Eigentlich wollte ich nur auf einen aktuellen Artikel in Science News aufmerksam machen. Aber als ich versucht habe, ein wenig dessen Hintergrund zu beschreiben, ist ein kleiner Überblick über die Fortschritte der Hirnforschung daraus geworden. Hier der erste Teil.
Lieber Zettel, ein interessantes Thema, das immer wieder die Frage aufwirft, wer sich dieses geniale Konzept ausgedacht und wer es realisiert hat, ohne selbst Hand anzulegen. Im Gegensatz z.B. zu einem Computer oder einem Automotor wurde und wird das Hirn ja nicht von fremder Hand zusammengebaut, es "entsteht" für jeden Menschen , sozusagen aus dem Nichts, genau nach Plan (mit relativ wenigen Ausreissern) und trotzdem mit individuell unterschiedlichen Anlagen.
Ich glaube, dass Ihre Bildunterschrift einen Fehler enthält: Im Hirn zirkuliert kein Blut. Dass sich dort, wo das Hirn denkt, jeweils Blut "ansammelt", dürfte in den Bereich der Metaphoren gehören.
P.S. Ich bin weder Mediziner noch Gehirnforscher, ich kann mich auch täuschen. Kein Hirn ist perfekt
Zitat von vivendiIch glaube, dass Ihre Bildunterschrift einen Fehler enthält: Im Hirn zirkuliert kein Blut. Dass sich dort, wo das Hirn denkt, jeweils Blut "ansammelt", dürfte in den Bereich der Metaphoren gehören.
Im Hirn nicht, aber die Hirnzellen wollen auch mit Sauerstoff versorgt werden, das durch das Blut von außen herangetragen wird. Und fMRI misst auch nicht, wo sich Blut "ansammelt" (wenn sich Blut irgendwo im Hirn ansammelt, dann hat man ein ganz großes Problem), sondern den erhöhten Sauerstoffumsatz, wenn eine Hirnzelle tatsächlich arbeitet. Insofern hat das schon seine Richtigkeit.
Übrigens eine sehr schöne Anwendung recht fortgeschrittener Physik, das sieht man am "Kernspin". Das ist ein klein wenig komplexer als ein Flaschenzug. Aber sehr nett
Letzte Anmerkung an Zettel: "Kernspintomografie"? Ich dachte, Sie huldigen der althergebrachten Orthographie?
-- Ultramontan – dies Wort beschreibt vorzüglich die katholische Mentalität: mit einem kleinen Teil des Bewusstseins nicht Deutscher, nicht Zeitgenosse, nicht Erdenbürger zu sein. - Martin Mosebach, Spiegel 7/2009
Zitat von vivendiLieber Zettel, ein interessantes Thema, das immer wieder die Frage aufwirft, wer sich dieses geniale Konzept ausgedacht und wer es realisiert hat, ohne selbst Hand anzulegen. Im Gegensatz z.B. zu einem Computer oder einem Automotor wurde und wird das Hirn ja nicht von fremder Hand zusammengebaut, es "entsteht" für jeden Menschen , sozusagen aus dem Nichts, genau nach Plan (mit relativ wenigen Ausreissern) und trotzdem mit individuell unterschiedlichen Anlagen.
Ja, wie das funktioniert, davon ist ja noch relativ wenig bekannt. Wahrscheinlich wird es noch vieler Generationen von Forschern bedürfen, um zu verstehen, wie sich eine solche Komplexität in der Phylogenese entwickelt hat und wie sie in der Ontogenese in jedem Lebewesen neu entsteht.
Zitat von vivendiIch glaube, dass Ihre Bildunterschrift einen Fehler enthält: Im Hirn zirkuliert kein Blut. Dass sich dort, wo das Hirn denkt, jeweils Blut "ansammelt", dürfte in den Bereich der Metaphoren gehören.
Das Hirn muß ständig und überall mit Blut versorgt werden; jede Zelle ist auf Blutversorgung angewiesen. Wird sie unterbrochen, dann verlieren wir sehr schnell das Bewußtsein, und nach einer kurzen weiteren Zeit sind die Zellen irreversibel geschädigt.
Ist ein Areal besonders aktiv, dann wird dorthin besonders viel frisches, arterielles, also sauerstoffreiches Blut geschickt; darauf basiert, wie Gorgasal erläutert hat,fMRI. (Wie diese perfekte Anpassung der Versorgung an den Bedarf funktioniert, ist übrigens noch weitgehend unbekannt).
Allerdings haben Sie insofern Recht, als es eine Blut-Hirn-Schranke gibt: Zwischen den Blutzellen und den Nervenzellen des Gehirns ist nur eine eingeschränkter Austausch möglich; beispielsweise von Sauerstoff und Glukose. Es gibt andere Stoffe, die diese Barriere nicht passieren können, was zB beim Einsatz von Medikamenten ein Problem ist. Die Barriere ist stärker als bei sonstigen Körperzellen.
Ich habe Ihnen eine Zeichnung der Hirnarterien herausgesucht; sie ist copyrightfrei, weil sie aus einem Lehrbuch von 1918 stammt, dessen Copyright abgelaufen ist (zum Vergrößern anklicken):
Zitat von GorgasalÜbrigens eine sehr schöne Anwendung recht fortgeschrittener Physik, das sieht man am "Kernspin". Das ist ein klein wenig komplexer als ein Flaschenzug. Aber sehr nett
Und ein Beispiel für interdisziplinäre Zusammenarbeit. Teilchenphysik meets Hirnforschung.
Zitat von GorgasalLetzte Anmerkung an Zettel: "Kernspintomografie"? Ich dachte, Sie huldigen der althergebrachten Orthographie?
Ich bin da, lieber Gorgasal, inkonsequent. Als ich über China geschrieben habe, habe ich beim Korrekturlesen gemerkt, daß ich einmal "Geographie" und ein paar Sätze weiter "Geografie" geschrieben hatte.
Arno Schmidt war da konsequenter. Der schrieb, ohne mit der Wimper zu zucken, "Filosofie".
Zitat von ZettelArno Schmidt war da konsequenter. Der schrieb, ohne mit der Wimper zu zucken, "Filosofie".
Recht hatte er, der Schriftschteller - Schrifts-Teller, so ein Blödsinn!
*lol*
Das hätte ihm auch einfallen können.
Auf den ersten Blick wirkt seine VerSchreibKunst ja vielleicht albern. Aber wenn man sich a bisserl eingelesen hat, dann macht sie viel Spaß.
Erstens, weil man auf derart verfremdete Wörter mehr achtet. "Filosofie" ist im Grunde so legitim wie "Fotografie". Wir schreiben es aber nicht, aus Achtung vor der Philisophie. Schmidts Schreibweise holt sie von ihrem Thron.
Zweitens erleichtert es eine fonetische Schreibweise, den Text beim Lesen zu hören. Beim Lesen von in ihrer Schreibweise vertrauten Wörtern sind wir schnell bei der Semantik; es findet keine - jedenfalls keine bewußte - Graphem- Phonem- Übersetzung statt. Schmidt erzwingt sie, wie auch das genaue Lesen. Vorgelesen haben seine Texte ihren eigenen Reiz; er war selbst ein ausgezeichneter Vorleser, und inzwischen ziehen Schmidt-Fans wie Reemtsma und Bernd Rauschenbach vorlesend durch die Lande.
Und drittens und hauptsächlich erlaubt sich Schmidt Etym-Witze von der Art "Cream-hilled" für Krimhild.
Zitat von Zettelaus Achtung vor der Philisophie. Schmidts Schreibweise holt sie von ihrem Thron.
Filigran, Filibuster, Filister, aber Filo-? Was gibt es schon mit Filo? So gesehen haben Sie sogar Recht mit Ihrer "Philisophie". Emfatisch spricht man ohnehin ungefähr Filäsofie, mit starker Bethonung auf der letzten Silbe, also ist es ja eigentlich auch wurscht.
Mit dem behauchten T sitzt immer noch der Caiser auf dem Tron. Den hätte Schmidt mal von dorten holen sollen.
Zitat von ZettelVorgelesen haben seine Texte ihren eigenen Reiz
So. Der sich daraus ergibt, daß die Schmidt-Eingeweihten lachen, wenn sie "Krimhild" hören und die Laien nicht wissen, was daran lustig ist?
Zitat von ZettelVorgelesen haben seine Texte ihren eigenen Reiz
So. Der sich daraus ergibt, daß die Schmidt-Eingeweihten lachen, wenn sie "Krimhild" hören und die Laien nicht wissen, was daran lustig ist?
Neinein, lieber Kallias. Dieser Reiz fällt natürlich weg. Aber es kommt etwas anderes deutlicher zum Vorschein: Arno Schmidts sprachliche Musikalität. Der Rhythmus der Sätze.
Er hat eben oft eine phonetische Schreibweise verwendet, weil er Sprache sehr stark phonetisch empfunden hat.
Seine Etym-Theorie basiert darauf: Die Wörter seien, meint er, im Gehirn nach ihrer phonetischen Ähnlichkeit gelagert. Sie sind also nach Klang miteinander assoziiert. Weak mit Week zum Beispiel.
Was also ist für seine Frau ein "Weekling"? Genau!
Zitat von ZettelSeine Etym-Theorie basiert darauf: Die Wörter seien, meint er, im Gehirn nach ihrer phonetischen Ähnlichkeit gelagert. Sie sind also nach Klang miteinander assoziiert. Weak mit Week zum Beispiel.
Das halte ich für abwegig. Ich hatte mal Nachbarn, die hießen Himmler. Das verursachte mir nie eine unangebrachte Assoziation, wenn ich etwa den netten Mann und Biertrinker mit "Grüß Gott, Herr Himmler" begrüßte; umgekehrt fiel mir auch nie mein Nachbar ein, wenn von Himmler die Rede war. Die Wörter sind offenbar nach semantischer Ähnlichkeit gelagert, und nur wenn's sein muß, sucht sich das Gehirn die zugehörigen Laute.
Zitat von ZettelBeim Lesen von in ihrer Schreibweise vertrauten Wörtern sind wir schnell bei der Semantik; es findet keine - jedenfalls keine bewußte - Graphem- Phonem- Übersetzung statt.
Beim Hören vertrauter Wörter sind wir ebensoschnell bei der Semantik, ohne daß ein Graphem vor unserem geistigen Auge erscheint.
Es ist nach alledem schwer, dem Schluß auszuweichen, daß Gedanken, je selbst Eigennamen sprachunabhängige Entitäten sind. Folglich ist jede Kodierung grundsätzlich gleichrangig, ob durch Laute dieser oder jener natürlichen Sprache, oder durch dieses oder jenes Schriftsystem.
Die gegenteilige Ansicht ist leider weit verbreitet, was für die Sprachdidaktik verheerende Folgen hat. Man bildet sich anscheinend ein, die gesprochene aktive Sprache sei irgendwie vorrangig und müsse daher auf jeden Fall gelernt werden. So ein Mist: ich würde gern Spanisch, Holländisch oder Türkisch lesen, aber wo gibt es einen Kurs für Nurlesen? Dreiviertel der Mühe eines der üblichen sprechorientierten Kurse - Aussprache, Hörverstehen und alle Grammatikregeln, die man nur für den aktiven Gebrauch benötigt - wäre ja unnötig.
Zitat von ZettelSchmidt erzwingt sie
Klingt ja unangenehm. Vielleicht hören die Leute deshalb Schmidt lieber?
Zitat von ZettelSeine Etym-Theorie basiert darauf: Die Wörter seien, meint er, im Gehirn nach ihrer phonetischen Ähnlichkeit gelagert. Sie sind also nach Klang miteinander assoziiert. Weak mit Week zum Beispiel.
Das halte ich für abwegig.
Ist es nicht, lieber Kallias. Es ist natürlich in Wahrheit viel komplizierter, aber es gibt schon Hinweise darauf, daß sowohl gehörte als auch geschriebene Sprache phonologisch kodiert wird und daß bei der Sprachproduktion - selbst beim Tippen - ein artikulatorischer Arbeitsspeicher verwendet wird.
Die Daten stammen zB aus der Fehlerlinguistik; auch aus Shadowing-Experimenten, die darauf hindeuten, daß schon nach der Analyse der ersten Phoneme gehörter Sprache eine Kohorte von phonetisch benachbarten Lexemen rekrutiert wird, aus der dann beim Fortschreiten des Hörens der richtige Kandidat ausgewählt wird.
Versprecher sind meist multipel determiniert; aber Klangähnlichkeit spielt fast immer eine Rolle. Daß beim Lesen eine phonologische Route zur Bedeutung zumindest im Spiel sein kann (ob es auch eine direkte vom Graphem zur Semantik gibt, ist umstritten) wird durch zahlreiche Experimente zB mit Homophonen belegt.
Fehler beim Vertippen sind auf der Wortebene, wie Versprecher, meist auch durch artikulatorische Ähnlichkeit determiniert. Ich schreibe statt "gefangen" vielleicht "gegangen", aber nicht versehentlich "festgenommen".
Zitat von Kallias Es ist nach alledem schwer, dem Schluß auszuweichen, daß Gedanken, je selbst Eigennamen sprachunabhängige Entitäten sind. Folglich ist jede Kodierung grundsätzlich gleichrangig, ob durch Laute dieser oder jener natürlichen Sprache, oder durch dieses oder jenes Schriftsystem.
Ja, natürlich gibt es eine abstrakte Repräsentation oberhalb der Ebene der natürlichen Sprache; das ist das, was seit den siebziger Jahren durch "propositionale Netzwerke" usw. simuliert werden soll. Sonst könnte man ja gar nicht übersetzen.
Die Frage ist aber, welche Kodierung verwendet wird, sobald man über diese Ebene der abstrakten kognitiven Repräsentation hinausgeht. Die evolutionär entstandene Sprache ist die lautliche. Lesen und Schreiben sind kultureller Erwerb; ich halte es für wahrscheinlich, daß sie der Lautsprache nur aufgesetzt sind, nicht diese ersetzen. Vielleicht ist es bei logographischen Schriften anders; das ist eine spannende Frage.
Zitat von Kallias So ein Mist: ich würde gern Spanisch, Holländisch oder Türkisch lesen, aber wo gibt es einen Kurs für Nurlesen? Dreiviertel der Mühe eines der üblichen sprechorientierten Kurse - Aussprache, Hörverstehen und alle Grammatikregeln, die man nur für den aktiven Gebrauch benötigt - wäre ja unnötig.
Warum probieren Sie's nicht ohne Kurs, lieber Kallias? Sie werden merken, wie unglaublich schwierig das wäre. Sie kommen nicht ohne inneres Sprechen aus; sie kommen nicht ohne äußeres Sprechen aus.
In der Antike hieß "Lesen" laut lesen. Von einem Gelehrten - ich habe jetzt nicht mehr parat, wem - wird berichet, daß er es dahin gebracht hatte, leise zu lesen. Die Lippen bewegte er wohl immer noch.
Lesen ist nicht direkte Sinnentnahme, sondern visuell gesteuertes Sprechen.
Herzlich, Zettel
PS: Vor ein paar Tagen habe ich im TV einen Sumerologen (heißen die so?) gesehen, der Keilschrift interpretierte. Er las sie lautlich vor.
Warum? Warum begnügt man sich als Sumerologe bei der Keilschrift, von der vermutlich niemand die genaue phonologische Transskription kennt, nicht damit, vom Schriftbild direkt zur semantischen Ebene zu gehen?
Zitat von ZettelIn der Antike hieß "Lesen" laut lesen. Von einem Gelehrten - ich habe jetzt nicht mehr parat, wem - wird berichtet, daß er es dahin gebracht hatte, leise zu lesen.
Hier ist die klassische Belegstelle:
Zitat von Augustinus berichtet von AmbrosiusWenn er aber las, liefen seine Augen über die Seiten hin, und das Herz drang in ihr Verständnis, Stimme und Zunge ruhten. Oft, wenn ich zugegen war - denn niemandem war verboten, einzutreten, und es war nicht Brauch, ihm die Besuchenden zu melden -, hab ich ihn so gesehen und nie anders als still lesend. (...) Und leise las er wohl deshalb, daß nicht ein wißbegieriger und aufmerksamer Hörer ihn zwingen könne, eine dunkle Stelle, die er eben las, ihm aufzuklären und ihm in irgendwelcher schwierigen Frage Rede zu stehen. Und auf diese Weise hätte er innerhalb der karg bemessenen Zeit nicht so viel, als er wohl wollte, lesen können. Auch wenn er durch das leise Lesen nur seine Stimme, die leicht heiser wurde, hätte schonen wollen, so wäre dies ein billiger Grund gewesen. (Aug. Conf. VI, 3, Übers. H. Hefele, Diederichs, 1958)
Das klingt in der Tat so, als sei lautes einsames Lesen üblich gewesen, sonst hätte Augustinus keine Vermutungen darüber anstellen müsen, warum Ambrosius leise las. Das ist jedenfalls die übliche Ansicht der Altphilologen.
Zitat von BurfeindEuripides, Hipp. 856–890 (5. Jh. v.Chr.) Theseus liest einen Brief, der an den Arm seiner verstorbenen Liebsten gebunden war. Nach dem Lesen ruft er aus: »Weh! Unglück häuft sich über Unglück auf!« (Hipp. 874f.). Darauf bittet der Chor: »Was gibt es? Sag es, wenn ichs hören darf« (Hipp. 876). Und erst dann liest er den Brief dem Chor – und dem Publikum des Schauspiels – laut vor. Vorher hatte er also leise gelesen: »Ich kann nicht des Mundes Tor sperren ihm. / Heraus muss das arge fluchschwangre Wort. Vernimms, Vaterland!« (Hipp. 882-890).
Plutarch, Brut. 5,2f. und Cat.Min. 24,1f. Auch Plutarch beschreibt – gleich zweimal – eine Szene zwischen Cato und Caesar, die wie selbstverständlich vom leisen Lesen handelt. Caesar, der im römischen Senat neben Cato steht, bekommt eine kurze Notiz gereicht, die er leise liest (...) Das erregt Catos Unwillen, weil er meint, Caesar würde heimlich Instruktionen von den Feinden erhalten. Als er seinen Verdacht öffentlich ausruft und die Nachricht daraufhin zu lesen bekommt, muss er peinlich feststellen, dass sie von seiner eigenen in Caesar verliebten Schwester Servilia ist.
Gelegentlich wird das leise Lesen gegenüber dem lauten gelobt, wofür Burfeind zwei Stellen anführt.
Zitat von BurfeindPtolemäus, Judic. 5,1f. Der zweite Beleg stammt aus dem 2. Jh. n.Chr., also immer noch lange vor Augustin. Ptolemäus schreibt, dass für die Erforschung der Dinge die Gedanken genügten (...), während das Reden und die Ausübung der Sinne die wissenschaftlichen Untersuchungen störten. Darum würde man beim Lesen auch schweigen (...). Reden wäre nur nützlich, um anderen die Forschungsergebnisse mitzuteilen.
Es scheint wohl so gewesen zu sein, daß das leise Lesen kein Standardverfahren war, sondern immer einem speziellen Zweck diente, etwa der Verheimlichung oder der dramatischen Spannung.
Beim Abtippen des Augustinuszitats habe ich übrigens auch laut gelesen, weil das beim Memorieren hilft. Mag sein, daß dies auch der Grund für das laute einsame Lesen in der Antike war - während wir heute leise lesen, weil wir das meiste davon gerne bald wieder vergessen würden.
Vielen Dank, lieber Kallias! Ihre Beiträge zu lesen ist wirklich eine Freude, und ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, daß ich das immer mal wieder erwähne.
Die spannende Frage ist aus meiner Sicht, warum denn das laute Lesen so lange das Übliche und das leise Lesen der Ausnahmefall war.
Es ist ja auch noch beim Lesenlernen so. Niemand bringt Kindern sofort das leise Lesen bei. Erst buchstabieren, dann lesen sie laut. Nicht, damit der Lehrer das kontrollieren kann, sondern weil es gar nicht anders geht.
Warum geht es nicht anders? Ich glaube, weil unser visuelles System nicht für die Aufgabe eingerichtet ist, die das Lesen stellt.
Das visuelle System hat die Aufgabe, die Umwelt abzubilden (sieht man einmal von visuell gesteuerten Bewegungen ab; das ist ein Kapitel für sich). Dazu exploriert das Auge die Umwelt mittels Sakkaden, die eine ausgesprochen erratische Struktur haben. Am Anfang eher lange Strecken, dann kürzere. Mal hierhin, mal dorthin. Gesteuert auf eine sehr komplexe Weise durch die visuellen Merkmale der Szene (man guckt dorthin, wo etwas Auffälliges ist), aber auch die semantische Ebene (man findet etwas dort, wo es plausiblerweise hingehört).
Beim Lesen müssen die Sakkaden diszipliniert werden, linearisiert sozusagen. Immer schön eine Zeile lang. Gelegentlich mal ein Stücklein zurück, wenn etwas unklar geblieben ist. Dann - hopps - der Sprung zur nächsten Zeile.
Diese Linearität ist dem visuellen System fremd, sie ist aber das Wesen gesprochener und gehörter Sprache. Indem man die Analyse der visuellen Information an - zunächst äußeres, dann wie bei Ambrosius inneres - Sprechen knüpft, zwingt man gewissermaßen dem visuellen System diese Linearisierung auf.
Ein zweiter Aspekt ist die zeitliche Integration. Sprachverarbeitung verlangt und ermöglicht eine ständige Zwischenspeicherung; man kann ja einen Satz nicht verstehen, wenn man am Ende den Anfang nicht mehr kennt. Dafür hat uns die Evolution eine artikulatorische Schleife (articulatory loop) spendiert, die sehr wahrscheinlich auch beim leisen Lesen in Form inneren Sprechens eingesetzt wird.
Zitat von Zetteles gibt schon Hinweise darauf, daß sowohl gehörte als auch geschriebene Sprache phonologisch kodiert wird (...) Lesen ist nicht direkte Sinnentnahme, sondern visuell gesteuertes Sprechen.
Das kann gar nicht stimmen, lieber Zettel, da man sonst beim stummen Lesen keine höhere Geschwindigkeit als beim Hören erreichen würde. (Nach Wikipedia sind das beim Hören 150 Wörter pro Minute, beim leisen Lesen mehr als 250 Wörter.)
Nach Wikipedia gibt es mehrere Ebenen des Lesenverstehens:
• Buchstabieren • Wörter erkennen • Sinn erfassen auf Satzebene • Sinn erfassen auf thematischer Ebene
mit jeweils höherer Geschwindigkeit.
Lautliche Rekodierung findet auf der ersten Ebene statt, und könnte wohl auf der zweiten noch möglich sein, aber nicht mehr bei den Schnellverständnis-Verfahren der dritten und vierten Ebene.
Besonders interessant ist die zweite Ebene:
Zitat von WikipediaMit zunehmender Übung können Wörter richtig zugeordnet werden, auch wenn nur ein Teil der Buchstaben fixiert wird. • Mit der Zeit werden sehr häufige kurze Wörter – wie ist, oder, und – nicht mehr direkt angeschaut. • Von den etwas längeren und häufigen Wörtern werden nur noch Anfang und Ende kontrolliert. Auf diese Weise erreicht der Leser eine Lesegeschwindigkeit von 120 bis 150 Wörtern pro Minute.
Wenn wir nur noch Anfang und Ende von Wörtern betrachten, dann würde das lautliche Rekodieren eine ungeheure Ineffizienz bedeuten, weil es dann nicht mit dem Lesen mitlaufen würde, sondern nachträglich stattfinden müßte: man sieht das ganze Wort bildhaft durch zwei Blickfixierungen - man identifiziert es im Wortbildgedächtnis - nun erst kennt man die gesamte Buchstabenfolge - man kann jetzt erst das Wort als Lautgebilde rekodieren - um es sogleich wieder als Sinngebilde zu dekodieren. Das ist wie ein Hundertmeterlauf, bei dem man fünf Meter vor dem Ziel stehenbleibt, gemächlich zur Startlinie zurückschlendert und dann die ganze Strecke auf einem Bein hüpft. So dumm kann doch das Gehirn gar nicht sein?
Zitat von ZettelNiemand bringt Kindern sofort das leise Lesen bei. Erst buchstabieren, dann lesen sie laut. (...) Warum geht es nicht anders? Ich glaube, weil unser visuelles System nicht für die Aufgabe eingerichtet ist, die das Lesen stellt. Das visuelle System hat die Aufgabe, die Umwelt abzubilden (...). Dazu exploriert das Auge die Umwelt mittels Sakkaden, die eine ausgesprochen erratische Struktur haben. (...) Beim Lesen müssen die Sakkaden diszipliniert werden, linearisiert sozusagen.
Das leuchtet mir nicht recht ein. Wenn man Gesichter erkennen möchte, benutzt man eben andere Blicksprünge, als wenn man einen Text liest. Gesichter zu erkennen lernt man früh im Leben, zu lesen Jahre später. Das bedeutet aber doch nicht, daß das visuelle System für lineare Sakkaden nicht eingerichtet ist. Schließlich lassen sich die ja lernen.
Ebenso das Sprechen beim Lesenlernen: wir lernen eher Sprechen als Lesen, deshalb können wir die Sprechfähigkeit als Hilfsmittel fürs Lesenlernen verwenden. Das heißt nicht, daß es notwendig ist. Wer Latein kann, hat es leichter, anschließend Französisch zu lernen. Das heißt auch nicht, daß es gar nicht anders geht, als erstmal Latein zu lernen.
Zitat von ZettelDafür hat uns die Evolution eine artikulatorische Schleife (articulatory loop) spendiert, die sehr wahrscheinlich auch beim leisen Lesen in Form inneren Sprechens eingesetzt wird.
Müßte die Schleife nicht auf der Ebene der abstrakten kognitiven Repräsentation stattfinden? (Ebene 4?) Sonst würde man ja wieder langsam werden.
Zitat von Zetteles gibt schon Hinweise darauf, daß sowohl gehörte als auch geschriebene Sprache phonologisch kodiert wird (...) Lesen ist nicht direkte Sinnentnahme, sondern visuell gesteuertes Sprechen.
Das kann gar nicht stimmen, lieber Zettel, da man sonst beim stummen Lesen keine höhere Geschwindigkeit als beim Hören erreichen würde. (Nach Wikipedia sind das beim Hören 150 Wörter pro Minute, beim leisen Lesen mehr als 250 Wörter.)
Wenn dieses Argument triftig wäre, lieber Kallias, dann brauchte man nicht über inneres Sprechen beim Lesen zu streiten, denn diese Werte sind seit dem 19. Jahrhundert bekannt.
Es ist aber überhaupt kein ernstzunehmendes Argument. Die Geschwindigkeit des lauten Lesens wird dadurch begrenzt, wie schnell die Artikulatoren in ihre jeweilige Position gebracht werden können. Für das innere Sprechen ist das belanglos. Entscheidend ist, wie schnell die Sprechplanung erfolgt, nicht die periphere effektorische Umsetzung. Diese dürfte - zusammen mit dem Umfang des funktionellen visuellen Felds und der Latenz von Sakkaden - der begrenzende Faktor für das Lesen sein. Er liegt in der Tat bei dem Wert, den Sie zitieren. Schneller kann man nicht lesen, weswegen "Schnell-Lesen" ein Unfug ist.
Zitat von Kallias Nach Wikipedia gibt es mehrere Ebenen des Lesenverstehens: • Buchstabieren • Wörter erkennen • Sinn erfassen auf Satzebene • Sinn erfassen auf thematischer Ebene mit jeweils höherer Geschwindigkeit. Lautliche Rekodierung findet auf der ersten Ebene statt, und könnte wohl auf der zweiten noch möglich sein, aber nicht mehr bei den Schnellverständnis-Verfahren der dritten und vierten Ebene.
Das ist, auch wenn es in der Wikipedia stehen sollte, falsch. Es gibt kein "Schnellverständnis-Verfahren"; so wenig, wie man Wörter erkennen kann, ohne die Buchstaben zu erkennen. Die sogenannte Ganzwort-Methode des Lesenlernens führt in der Regel nicht dazu, daß die Kinder Wörter lesen können, sondern sie erahnen deren Identität aufgrund irgendwelcher visueller Merkmale.
Wenn eine Funktion geübt und damit automatisiert wird, dann ändert sich ihre funktionelle Struktur. Der geübte Leser buchstabiert nicht mehr, sondern er verarbeitet die Buchstaben eines Worts parallel und gewichtet dabei die besonders informationshaltigen - Anfangs- und Endbuchstaben - besonders hoch. Auch der Gesamtumriß eines Worts wird berücksichtigt; natürlich auch seine Wahrscheinlichkeit im Kontext.
Aber das ist eben das Ergebnis langer Übung und Automatisierung. Lesen lernt man durch Buchstabieren, durch inneres Nachsprechen der Buchstaben. Jedenfalls in alphabetischen Schreibsystemen; in logographischen mag das anders sein.
Zitat von KalliasWenn wir nur noch Anfang und Ende von Wörtern betrachten, dann würde das lautliche Rekodieren eine ungeheure Ineffizienz bedeuten, weil es dann nicht mit dem Lesen mitlaufen würde, sondern nachträglich stattfinden müßte: man sieht das ganze Wort bildhaft durch zwei Blickfixierungen - man identifiziert es im Wortbildgedächtnis - nun erst kennt man die gesamte Buchstabenfolge - man kann jetzt erst das Wort als Lautgebilde rekodieren - um es sogleich wieder als Sinngebilde zu dekodieren.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß es neben der phonologischen Route zur Semantik auch eine direkte vom Graphem zur Bedeutung gibt. Der schlagendste Beweis ist die Tiefendyslexie. Die betreffenden Patienten verstehen den Sinn eines Worts, können es aber nicht nennen. Wenn man ihnen "town" zeigt, sagen sie vielleicht "city".
Es stimmt auch, daß der geübte Leser weniger Sakkaden braucht, um einen Text zu lesen, als der Anfänger; daß kurze Funktionswörter von oft nicht fixiert werden. Das funktionelle Gesichtsfeld ist aber begrenzt - asymmetrisch auf ungefähr (ich sage das jetzt aus dem Gedächtnis) drei oder vier Buchstaben links und vielleicht sieben bis zehn rechts vom Fixationspunkt. Man kann das durch Experimente herausfinden, in denen interaktiv während des Lesens der Text ständig verändert wird.
Für die Frage der phonetischen Rekodierung ist das alles aber belanglos. Sie wird - aus meiner Sicht - estens zur Integration über die Zeit benötigt; zweitens zur Disziplinierung der Blickbewegungen.
Zitat von KalliasWenn man Gesichter erkennen möchte, benutzt man eben andere Blicksprünge, als wenn man einen Text liest. Gesichter zu erkennen lernt man früh im Leben, zu lesen Jahre später. Das bedeutet aber doch nicht, daß das visuelle System für lineare Sakkaden nicht eingerichtet ist. Schließlich lassen sich die ja lernen.
Es ist nicht dafür eingerichtet. Keine natürliche Szene verlangt das. Sondern sie verlangt erratische Sakkaden - erst den schnellen Überblick, dann die Exploration wichtiger Details. Immer hin und her, auf und ab. Vielleicht finde ich ein Bild, das das zeigt, dann reiche ich es nach.
Die Disziplin der Sakkadensteuerung, die das Lesen verlangt, ist dem visuellen System völlig fremd. Die einzigen nicht erratischen Sakkaden sind Rücksprung- Sakkaden nach langsamen Folgebewegungen (Nystagmus), und diese erfolgen automatisch. Versuchen Sie, lieber Kallias, einmal, mit dem Blick einem Hieroglyphentext zu folgen, den Sie nicht phonetische rekodieren können. Sie werden merken, wie schwer es ist, nicht mit dem Blick abzuschweifen. Und wie unmöglich, noch zu wissen, was an der ersten Position stand, wenn Sie die vierundzwanzigste erreicht haben.
Zitat von KalliasEbenso das Sprechen beim Lesenlernen: wir lernen eher Sprechen als Lesen, deshalb können wir die Sprechfähigkeit als Hilfsmittel fürs Lesenlernen verwenden. Das heißt nicht, daß es notwendig ist. Wer Latein kann, hat es leichter, anschließend Französisch zu lernen. Das heißt auch nicht, daß es gar nicht anders geht, als erstmal Latein zu lernen.
Wie lernen Hörbehinderte lesen? Indem sie während des Lesen die entsprechenden Zeichen der Gebärdensprache machen. Ohne das ist es ungemein mühsam.
Zitat von ZettelSeine Etym-Theorie basiert darauf: Die Wörter seien, meint er, im Gehirn nach ihrer phonetischen Ähnlichkeit gelagert. Sie sind also nach Klang miteinander assoziiert. Weak mit Week zum Beispiel.
Das halte ich für abwegig. Ich hatte mal Nachbarn, die hießen Himmler. Das verursachte mir nie eine unangebrachte Assoziation, wenn ich etwa den netten Mann und Biertrinker mit "Grüß Gott, Herr Himmler" begrüßte; umgekehrt fiel mir auch nie mein Nachbar ein, wenn von Himmler die Rede war. Die Wörter sind offenbar nach semantischer Ähnlichkeit gelagert, und nur wenn\'s sein muß, sucht sich das Gehirn die zugehörigen Laute.
Vorsicht mit Eigennamen und überhaupt der ganzen Deixis! Da kommt man wirklich zum archaischen Kern der Sprache und trifft auf starke Mechanismen, die so im Rest der Sprache scheinbar nicht existieren! Hier trifft man auch extrem kultur- und damit sprachübergreifend auf Phänomene, die eher mit der Körpersprache und unseren vormenschlich-evolutionären Wurzeln zusammenhängen, als mit dem, was wir heute mit zivilisierten Menschen verbinden.
Beispielsweise ist es scheinbar in allen Kulturen der Welt gefährlich, direkt auf einen Anwesenden zu zeigen. Man kann das zivilisatorisch einfangen, Mc Cain wurde für "that one" zwar nicht ausgestoßen oder umgebracht. Aber das hängt davon ab, wie die jeweilige Kultur diese scheinbar immer als aggressiv und abwertend bzw. gewalttätig verstandene Geste mit gehobeneren Umgangsformen auflädt.
Eigennamen haben bei Deixisbedarf eine sehr demilitarisierende Funktion und sind verdammt alt. Sie sind sehr, sehr eng mit der Vorstellung eines bestimmten Menschen verknüpft und bezeichnen ein Individuum mit all den ihm zugeschriebenen Eigenschaften. Benutzt man Eigennamen als Klassennamen (So ein Detlev! Sind Sie so ein Himmler?), wird die Aussage beleidigend.
Sie wußten das intuitiv auch selbst, sonst hätten Sie das Beispiel nicht so gewählt. Sie sind auf den Unterschied zwischen der starken deiktischen Kraft eines Eigennames und der schwächeren assoziativen Kraft eines normalen Nomens gestoßen. Das ist m.E. auch der Unterschied zwischen den alten Wurzeln der menschlichen Sprache und der hinzugewonnenen Sprache des heutigen Menschen.
Zitat von Kallias
Zitat von Zettel Beim Lesen von in ihrer Schreibweise vertrauten Wörtern sind wir schnell bei der Semantik; es findet keine - jedenfalls keine bewußte - Graphem- Phonem- Übersetzung statt.
Beim Hören vertrauter Wörter sind wir ebensoschnell bei der Semantik, ohne daß ein Graphem vor unserem geistigen Auge erscheint. Es ist nach alledem schwer, dem Schluß auszuweichen, daß Gedanken, je selbst Eigennamen sprachunabhängige Entitäten sind. Folglich ist jede Kodierung grundsätzlich gleichrangig, ob durch Laute dieser oder jener natürlichen Sprache, oder durch dieses oder jenes Schriftsystem.
Das folgt daraus nicht. Natürlich haben wir i.d.R. keine bewußte Graphemassoziation, wenn wir ein Wort hören. Woher sollte die auch kommen? Wir kriegen Schlallwellen ab. Ein Großteil der dadurch empfangenen Reize wird schon aussortiert, ehe das Signal im Hirn anlangt. Und dort wird noch mehr weggeschmissen. Experimente haben gezeigt, daß Probanden sehr häufig ein Wort schon verstehen, ehe es vollständig bei ihnen angekommen ist. Sie erraten einfach den Rest. Verblüffend ist die enorm hohe Trefferquote, die allerdings von außersprachlichen Dingen wie Kontextwissen abhängt. Unser Hirn zeigt uns nur das Ergebnis eines gewaltigen Musterkennungsprozesses. Dasselbe gilt für die Optik: Wir sehen einen Buchstaben, nicht die unzähligen Farbkleckse auf Fasern, die wir tatsächlich empfangen.
Zitat von Kallias Die gegenteilige Ansicht ist leider weit verbreitet, was für die Sprachdidaktik verheerende Folgen hat. Man bildet sich anscheinend ein, die gesprochene aktive Sprache sei irgendwie vorrangig und müsse daher auf jeden Fall gelernt werden.
Diese Einbildung, die gängige wissenschaftliche Meinung nach vielen Feldversuchen, ist an Ihrer Misere ganz unschuldig. Glauben Sie mir ruhig: Der Letzte, auf den Lehrbuchverlage und Kursanbieter hören, ist ein Linguist. Insbesondere, wenn es um ein Sprachlehrbuch geht. Ihre Misere ist schlicht dem Markt geschuldet. Rein schriftliche Lehrbücher lohnen sich einfach nicht. Ich habe hier einen rein schriftlichen Tschechischkurs liegen und weiß seit dem, daß das Konzept tatsächlich nicht funktioniert.
Klug und fleißig - Illusion Dumm und faul - das eher schon Klug und faul - der meisten Laster Dumm und fleißig - ein Desaster The Outside of the Asylum
Die Augustinusstelle hebt das Stillesen ohne Subvokalisation dermaßen lobend hervor, daß es nicht üblich gewesen sein kann. Im Gegenteil wird es hier als Bildungsideal angepriesen.
Es ist eigentlich auch sehr einfach zu sehen, warum früher häufiger laut gelesen wurde und heute meist leise: Bevölkerungsdichte und Bücherdichte. Man kann laut lesen, wenn man damit niemanden nervt. Man muß laut lesen, wenn man sich in der Gruppe eine Schrift teilen muß und nicht ausleihen kann.
Klug und fleißig - Illusion Dumm und faul - das eher schon Klug und faul - der meisten Laster Dumm und fleißig - ein Desaster The Outside of the Asylum
Zitat von califax Es ist eigentlich auch sehr einfach zu sehen, warum früher häufiger laut gelesen wurde und heute meist leise: Bevölkerungsdichte und Bücherdichte.
Es ist, lieber Califax, scnlicht eine Frage der Geübtheit. Leise lesen kann nur der Geübtte.
Im zweiten Teil geht es um das Default-Netzwerk und um die heutige Vorstellung von der funktionellen Organisation des Gehirns: Nicht Schaltstationen, die von irgendwo kommandiert werden, sondern Spezialisten, die sich zu ständig anderen Netzwerken zusammenschalten und kooperieren.
Zitat von CalifaxRein schriftliche Lehrbücher lohnen sich einfach nicht.
Mhm. Besteht das Unternehmertum nicht gerade darin, Sachen auf den Markt zu bringen, von denen alle zuvor meinten, sie würden sich nicht lohnen, denn sonst wären sie schon da?
An Unis z.B. sind oft sehr spezielle Lehrbücher in Gebrauch ("Funktionalanalysis der partiellen Differentialgleichungen höchster Ordnung" u.dgl. Bücher ohne richtigen Massenmarkt.) Da könnte es doch genausogut "Fremdsprachen lesen für Historiker" geben - unverzichtbar eigentlich für das Studium der europäischen Geschichte! Stattdessen muß man sich z.B. in Tschechistik einschreiben, lernt dann erstmal, sich mit Ahoj! zu begrüßen, und kann anschließend immer noch keine schwedischen Quellen lesen. So dachte ich... doch...
Zitat von CalifaxIch habe hier einen rein schriftlichen Tschechischkurs liegen und weiß seit dem, daß das Konzept tatsächlich nicht funktioniert.
Schade. Eine Illusion weniger. Doch merkwürdig auch: bei Latein und Altgriechisch funktioniert es ja; kein Mensch lernt Latein im Sprachlabor.
Vielen Dank für die aufschlußreichen Ausführungen zur Deixis.
Zitat von CalifaxDie Augustinusstelle hebt das Stillesen ohne Subvokalisation dermaßen lobend hervor, daß es nicht üblich gewesen sein kann. Im Gegenteil wird es hier als Bildungsideal angepriesen.
Das denke ich nicht. Augustinus zufolge diente das leise Lesen der Kommunikationsverweigerung. Er kritisiert Ambrosius zwar nicht deswegen, beklagt sich aber darüber. Die zitierte Stelle geht nämlich so weiter:
Zitat von AugustinusJedenfalls aber fand ich so die Muße nie, ihm vorzulegen, was ich auf dem Herzen hatte, und seine Seele zu befragen, wie man dein heiliges Orakel fragt; nur manchmal hatte ich für wenige Worte nur sein Ohr. Um ihm aber auch einmal nur all meine innere Unruhe auszuschütten, dazu mußte ich auf eine Stunde warten, da er volle freie Zeit hätte, und die kam nie.
Zitat von KalliasDoch merkwürdig auch: bei Latein und Altgriechisch funktioniert es ja; kein Mensch lernt Latein im Sprachlabor.
Aber auch nicht ohne Sprechen, lieber Kallias.
Ich habe, glaube ich, schon einmal erwähnt, daß ich Altgriechisch als "einsamer Leser" gelernt habe; aus Jux und Dollerei in den Ferien zwischen dem ersten und zweiten Semester. Die Wortkunde habe ich auswendig gelernt, als ich in Frankreich getrampt bin und oft stundenlang an der Straße stand. Dabei habe ich die Wörter vor mich hingesprochen.
Warum? Einmal zum Memorieren. Aber ich hätte die Vokabeln ohne Sprechen gar nicht differenzieren können. In einer Wortkunde stehen ja überwiegend ähnliche Wörter untereinander; sagen wir, agoreuo unter agorazo. Das differenziert sich visuell erst durch die Gliederung, die das laute Lesen mit sich bringt.
Zitat von KalliasDoch merkwürdig auch: bei Latein und Altgriechisch funktioniert es ja; kein Mensch lernt Latein im Sprachlabor.
Aber auch nicht ohne Sprechen
Richtig, aber das muttersprachliche Sprechen würde im Rahmen einer Nur-Lese-Didaktik völlig genügen. Sie brauchten damals den lautlichen Unterschied von Omega und Omikron nicht zu kennen, und die norddeutschen Lateiner, die komischerweise "Kikero" sagen und nicht seriös "Zizero" wie wir süddeutschen lernen deshalb die Sprache auch nicht schlechter.
Ähnliches gilt für den vermeintlichen Vorrang des aktiven vor dem passiven Sprachgebrauch. Wer Spanisch sprechen will, sollte den Unterschied zwischen "ser" und "estar" kennen, den es im Deutschen nicht gibt, und den man daher nicht kennen muß, wenn man Spanisch bloß hört oder liest.
Zitat von KalliasDoch merkwürdig auch: bei Latein und Altgriechisch funktioniert es ja; kein Mensch lernt Latein im Sprachlabor.
Aber auch nicht ohne Sprechen
Richtig, aber das muttersprachliche Sprechen würde im Rahmen einer Nur-Lese-Didaktik völlig genügen. Sie brauchten damals den lautlichen Unterschied von Omega und Omikron nicht zu kennen, und die norddeutschen Lateiner, die komischerweise "Kikero" sagen und nicht seriös "Zizero" wie wir süddeutschen lernen deshalb die Sprache auch nicht schlechter.
Na, ich glaube, lieber Kallias, seriöser ist der Kikero. Also die antike Aussprache, während der Zizero mittelalterliches Latein ist. Wenn ich mich jetzt nicht irre. Califax könnte uns das sicher genau sagen.
Aber Sie haben völlig Recht: Es kommt nur darauf, daß man artikuliert, nicht wie. Gehörlose artikulieren beim Lesen mit der Gebärdensprache, jedenfalls gibt es das. Übrigens ist das Englische to articulate ja schön doppeltdeutig: Artikulieren, aber auch gliedern.
Zitat von KalliasWer Spanisch sprechen will, sollte den Unterschied zwischen "ser" und "estar" kennen, den es im Deutschen nicht gibt, und den man daher nicht kennen muß, wenn man Spanisch bloß hört oder liest.
Nicht muß, aber doch sollte. Denn im Spanischen kann man dadurch etwas ausdrücken, das man im Deutschen nicht durch die Wahl des Hilfsverbs, sondern auf andere Art ausdrücken würde. "Yo estoy en Francia" vielleicht mit "Ich bin jetzt in Frankreich", "Yo soy en Francia" mit "Ich lebe in Frankreich". Wenn ich mich mit meinen bescheidenen Spanischkenntnissen da nicht auch wieder vertue.
Zitat von KalliasWer Spanisch sprechen will, sollte den Unterschied zwischen "ser" und "estar" kennen, den es im Deutschen nicht gibt, und den man daher nicht kennen muß, wenn man Spanisch bloß hört oder liest.
Nicht muß, aber doch sollte. Denn im Spanischen kann man dadurch etwas ausdrücken, das man im Deutschen nicht durch die Wahl des Hilfsverbs, sondern auf andere Art ausdrücken würde. "Yo estoy en Francia" vielleicht mit "Ich bin jetzt in Frankreich", "Yo soy en Francia" mit "Ich lebe in Frankreich".
Für letzteres würde ich eher vivir nehmen, ser für "leben" halte ich für weniger gebräuchlich.
Und wie dem auch sei: beim alleinigen Lesen fremdsprachlicher Texte braucht man diese Nuance wirklich nicht. Das wird immer aus dem Zusammenhang klar.
-- Ultramontan – dies Wort beschreibt vorzüglich die katholische Mentalität: mit einem kleinen Teil des Bewusstseins nicht Deutscher, nicht Zeitgenosse, nicht Erdenbürger zu sein. - Martin Mosebach, Spiegel 7/2009
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