Lieber Sergej,
ich freue mich, daß Ihnen ZR gefällt. Willkommen im "kleinen Zimmer"!
Zitat von Sergej
Das wirklich traurige an den ganzen jungen Marx-Lesern ist jedoch, dass nahezu alle es nicht für nötig halten sich andersweitig über die Funktionsweise unseres Wirtschaftssystems zu informieren. Sie begnügen sich mit der Marx Lektüre und meinen "Wirtschaft" verstanden zu haben.
Ja, das war schon damals so, als ich Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre solche Zirkel kennengelernt habe.
Die meisten studierten etwas ganz anderes, hatten also von Wirtschaft keine Ahnung. Wenn man Marx liest (bzw. eine der vielen Einführungen, die damals kursierten; von Althusser, Elmar Altvater usw.), dann hat man als Laie leicht ein Aha-Erlebnis. Endlich versteht man das alles! Und keiner sagt einem, daß es, gemessen an der modernen Ökonomie, Kokolores ist.
Ich habe mich oft gefragt, woher eigentlich diese Faszination kommt, die für viele Intellektuelle von Marx ausgeht, und habe darüber hier auch schon gelegentlich etwas geschrieben. Zusammengefaßt:
1. Marx war ein
glänzender Journalist. Er schreibt anschaulich, ironisch, oft drastisch.
2. Marx war
kein Wissenschaftler, ersparte seinen Lesern also wissenschaftliches Denken. Eine wissenschaftliche Diskussion findet man bei Marx fast nirgends - also die Gegenüberstellung verschiedener Meinungen, die Diskussion des Für und Wider der einzelnen Meinungen, die Begründung, warum der Autor sich für eine bestimmte Meinung entschieden hat. Das alles erspart Marx seinem Leser. Wie in einem Lehrbuch für Grundschüler sagt er dem Leser, wie es ist. Zum Auswendiglernen.
3. Marx schreibt aus der
Position des Verkünders. Andere Auffassungen werden nur zitiert, um als lächerlich entlarvt zu werden. Dem Leser, der sich mit dem Autor Marx identifiziert, ergeht es ähnlich wie dem Karl-May-Leser, der sich mit Old Shatterhand oder Kara ben Nemsi identifiziert: Er ist der Größte, der Durchblicker. Alles andere ist nicht nur falsch, sondern es ist auch aus durchsichtigen Gründen falsch: Weil dahinter Interessen des Klassenfeinds stecken, und seiner Lakaien.
4. Marx bettet die Ökonomie in eine
allgemeine Welterklärung ein. Er dachte zwar nicht so primitiv, wie das später von kommunistischen Ideologen als
Diamat und als
Historischer Materialismus gelehrt wurde. Aber es war doch ein geschlossenes Weltbild bei Marx, ein "System" wie das seines Meisters Hegel. Von der Erkenntnistheorie (Marx war ein naiver Realist) über die Ontologie (alles Reale ist materiell, und diese Materie verändert sich gemäß den Gesetzen der Dialektik) und eine Geschichtsmetaphysik (Alle Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen) bis zur Nationalökonomie.
5. Diese Welterklärung enthält nicht nur alles, was man über die Welt wissen muß, sondern sie sagt auch, was zu tun richtig und ethisch ist. Sie ist insofern
eine Religion. Wer mit überzeugten Marxisten diskutiert, der wird immer wieder finden, daß sie Gläubige sind. Mit allen Konsequenzen - sie sind bereit, alles für ihre Religion zu opfern, bis hin zum eigenen Leben (und vor allem dem anderer; siehe RAF). Diese Religion folgt dem Schema Paradies --> Sündenfall --> Erlösung und wird deshalb vor allem von solchen Menschen leicht übernommen, die in der christlich-jüdischen Tradition aufgewachsen sind.
6. Bei Marx schon angelegt, von Lenin aber erst zur Perfektion entwickelt: Der Marxismus beinhaltet eine
machiavellistische politische Strategie und Taktik. Da man in Übereinstimmung mit dem handelt, was objektiv notwendig ist und was dem Heil der Menschheit dient, sind alle strategischen und taktischen Mittel erlaubt. Strategisch zum Beispiel die Tarnung als demokratische Partei, das Bündnis mit denen, die man vernichten möchte. Taktisch jede Lüge, die man solange aufrecht erhält, wie man nicht zur Wahrheit gezwungen wird.
Dieser letzte Punkt, lieber Sergej, spielt vielleicht für die Studenten, die sich zu Marx bekehren lassen, zunächst keine Rolle. Aber er ist wichtig, wenn man das Verhalten der Kader verstehen will, die diese Leute ködern.
Herzlich, Zettel