Nein, die Geschichte muß wohl nicht neu geschrieben werden. Aber das, was über die Geschichte seit langem bekannt ist - daß nämlich die DDR den deutschen Terrorismus kräftig unterstützt hat -, das wird vielleicht durch diesen spektakulären Fall der Öffentlichkeit besser bekannt werden als bisher. Argumentiere ich in dieser Marginalie.
Ergänzung: Näheres zu dem Stasi-Objekt 74 und seiner Geschichte hier.
Vielleicht haben einige die ARD-Sendung am 18. Mai gesehen, in der die Tochter des Bankiers Ponto dieses Objekt aufsuchte und sich vorstellte, wie damals Klar und Komplicen dort den Anschlag auf Vater planten.
Naja... Es scheint mir eher ein Stück vom Puzzle zu sein, als ein totaler Umbruch in der Geschichte. Das MfS hat schließlich nicht nur einen einzelnen Polizisten geführt, sondern auch in Westdeutschland ein ganzes Heer von Agenten unterhalten. Würde es jemanden wundern, wenn sie im SDS, in der Friedensbewegung, in den Gewerkschaften, Gott weiß wo noch gewesen wären?
Ich hatte immer dieses Gefühl, auch vor einigen Jahrzehnten schon, daß diese gesamte sozialistische Bewegung in Deutschland, deren geistige Wurzeln einem doch so offensichtlich absurd vorkommen müssen, doch nur ein Produkt irgendeiner fremden Macht sein können, deren Ziel es ist der BRD zu schaden. Damals hatte ich das, wenn auch auf eine diffuse Art und Weise, in mein Schwarz-Weiß-Feindbild eingeordnet und den Sowjets zugeschrieben, die ich hinter Organisationen wie den Grünen vermutete. Es läßt sich so etwas in der Tat kaum beweisen, aber ich halte so etwas eben nicht für ausgeschlossen.
Es wäre eine schöne Ironie der Geschichte, wenn die Linkspartei nun an den westdeutschen Früchten ihrer eigenen Vergangenheit zugrunde ginge.
alle Erfahrung, die ich mit 68 habe, stammen aus meiner Schulzeit, genauer aus dem Veteranengeschwätz von Lehrern. Von denen wurde der Tod Ohnesorgs ("die Ermordung") immer als Angriff des Staates BRD auf die Studentenbewegung gesehen, als eskalierender Moment und Rechtfertigung für die Anwendung von Gewalt. Wenn Kurras nun aber gar kein Söldner der BRD sondern vielmehr der DDR, muss zu Mindest diese Geschichte doch wohl neu geschrieben werden.
Zitat von HajoNaja... Es scheint mir eher ein Stück vom Puzzle zu sein, als ein totaler Umbruch in der Geschichte. Das MfS hat schließlich nicht nur einen einzelnen Polizisten geführt, sondern auch in Westdeutschland ein ganzes Heer von Agenten unterhalten. Würde es jemanden wundern, wenn sie im SDS, in der Friedensbewegung, in den Gewerkschaften, Gott weiß wo noch gewesen wären?
Der Erfolg, lieber Hajo, ergab sich in der Tat wohl daraus, daß man auf verschiedenen Schienen parallel fuhr:
Es gab zum einen die offizielle Propaganda. Die wirkte schon im eigenen Land schlecht; im Westen war ihre Wikrung jämmerlich. Kaum jemand sah das Ostfernsehen, hörte den Freiheitssender 904 (ich schon ) oder glaubte Schnitzler und Co.
Zweitens gab es die offiziellen kommunistischen Organisationen im Westen. Deren Einluß war schon größer; und zwar nicht als Partei unmittelbar, sondern durch ihre Mitarbeit in zahllosen Umfeldorganisationen, Initiativen usw. Ob Ostermarschierer, Krefelder Appelle, Anti-AKW-Bewegung - überall hatten die Kommunisten ihre Finger drin. Und dank ihrer Disziplin und ihres unermüdlichen Fleißes war sie gern gesehen.
Das ging bis in die Studentenorganisationen. Die Maoisten spuckten große Töne, der "Spartakus" aber leistete Basisarbeit, war immer zur Stelle, blieb freundlich und zuverlässig.
Drittens gab es den ganzen Bereich der konspirativen Einflußnahme. Hier begann das Feld des MfS; aber vieles lief auch über andere Schienen. Die Zeitschrift "Konkret" zum Beispiel wurde nicht vom MfS geführt, sondern erst von der Jugend- und später dann von der Kulturabteilung der SED. Man schleuste die eigenen Agenten dort ein, wo sie als Multiplikatoren wirken konnten.
Und viertens gab es die nachrichtendienstliche und vor allem die operativen Tätigkeit des MfS, hier die für Zersetzung in der BRD zuständige Abteilung XX.
Da wurden Journalisten gefälschte Dokumente zugespielt ("Fall" Lübke), da wurde abgehört und das Abgehörte der Presse zugespielt ("Fall" Biedenkopf"), da wurden Bundestagsabgeordnete bestochen "("Fall" Steiner). Und da wurde eben auch die RAF gefördert.
Das alles war koordiniert. Und in dieser Koordinierung hatte es einen Einfluß auf die Politik in der Bundesrepublik, den jedenfalls ich mir damals gar nicht vorstellen konnte.
Zitat von dirkalle Erfahrung, die ich mit 68 habe, stammen aus meiner Schulzeit, genauer aus dem Veteranengeschwätz von Lehrern. Von denen wurde der Tod Ohnesorgs ("die Ermordung") immer als Angriff des Staates BRD auf die Studentenbewegung gesehen, als eskalierender Moment und Rechtfertigung für die Anwendung von Gewalt. Wenn Kurras nun aber gar kein Söldner der BRD sondern vielmehr der DDR, muss zu Mindest diese Geschichte doch wohl neu geschrieben werden.
So gesehen ja, lieber Dirk.
Nur haben Ihre damaligen Lehrer ja die Geschichte gefälscht. Es gab niemals den geringsten Hinweis darauf, daß der "Staat BRD" (das war die kommunistische Sprachregelung) etwas mit dem Schuß von Kurras zu tun hatte. Er wurde ja auch freigesprochen, weil er sich einer Notwehrsituation befunden hatte (sog. Putativ-Notwehr - er war subjektiv in dieser Situation).
Ich habe ja in ZR immer wieder über diese Zeit geschrieben, weil ich den Eindruck habe, daß in der Tat Ihrer Generation ein schlimm verzerrtes Geschichtsbild vermittelt wurde.
Als ich in der Adenauer-Zeit zur Schule ging, wurden wir sehr sachlich und detailliert über das Dritte Reich informiert. Die Behauptung, man sei im Geschichtsunterricht damals "nie bis zur Nazizeit gekommen" kann ich aus meiner Erfahrung überhaupt nicht bestätigen.
Aber was Ihrer Generation über die sechziger und siebziger Jahre vermittelt wurde, das war wohl überwiegend alles andere als sachlich; detailliert vielleicht. Die gescheiterten Revoluzzer strickten sich ein Bild von ihrer glorreichen Jugend, das ungefähr so zutraf wie die das Latein der Jäger und das Garn der Seeleute, und gaben es an Ihre Generation weiter.
Ich habe es miterlebt, wie das "Schah-Regime" als das schlechthinnige Böse galt, und wie man sich als Student selbst so ungeheuer moralisch vorkam, weil man dagegen "kämpfte".
Das Rowohlt-Bändchen von Nirumand steht noch in meiner Bibliothek, wenngleich vom Zerfall bedroht, weil der Kleber dieser Taschenbücher aus den sechziger Jahren sich jetzt allmählich zersetzt. Die Kursbücher aus diesen Jahren sind da haltbarer, und auch die habe ich noch alle und erst kürzlich wieder darin gelesen.
Angeregt durch Ihren Beitrag im Transatlantikforum, erscheint dazu morgen Mittag ein Artikel in ZR.
Zum einen weist sie darauf hin, dass es wohl kaum einen Auftrag gegeben haben wird, gezielt jenen Benno Ohnesorg zu erschießen. "Aber einen förmlichen Befehl oder einen irgendwie gearteten Wunsch, dass Kurras in die Menge ballert oder irgendeinen Demonstranten erschießt, um einen Initialfunken zu setzen, um die Bundesrepublik von innen heraus zu destabilisieren und die radikale APO-Bewegung noch weiter zu radikalisieren, das alles dürfte schon zu den taktischen oder strategischen Planspielen in Ostberlin gehört haben. Immerhin: Kurras war laut der neu gefundenen Stasi-Akte seit 1955 treues und zuverlässiges Stasi-Mitglied und Mitglied der SED und er war Waffenspezialist und ein hervorragender Schütze, einer der besten der damaligen Westberliner Polizei. Er stand also, als er auf Ohnesorg schoss, seit 12 Jahren im Dienste Ostberlins und er war jemand, der mit diesem Doppelleben nicht durchdrehte und er wusste, dass Liquidationen, Staatsmorde, in der DDR Praxis waren."
Röhl meint auch, dass sich die APO nie von dem Schlag erholt hätte, der ihr versetzt worden wäre, wenn damals bekannt geworden wäre, dass Kurras für den Osten arbeitete. "Über Kurras grassierten in der 68er-Bewegung allerlei „Gewissheiten“, die jetzt korrigiert werden müssen, zum Beispiel, dass Kurras ein übler Nazischerge gewesen sei. Als er Ohnesorg erschoss, war er indes ein Stasi-Scherge. Die Legende von der bösen und brutalen Bundesrepublik, die bis heute Wirkung entfaltet, hätte nicht entstehen können, aber die im Zuge dieser Legende notorisch im Westen heruntergespielte Tatsache, dass es sich bei der DDR um einen knallharten Unrechtsstaat gehandelt hat, hätte Gewicht bekommen. Die ethisch-moralische Waage zwischen Bundesrepublik und DDR hätte nicht zu Gunsten der DDR und zu Lasten der Bundesrepublik verschoben werden können."
Seltsamerweise wurde nach meiner Erinnerung damals weder nach der Tat noch in den diversen Prozessen thematisiert, daß Kurras ein Waffennarr und ausgezeichneter Schütze war. Die Erklärung für sein Verhalten - die mir damals auch plausibel erschien - war, daß er im Gewühl die Nerven verlor, sich bedroht sah, obwohl er es objektiv nicht war ("Putativ-Notwehr") und in Panik schoß.
Daß jemand mit Kurras' Qualifikationen sich so verhalten hat, kommt mir jetzt nicht mehr sehr plausibel vor.
Was den zweiten Punkt angeht, stimmt er ja mit dem Tenor meines Artikels überein. Die Studenten waren blind für das Unrechtsregime in der DDR. Und sie neigten zu einem nachgerade paranoiden Weltbild; einem marxistischen eben. Daß der Mann aus eigenem Antrieb schoß, daß es ein Unfall gewesen war - das wurde gar nicht erst diskutiert. Es war "der faschistoide Staat", der da geschossen hatte.
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