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ZETTELS KLEINES ZIMMER

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Dieses Thema hat 4 Antworten
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 Pro und Contra
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.09.2006 17:05
Die indische Klassengesellschaft Antworten

Der hier angekündigte zweiteilige Bericht von Claus Kleber über seine Indienreise ist sehr informativ gewesen. (Über seinen Inhalt im einzelnen kann man zB im Hamburger Abendblatt etwas lesen).

Daß Indien ein "Land der Gegensätze" ist, wußte man. Was der Bericht aber deutlich gemacht hat - und was mir so nicht klargewesen war, ist, daß man in Indien gerade diese Gegensätze als die große Chance sieht.



Indien ist ein klassisches Einwanderungsland. Die Kasten sind ja viel mehr (gewesen) als Klassen wie bei uns die des Feudaladels, der Bürger, der Bauern. Die Kastengrenzen markierten auch ethnische und kulturelle Grenzen. In gewisse Hinsicht vergleichbar der Klassengrenze zwischen Normannen und Angelsachsen in England nach der normannischen Invasion, aber viel massiver und vor allem viel längerdauernd. (Das war jetzt eine Anmerkung von mir, nichts aus dem Bericht von Claus Kleber).

Klebers Bilder zeigten diese Gegensätze drastisch - er war in ländlichen Gegenden, die er mit Nigeria verglich, und in High-Tech-Zentren, die jedem Vergleich mit Europa und den USA standhalten.

Einige seiner Gesprächspartner nun haben ganz unbefangen gesagt, welcher riesige Vorteil für Indien in dieser extremen Klassengesellschaft liegt: Während in den Industrie- und Wissenschaftszentren das zum Zug kommt, was im Selbstverständnis der Inder ihre Stärke ist - die Intelligenz, die Spitzenforschung, Spitzentechnologie ermöglicht -, liefern die Inder aus der Unterschicht billige Arbeitskraft. Beides zusammen ergibt in den Augen dieser Inder eine unschlagbare Position auf dem Weltmarkt der Zukunft.

Das riesige Reservoir an Armen wird zum anderen als ein unerschöpflicher Binnenmarkt für die Zukunft gesehen. Einer der Gesprächspartner von Kleber verglich es mit dem Proletariat im Europa des 19. Jahrhunderts, das sich allmählich aus der Armut herausarbeitete.



Hierarchien, Klassenunterschiede, überhaupt Unterschiede zwischen Menschen sind (das ist jetzt wieder mein Kommentar) in der indischen Gesellschaft tief verwurzelt. Klebers kritische Fragen dazu stießen überwiegend auf Unverständnis.

Indien ist eine Demokratie, was die republikanische Verfassung, was die Freiheitsrechte, was das Wahlsystem angeht. Der Gedanke der Gleichheit aller Menschen ist damit - bei der großen Mehrheit der Inder - offenbar nicht verbunden.

Der gebildete, westlich orientierte Brahmane lebt in jeder Hinsicht in einer anderen Welt als der Baumwollpflücker oder der Arbeiter, der vielleicht zwei Euro am Tag verdient.

Es ist sehr ähnlich wie in China, wo die Klassenunterschiede vermutlich weltweit am größten sind. Die einzigen Gesellschaften auf dem Weg in die klassenlose Geselschaft sind die entwickelten kapitalistischen Länder.



Inger Offline



Beiträge: 296

08.09.2006 18:25
#2 RE: Die indische Klassengesellschaft Antworten

Hi Zettel,
danke für den Link zum Hamburger Abendblatt, weil dort auch der Disput Röhl/Jelinek und die Diskussion um Eva Hermann mit guten Beiträgen gebracht worden sind. Ich liebe solche aktuellen Zeitzeugengeschichten.
Grüßchen,
Inger

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

14.09.2006 17:57
#3 RE: Die indische Klassengesellschaft Antworten

In Antwort auf:
Es ist sehr ähnlich wie in China, wo die Klassenunterschiede vermutlich weltweit am größten sind. Die einzigen Gesellschaften auf dem Weg in die klassenlose Geselschaft sind die entwickelten kapitalistischen Länder.


Und Indien hat sich auf diesen Weg des Aufbaus des Kapitalismus gemacht. Ein Artikel, der das schildert und viele Details zur Entwicklung Indiens enthält, ist in der FAZ-Sonntagszeitung dieser Woche zu lesen. Der Autor ist ein Deutscher indischer Herkunft.

Der Artikel beschreibt, wie das Indien-Bild der Nachkriegszeit durch die Situation in einem mehr oder weniger sozialistischen Land bestimmt wurde - mit einer Herrschaftselite, die, wie Nehru selbst, von linken Ideen beherrscht war, die sie in England aufgenommen hatte. Dann beschreibt Shantanu Mukherjee den Übergang zum heutigen erfolgreichen Kapitalismus:

Was als durch Kostenvorteile bedingte Verlagerung von geringen Mengen Informationstechnologie aus den Vereinigten Staaten und Westeuropa nach dem südindischen Bangalore begann, entpuppte sich bald als Vorhut einer Revolution. Einer stillen, kapitalistischen Revolution. (...) Diese erste Modernisierung, etwa im Bundesland Pundschab, war oft privat und autochthon, also ohne Fremdhilfe. Das Ende der statischen, halbsozialistischen Wirtschaft deutete sich an. (...)

Heute ist Indien einer der größten Exporteure von Getreide. Es gibt immer weniger Industriebranchen und Forschungsbereiche, nicht nur in der Informationstechnologie, in denen Indien nicht schon Weltniveau erreicht hat. Das träge Wachstum eines Jahrhunderts, die in der Nähe von zwei Prozent gelegene „Hindu Rate of Growth“, ist Vergangenheit. Wenn das keine Revolution ist?

In der Tat: Wie in China ist der heutige Aufstieg die unmittelbare Folge der Entscheidung für den Aufbau des Kapitalismus. Die Wende begann, wie die in Osteuropa, Anfang der neunziger Jahre mit der Ministerpräsidentschaft von Narasimha Rao. Seither gab es unterschiedliche Koalitionen - aber der Aufbau des Kapitalismus wird offensichtlich von keiner der großen politischen Kräfte mehr in Frage gestellt.


Reader Offline



Beiträge: 803

14.09.2006 20:52
#4 RE: Die indische Klassengesellschaft Antworten

Zitat von Zettel
Dann beschreibt Shantanu Mukherjee den Übergang zum heutigen erfolgreichen Kapitalismus:

Was als durch Kostenvorteile bedingte Verlagerung von geringen Mengen Informationstechnologie aus den Vereinigten Staaten und Westeuropa nach dem südindischen Bangalore begann, entpuppte sich bald als Vorhut einer Revolution.


Wenn ich meine (amerikanische) Krankenversicherung anrufe, antwortet mir Indien. Wie viele andere Firmen, die auf dem englischsprachigen Markt arbeiten, wickelt sie ihren Kundenservice in Indien ab, so zum Beispiel der britische Harrods Department Store, der auch Banking, Maklergeschäfte (real estate) und Flugreisen über Indien laufen läßt. Andere internationale Firmen und Organisationen haben ihre Buchhaltung nach Indien ausgelagert.

Zum Thema China und Indien ist mir dieser Blog-Artikel über den Weg gelaufen:
China/India: Shouldn’t we be worried?
http://dealarchitect.typepad.com/deal_ar...dnt_we_be_.html

Der Blogger scheint mitten drin zu sein, in der new flat world (zufällig erwähnt er diesen Begriff heute *g*):
deal architect
Vinnie Mirchandani on global trends in technology enabled business innovation and efficiency
http://dealarchitect.typepad.com/

Greetings,
R.r


Zettel Offline




Beiträge: 20.200

14.09.2006 23:17
#5 RE: Die indische Klassengesellschaft Antworten

Dear Reader,

Zitat von Reader
Wenn ich meine (amerikanische) Krankenversicherung anrufe, antwortet mir Indien. Wie viele andere Firmen, die auf dem englischsprachigen Markt arbeiten, wickelt sie ihren Kundenservice in Indien ab,

Das Verblüffendste, was ich kürzlich erlebt habe, war dies: Ich hatte zusammen mit einer Mitarbeiterin ein Manuskript bei einer deutschen, aber englischsprachigen Fachzeitschrift eingereicht. Und das Copy Editing fand wo statt? - in Indien! By the way, these guys were much stricter in their requirements (RETURN WITHIN 24 HOURS!) than anything I have ever experienced over the decades in those old times when the copy editors were located in Berlin, or in Cambridge, Mass.

Herzlich, Zettel


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