Zitat von Zettel Mein Verdacht, meine Befürchtung ist, daß jeder ernsthafte Versuch, Anarchie zu realisieren, nachgerade eine Einladung an die Totalitären ist, sich an die Macht zu begeben.
Ich denke man sollte schon unterscheiden zwischen Eigenschaften die sich negativ auf die Erfolgsaussichten im Bürgerkrieg auswirken, und Eigenschaften die "eine Einladung an die Totalitären [sind], sich an die Macht zu begeben". In Wahrheit lief es ja genau anders herum: Die Anarchistische Revolte war eine Reaktion auf den Putsch der Generäle, den sie ohne die Intervention der Achsenmächte warscheinlich besiegt hätte. Jedenfalls haben sich die Anarchisten in Spanien gegenüber dem Totalitarismus wesentlich effektiver zur Wehr gesetzt als die Demokraten in Deutschland oder Österreich.
Zur Frage wie "anarchistisch" die Anarchisten wirklich waren: Schwer zu sagen. Es gab zwar Anführer wie Buenaventura Durruti, aber keine Führerfiguren wie Lenin oder Trotzki. Dort wo sie stark genug waren, übten die Syndikalisten natürlich sehr wohl Herrschaft aus; gegen die Kirche z.B. wurde sehr brutal vorgegangen.
Zitat von EltovDie Anarchistische Revolte war eine Reaktion auf den Putsch der Generäle, den sie ohne die Intervention der Achsenmächte warscheinlich besiegt hätte. Jedenfalls haben sich die Anarchisten in Spanien gegenüber dem Totalitarismus wesentlich effektiver zur Wehr gesetzt als die Demokraten in Deutschland oder Österreich.
Huch? Und die Republikaner? Ich hätte jetzt eher gedacht, dass die Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg eher eine Randerscheinung waren und im großen und ganzen zwischen Republikanern und Falange zerrieben wurden. Ohne die Unterstützung der Achse für Franco hätte meiner Ansicht nach eher die Volksfront gewonnen und auch die Anarchisten "heim ins Reich" geholt. Waren die Anarchisten wirklich stark genug, Franco und die Republikaner zu besiegen?
-- Ultramontan – dies Wort beschreibt vorzüglich die katholische Mentalität: mit einem kleinen Teil des Bewusstseins nicht Deutscher, nicht Zeitgenosse, nicht Erdenbürger zu sein. - Martin Mosebach, Spiegel 7/2009
Ok, ich habe wohl übertrieben: Die Anarchisten waren in der ersten Phase des Bürgerkriegs, als die Republik durch den Putsch paralysiert war, maßgeblich daran beteiligt das großen Städte nicht in die Hand der Putschisten fielen und dass schnell Milizen aufgestellt werden konnten. Ihre Beteiligung war auch dort von großer Bedeutung, wo sie nicht wie in Barcelona in der Lage waren, die Kontrolle vollständig zu übernehmen. Das mag in der Rückschau vielleicht als Fußnote des Bürgerkriegs betrachtet werden, allerdings hätte es ohne die Anarchisten warscheinlich kaum die Möglichkeit gegeben, eine effektivere Gegenwehr zu organisieren.
Zitat von EltovDie Niederlage der Spanischen Anarchisten lässt sich schwer als Argument gegen die Anarchie an sich verwenden. Die Kommunisten waren ihnen nicht aus den von dir angedeuteten Gründen überlegen, sondern aufgrund besserer Waffen, ausländischer Unterstützung, effektiven Kommandostrukturen und politischer Beweglichkeit.
Ja eben, lieber Eltov. Was du aufzählst, konkretisiert das (zum Teil), was ich mit der Metapher des Vakuums sagen wollte.
hier nun mein reisebedingt etwas verspäteter Bericht. Die schlechte Nachricht zuerst: Foristen sind keine zur Veranstaltung gekommen, zumindest haben sich keine zu erkennen gegeben.
Wie erwartet, verhielt sich das Publikum sehr friedlich und diskutierte freundlich mit uns und untereinander. Man möchte meinen, die Krawalldebattierer seien alle ins Internet abgewandert, wo man sie ja in sehr großer Zahl antrifft, aber der ruhige Tonfall ist bei Anarchistens immer schon üblich gewesen.
(In der großen anarchistischen Bewegung im Spanien der 1920er und 30er Jahre zum Beispiel, deren prominente Redner die örtlichen Stierkampfarenen füllten, gab es die Sitte, nicht zu klatschen. Die Zuhörer sollten die Reden ruhig anhören und dann im kleinen Kreis besprechen, was sie davon halten sollten. Schließlich waren sie ja die politisch Handelnden und nicht die Redner, im Unterschied zur Demokratie, wo wir, das souveräne Volk, den Beifall spenden und dann die Westerwelles e tutti quanti die großen Taten für uns vollbringen.)
Die Referate des Abends werden großenteils demnächst im Internet stehen, den Link werde ich dann nachreichen. Es wurden durchweg orthodox-antiparlamentarische Ansichten referiert, wie sie hierzulande bei den Anarchisten üblich sind. Die Vortragsserie gipfelte in dem Aufruf, ungültig zu wählen, die Wahlbenachrichtigungen bei einer Antiwahlinitiative abzugeben und an einer Antiwahldemo teilzunehmen.
Ungültig zu wählen ist traditionell die bevorzugte Option der Anarchisten. Es gab in dieser Hinsicht Erfolge zu vermelden: bei der vorletzten Bundestagswahl wählten 750000 ungültig, bei der letzten bereits 850000!
Das Publikum war weniger kompromisslos antiparlamentarisch. Manche fanden die Kandidatur von Einzelkandidaten, von denen es immer mehr gibt, eine feine Sache, und eine junge Frau verstieg sich sogar zu der These, man könne ja an einem Tag alle vier Jahre wählen gehen, und in der Zeit zwischen den Wahlterminen ein selbstbestimmtes Leben versuchen, das sei doch gar kein Widerspruch. Ach, wie kann man nur so rational sein? In der Tat hat der prinzipielle Wahlboykott keinen praktischen Sinn, sondern einen symbolischen: er bedeutet den Bruch mit dem System, die persönliche Kriegserklärung an das demokratische Regime.
Da eine meiner Lieblingsfragen in sämtlichen Lebenslagen lautet: "Wie kann ich mich drücken?" habe ich vorige Woche diesen Thread eröffnet, um mich daran zu hindern, mit meiner proparlamentarischen Meinung hinter dem Berg zu halten. Als die Veranstaltung losging, habe ich dann doch kurzfristig beschlossen, zu kneifen, mit dem Hintergedanken, daß der Abend so müheloser vorbeigehen würde. Als jemand jedoch fragte, ob es nicht auch Vorteile des Parlamentarismus gäbe, und ja auch der Anarchist Noam Chomsky häufig zum Wählen aufrufe, blieb leider nichts anderes übrig, als in die Bütt zu steigen und mich als Freund des Parlamentarismus zu outen.
Das habe ich dann gemacht und erntete den Protest eines Gastes, der auf eine Veranstaltung gehofft hatte, wo endlich mal nicht von irgendwelchen Vorteilen des parlamentarischen Systems die Rede ist. Damit war mir der Abend gerettet. (Seit langem freut es mich, wenn sich Leute über meine Ausführungen ärgern. Wie es sich wohl anfühlt, sich über Beifall zu freuen?)
Im Nachhinein fühle ich mich nicht wohl bei dieser Geschichte. Man sollte vielleicht besser nicht Moderator und Referent bei einer Veranstaltung sein, die man sonst nicht besucht hätte. Ich habe große Sympathie für alle freiheitlichen Bestrebungen, ob es sich um Linksanarchismus, Liberalismus oder Libertarismus handelt. Der Antiparlamentarismus hat mir jedoch selbst in meinen linkesten Anarcho-Zeiten niemals eingeleuchtet, ich habe das seinerzeit immer als sektiererische Folklore abgetan und unverdrossen die Grünen gewählt.
Ich hatte schon gefürchtet, die Veranstaltung wäre in Anarchie versunken und der Moderator hätte in den Untergrund flüchten müssen.
Gibt es eigentlich bei heutigen Anarchisten konkrete Vorstellungen davon, wie eine nichtparlamentarische Demokratie funktionieren könnte? Wie die Freiheit ohne Checks and Balances erhalten bleiben kann?
Und was ist an anarchistischen Positionen eigentlich links? Oder sehen sich Anarchisten gar nicht als Teil der Linken?
Fragen über Fragen ...
Herzlich, Zettel
(auch urlaubend und deshalb nur sporadisch online)
Zitat von EltovDie Niederlage der Spanischen Anarchisten lässt sich schwer als Argument gegen die Anarchie an sich verwenden. Die Kommunisten waren ihnen nicht aus den von dir angedeuteten Gründen überlegen, sondern aufgrund besserer Waffen, ausländischer Unterstützung, effektiven Kommandostrukturen und politischer Beweglichkeit. Hinzu kam noch der Krieg gegen Franco.
Politische Beweglichkeit? Die Kommunisten hingen vollständig von den Direktiven aus Moskau ab, unbeweglicher geht es gar nicht. Und die Anarchisten waren durchaus in der Lage, über ihren Schatten zu springen und sich an der Regierung zu beteiligen, wenn auch mit der Folge eines bitteren inneren Zerwürfnisses.
Effektive Kommandostrukturen? Ohne Kompetenz in Militärfragen heucheln zu wollen, möchte ich das in Frage stellen. Bei der Bundeswehr priesen unsere Ausbilder das "Auftragsprinzip", das den Einheiten nur Ziele vorgibt, und ihnen große Selbständigkeit bei der Ausführung gibt, ganz im Gegenteil zum "Befehlsprinzip", wo möglichst viel möglichst weit oben geplant und vorgeschrieben wird. Mir kam das durchaus plausibel vor, da es größere Flexibilität ermöglicht, was im Krieg, wo stets ein Feind in die schönen Operationspläne eingreift, sicher nützlich ist. Einen Schritt weiter - die Wahl der Einsatzführer durch die Einheit selbst - und man hat eine anarchistische Kommandostruktur, die sogar die größtmögliche Gewähr gibt, daß man nicht von unfähigen Leuten geführt wird. Daher bin ich mir nicht sicher, ob anarchistische Freiwilligenmilizen so ineffektiv sind.
Man kann höchstens sagen, daß Anarchisten nur auf einige wenige Formen der Kriegsführung zurückgreifen können, wie Miliz oder Guerrilla. Wenn die gerade mal gut sind, werden die Anarchisten mit Erfolgsaussicht Krieg führen, sonst nicht. Der Staat hat ein größeres Repertoire und kann daher in mehr Situationen bestehen. (Das ist jetzt natürlich alles ein bißchen spekulativ dahergesagt.)
Im spanischen Bürgerkrieg sah es meines Wissens so aus, daß nach einigen Wochen ein Stellungskrieg entstanden ist, wobei die verschiedenen Frontabschnitte von je einer der idelogischen Parteien, sei es der republikanischen Armee, der Sozialisten, unabhängigen Marxisten, Stalin-Kommunisten oder Anarchisten besetzt wurde. An allen Fronten ging es langsam rückwärts, die Kommandostrukturen der Kommunisten haben da auch kein anderes Bild ergeben als bei den Fronten, die von Anarchisten oder anderen Parteien gehalten wurden. Einen Unterschied gab es in der Hinsicht, daß Kommunisten auch im republikanischen Hinterland militärisch gegen Konkurrenten, insbesondere die Anarchisten, vorgegangen sind. Dergleichen hat meines Wissens keine der anderen Parteien gemacht.
Zitat von GorgasalIch hätte jetzt eher gedacht, dass die Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg eher eine Randerscheinung waren und im großen und ganzen zwischen Republikanern und Falange zerrieben wurden. Ohne die Unterstützung der Achse für Franco hätte meiner Ansicht nach eher die Volksfront gewonnen und auch die Anarchisten "heim ins Reich" geholt. Waren die Anarchisten wirklich stark genug, Franco und die Republikaner zu besiegen?
Das ist eine spekulative Frage, die anarchistische Gewerkschaftsbewegung war die stärkste Kraft in der spanischen Arbeiterbewegung, wobei die sozialistische Gewerkschaft aber nicht so sehr viel schwächer gewesen ist. Die Sozialisten dominierten in den Industriegebieten des Nordens, die Anarchisten in der katalanischen Industrie und bei den Landarbeitern Andalusiens. Franco eroberte Andalusien in den ersten Kriegswochen, so daß diese Kraft auf seiten der Anarchie ausfiel. Ich glaube, die Anarchisten hätten nicht alle anderen Kräfte besiegen können, selbst wenn man den ausländischen Einfluß abzieht.
Hätte die Republik den Krieg gewonnen, wäre vielleicht die Koalitionsregierung fortgesetzt wurden, an der seit Nov. 1936 auch Anarchisten beteiligt waren (Justiz- und Gesundheitsministerium). Viele der sozialen Ideen, die die Anarchisten umsetzten, wie etwa die kostenlose Krankenbehandlung, wurden damals auch von wohlfahrtsstaatlich orientierten Sozialisten befürwortet, da hätte man schon Kompromisse finden können. Aragón wäre vielleicht eine anarchistische Sonderwirtschaftszone geworden. Die freiwillige Kollektivierung der Landwirtschaft war populär: zum Beispiel war am Ende des Krieges etwa die Hälfte des Bodens in Kastilien, wo der Anarchismus keine Rolle spielte, kollektiviert, in Aragón unter dem Einfluß der Anarchisten etwa dreiviertel des Bodens. Vielleicht wäre die Geschichte so ähnlich weitergegangen wie in der israelischen Kibbuzbewegung, wo der kollektivistische Geist nach und nach verschwunden ist. Die Industrie wäre wohl in die Fänge der Regierungs-Planwirtschaft geraten, vielleicht so ähnlich wie in Jugoslawien mit einer mehr oder weniger illusorischen Arbeiterselbstverwaltung.
ich muss zugeben, dass ich mir Anarchisten ganz anders vorgestellt habe. Meine ehemaligen (mittlerweile auch reifer gewordenen) Anarcho-Freunde waren bunt, laut und subversiv. Meine Vorstellung von dieser Veranstaltung war die, dass da abgerissene, bunte Horden auf den Feingeist Kallias einreden, und er ihrer Herr zu werden versucht.
Nun habe ich gelernt, dass Anarchisten eher den ruhigen Tonfall pflegen und es eine ernstzunehmende anarchistische Bewegung in Spanien gab. Wusste ich bisher nicht ... vielen Dank für den Wissensinput an sie und alle Mitforisten.
Beste Grüße, Calimero
---------------------------------------------------- ... und im übrigen sollte sich jeder, der sich um die Zukunft Sorgen macht, mal zehn-, bis zwanzig Jahre alte Sci-Fi-Filme ansehen.
Zitat von ZettelMir fällt der Konditionalis auf, lieber Kallias. Hat es denn noch keine real existierende Anarchie gegeben?
Anarchokapitalisten führen gerne das mittelalterliche Island, Pennsylvanien in den ersten Jahrzehnten, wowie den "Wilden Westen" als Beispiele an, Linksanarchisten nehmen Zuflucht zur Völkerkunde und preisen z.B. den Irokesenbund, die Potlach-Stämme an der Westküste Nordamerikas und verschiedene afrikanische Gesellschaften, v.a. die !Kung-San im heutigen Namibia als anarchisch aufgebaute Gesellschaften an (wobei die Existenz so mancher Hierarchie wie etwa die Vorherrschaft der Alten über die Jungen kritisch angemerkt wird).
Die absichtlichen anarchistischen Versuche wurden nicht als Verwirklichung der Anarchie angesehen, sondern als ihr Anfang. Schon per Definition kann man sich die Anarchie nicht als Realisierung eines Entwurfs vom Reißbrett anarchistischer Denker vorstellen, sondern als etwas, das von den Menschen selbst gemacht und gestaltet wird. ("Wer den Menschen die Freiheit bringen will, und das heißt, die eigenen Vorstellung von der Freiheit, ist ein Despot und kein Anarchist" schrieb Gustav Landauer.) Außerdem würde es nach Meinung vieler Anarchisten längere Zeit dauern, bis die Menschen aus der "autoritären Hypnose" erwacht sind.
Ich habe mir die Herrschaftslosigkeit immer als ein orientierendes Ideal gedacht, nicht als realisierbares Projekt, so daß der Konditionalis stets angemessen bleiben wird.
Zitat von ZettelIch kenne mich da nicht aus, meine mich aber zu erinnern, daß es in Spanien vor und während dem Bügerkrieg eine ziemlich starke anarchistische Bewegung gab. Hat man es irgendwo - vielleicht in Cäsars Dorf in den Pyrenäen? - geschafft, anarchische Verhältnisse herzustellen?
Es hat in der Geschichte des 20. Jh. drei größere anarchistische Versuche gegeben, von 1918-1921 in der Südukraine, 1929/30 in der Mandschurei, und 1936-39 in Katalonien und Aragonien. In allen drei Fällen wurden mehrere Millionen Menschen von der Staatsautorität befreit, sie mussten aber während der ganzen Zeit ihres Bestehens Krieg führen.
Starke anarchistische Bewegungen gab es auch in Frankreich, Italien und Lateinamerika, v.a. in Argentinien. Dort soll auf dem Höhepunkt Anfang des 20. Jh. ein Zehntel der Bevölkerung organisierte Anarchisten gewesen sein. Nur kamen die Anarchisten in diesen Ländern niemals gegen die Staatsmacht an.
Zitat von ZettelMein Verdacht, meine Befürchtung ist, daß jeder ernsthafte Versuch, Anarchie zu realisieren, nachgerade eine Einladung an die Totalitären ist, sich an die Macht zu begeben.
Das glaube ich kaum. Im Gegenteil kann man sagen, daß die Existenz leistungsfähiger zentralisierter Regierungs- und Verwaltungsstrukturen eine Einladung an die Totalitären ist, von ihnen noch umfassenderen Gebrauch zu machen. In anarchischen Verhältnissen müssten solche Strukturen ja erst aufgebaut werden; wie schwierig so etwas ist, kann man an der mühseligen Entstehungsphase des Absolutismus in Frankreich oder an seinem Scheitern in England sehen.
Zitat von CalimeroMeine ehemaligen (mittlerweile auch reifer gewordenen) Anarcho-Freunde waren bunt, laut und subversiv. Meine Vorstellung von dieser Veranstaltung war die, dass da abgerissene, bunte Horden auf den Feingeist Kallias einreden, und er ihrer Herr zu werden versucht.
Nein, ich musste mir nur die Reihenfolge merken, in der sich die Diskutanten zu Wort meldeten. Nach meiner Beobachtung ging die Zeit der bunten und lauten Szene etwa Mitte der 90er Jahre zu Ende. Ich habe gerade noch die letzten Ausläufer davon mitbekommen. In den Jahren davor gab es extreme Auseinandersetzungen um irgendwelche Minivorfälle, die als "Sexismus in den eigenen Reihen" ebenso hart wie ausufernd durchgefochten wurden. Seitdem herrscht, wenn schon sonst nichts, Ruhe.
Zitat von GorgasalMich hätte noch interessiert, wie anarchistisch die Anarchisten von Barcelona tatsächlich waren, da kenne ich mich viel zu wenig aus.
Vielleicht kennen Sie sich besser aus als ich, deshalb nur kurz über einen Vorgang, der mich besonders beeindruckt hat: als die Arbeiter im Juli 1936 die katalanischen Industriebetriebe besetzten, hatten sie keine besondere Mühe mit der Idee der Selbstverwaltung. Sie organisierten die Produktion, kauften Material ein, verkauften ihre Erzeugnisse, modernisierten die Anlagen, schlossen Verträge, ohne sich um die planwirtschaftlichen Vorstellungen der anarchistischen Gewerkschafter zu bekümmern. Diese schlugen auch bald die Hände ob dieses "Kapitalismus" der Arbeiter über dem Kopf zusammen. Gegen sie vorzugehen, war aber tabu. Man beschränkte sich auf Belehrungen, und in dieser Hinsicht erwiesen sie sich in der Tat als ebenso echte Anarchisten wie die Arbeiter als echte Marktwirtschaftler.
Es wird gesagt, daß die vorigen Fabrikherren, als sie im Frühjahr 1939 zurückkamen, die Modernisierungen der Selbstverwaltungszeit wieder rückgängig machten. (Die ganze Geschichte ist reichlich mit Mythen übersät, daher ist alles was so gesagt wird, mit Vorsicht zu genießen, unplausibel finde ich diese spezielle Anekdote aber nicht - d.h. sie passt mir wirklich ausgezeichnet in den Kram. )
Zitat von ZettelMir fällt der Konditionalis auf, lieber Kallias. Hat es denn noch keine real existierende Anarchie gegeben?
Anarchokapitalisten führen gerne das mittelalterliche Island, Pennsylvanien in den ersten Jahrzehnten, sowie den "Wilden Westen" als Beispiele an, Linksanarchisten nehmen Zuflucht zur Völkerkunde und preisen z.B. den Irokesenbund, die Potlach-Stämme an der Westküste Nordamerikas und verschiedene afrikanische Gesellschaften, v.a. die !Kung-San im heutigen Namibia als anarchisch aufgebaute Gesellschaften an (wobei die Existenz so mancher Hierarchie wie etwa die Vorherrschaft der Alten über die Jungen kritisch angemerkt wird).
Hm, das kenne ich alles nur sehr wenig; aber soweit ich es kenne, scheint mir nichts davon als Vorbild zu taugen.
Der Wilde Westen kannte in der Tat keine Obrigkeit. Also galt das Gesetz der Prärie. Der Potlatsch ist, wenn ich mich recht erinnere, ein kurioses Fest, bei dem sich alle darin überbieten, das zu opfern, was ihnen das Liebste ist: Rin in die Flamme!
Ich sehe es, lieber Kallias, als eine spannende Frage, wie weit eine Gesellschaft heterarchisch (das scheint mir das richtige Wort zu sein) organisiert sein kann, bevor sie in Tyrannei umschlägt.
Zitat von KalliasSchon per Definition kann man sich die Anarchie nicht als Realisierung eines Entwurfs vom Reißbrett anarchistischer Denker vorstellen, sondern als etwas, das von den Menschen selbst gemacht und gestaltet wird. ("Wer den Menschen die Freiheit bringen will, und das heißt, die eigenen Vorstellung von der Freiheit, ist ein Despot und kein Anarchist" schrieb Gustav Landauer.) Außerdem würde es nach Meinung vieler Anarchisten längere Zeit dauern, bis die Menschen aus der "autoritären Hypnose" erwacht sind.
Dutschke hat es mal ähnlich gesagt: Wie kann ein Dutschke den Menschen vorschreiben, welche Gesellschaft sie wollen? So ungefähr.
Nur wollen sie ja nicht die anarchistische Freiheit, die Menschen. Sie wollen anständig leben, ihr Auskommen haben und vom Staat möglichst in Ruhe gelassen werden. Aber sie wollen auch Schutz vor dem Verbrechen haben, sie wollen eine ordentliche Infrastruktur haben und Schutz vor äußeren Feinden.
Sie sind eminent vernünftig, die Menschen. Cultiver son jardin, damit endet der Candide. Das Schlimmste, was den Menschen widerfahren kann, sind Weltverbesserer.
Kann man denn die Welt nicht so lassen, wie sie ist? Sie ist doch gut, im aufgeklärten Kapitalismus, im demokratischen Rechtsstaat.
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