bekommen kann?
In der Duma ging es Putin eben offensichtlich nicht nur um eine Mehrheit, sondern um die verfassungsändernde Mehrheit, dank deren er jetzt Medwedew in der Hand hat.
Ich habe die Übertragung in "Russia Today" gesehen; aber ich vermute, daß die Übetragung in "Phoenix" dieselben Bilder hatte.
"Übertragung" ist eigentlich nicht richtig. Es war eine Inszenierung. In "Russia Today" sagte ein Insider danach, das sei monatelang vorbereitet und geübt worden.
Erster Akt: Man sah einen einsamen Putin, ganz in Schwarz, in einen Mercedes steigen und zum Kreml fahren. Dasselbe für Medwedew.
Zweiter Akt: One of those long, long walks .... Medwedew geht eine endlos lange Treppe hoch, auf rotem Teppich natürlich. Soldaten säumen sie, die das Gewehr präsentieren. Dann geht er auf langen, langen roten Teppichen durch das Spalier der Anwesenden. Ein Mann allein. Ein Mann sucht seinen Weg. Zur Steigerung des Effekts wird die subjektive Kamera eingesetzt: Man sieht den langen, langen Teppich aus der Perspektive des schreitenden Medwedew.
Dritter Akt: Auftritt Putin. Eine kurze Abschiedsrede, eine sehr kurze. Dann, Schlag 12, der Amtswechsel. Den Eid nimmt nicht der Parlamentspräsident ab, auch nicht ein Pope, sondern ein Mann im Talar des Professors; vermutlich der Vorsitzende des Obersten Gerichts. Dann kurze Ansprache Medwedew. Inmitten all des Prunks wird Nüchternheit, Rechtlichkeit, Arbeit signalisiert. Das ist auch der Tenor der ebenfalls kurzen, fast matt vorgetragenen Rede Medwedews.
Dann schwenkt die Kamera nach draußen, über die Türme des Kreml, über Moskau. Vom Zaren auf sein Volk.
Heute Abend wurde in CNN Alexander Nekrassow interviewt, früherer Ratgeber von Präsident Jeltzin. Er hatte eine Information, die mir neu war: Putin hatte in seinen letzten Tagen als Präsident per Erlaß (der gute alte Ukas, den schon die Zaren kannten) die verschiedensten Kompetenzen vom Präsidenten auf den Ministerpräsidenten übertragen!
Beispielsweise ist der jetzt der Ministerpräsident und nicht mehr der Staatspräsident, der über die Besetzung der Ministerien entscheidet. Dem Ministerpräsidenten unterstehen alle Regionalbehörden. Weiterhin habe, sagte Nekrassow, Putin die volle Kontrolle über die Geheimdienste.
Formal könne zwar Medwedew morgen Putin feuern. Faktisch aber hätte sich an Putins Machtfülle nichts geändert.
Und noch ein zweites interessantes Interview zu Rußland heute Abend in CNN: mit Jonathan Dimpleby, einem der besten britischen Rußlandkenner. Nach vielen Reisen und Interviews meint er, die große der Mehrheit der Russen wollten gar keine Demokratie, sondern sie wollten Ruhe, Ordnung und Ruhm für das Vaterland. Demokratie sei für sie gleichbedeutend mit Chaos. Rußland sei heute eine präfaschistische Gesellschaft.
Das Land sei in weiten Teilen immer noch ein Land der Dritten Welt; daß der Wohlstand unter Putin gestiegen sei, liege nur an den gestiegenen Energiepreisen. Die russische Wirtschaft sei weiter weit davon entfernt, auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu sein.
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