Nach den Wahlen war ich der Meinung, daß die FDP gute Chancen hätte, eine dritte, wenn auch etwas kleinere Volkspartei zu werden. Gut ein Vierteljahr nach diesen Wahlen ist davon nichts geblieben.
Finde ich auch erstaunlich. Allerdings erklaert sich vieles mE durch die mangelnde Fuehrungsstaerke (leadership) der beiden Partei- und Regierungschefs, Merkel und Westerwelle.
Westerwelle hat, als es um Koalitions- und Regierungsbildung ging, wenig Phantasie und Kreativitaet bewiesen. Steuersenkungen als zentrales Thema in der Politik, und eine biedere, altbackene FDP-Mannschaft in der Regierung, vllt mit Ausnahme Roeslers. Ich denke der Buerger spuert unbewusst dass in der momentanen Situation Steuersenkungen nur auf Pump moeglich sind, wenn nicht zugleich die Staatsausgaben gesenkt werden, was nicht passiert ist. Und das erzeugt ein unbehagliches Gefuehl, und laesst die FDP als sture Prinzipienreiter erscheinen. Und wer ein Ministerium ausgerechnet mit dem Politiker besetzt der zuvor am lautesten die Abschaffung eben dieses Ministeriums verlangt hatte, der erzeugt bei den Waehlern kaum Sympathie und muss ich ueber sinkende Umfragewerte nicht wundern.
Westerwelle tut sich mit dem Doppeljob Aussenminister-Parteichef keinen Gefallen; man merkt bereits dass ihn das ueberfordert. Leutheusser und Bruederle sind has-beens aus einer anderen Epoche, die offenbar irgendwie noch mal versorgt werden mussten - oder die Personaldecke der FDP ist halt so duenn. Zu Niebel braucht man nix weiter sagen, ausser vllt dass seine Biographie jedem SPD-Kreisfunktionaer zur Ehre gereichen wuerde. Roesler ist die Hoffnung der FDP, aber auch er hat sich bislang nicht profiliert. Da war schon Ulla Schmidt mehr praesent...
Zwei spannende Einzelaspekte sehe ich an dieser neuen Regierung:
--> sie agieren wirtschaftspolitisch antizyklisch - und schaffen es vor allem nicht, dies zu erklären. Mir fallen auf Anhieb drei wichtige Argumente für ein Konjunkturpaket mit Steuersenkungen ein:
1. die Laffer-Kurve: der Staat nimmt mit einem Spitzesteuersatz von 36% genausoviel ein, wie mit 63%... 2. jahrzehntelang vertrat die SPD einen antizyklischen Wirtschaftskurs. Heute scheinen Union und FPD Keynes adaptiert zu haben - aber wie auch immer: man könnte der SPD hier sehr schön alle ihre früheren Argumente vorhalten... 3. eine liberale und marktwirtschaftliche Grundüberzeugung lautet ja wohl, daß der Staat nicht so viel Steuern erheben darf, wie er braucht, sondern nur so viel, wie die Bürger leisten können. Was ist aus diesem Credo geworden? Läßt sich dies nicht überzeugend in der Öffentlichkeit vertreten?
--> außenpolitisch agiert Westerwelle wie ein Azubi. Klar, er macht nicht viel falsch...wie ein Lehrling, der sich lieber zurückhält. Dann aber fordert er ohne Not, daß die AFG-Konferenz keine Truppenstellerkonferenz werden dürfe. Wo sind eigentlich die Konzepte und Strategien aus dem Auswärtigen Amt? Mehr Polizeiausbildung? Das ist für die internationalen Partner schlichtweg ein Brüller. Hier war Deutschland federführend verantwortlich und hat es einfach komplett vergeigt. Mangel an zielführenden Mitteln paarte sich mit Inkompetenz und Angst vor dem eigenen Schatten, sodaß die Polizeiausbildung schlißelich wieder in die Hände der europäischen Partner zurückgegeben werden mußte...
Ich bin nicht nur enttäuscht von dieser Regierung, im Falle des Handels mit dem Iran und der nur in Sonntagsreden vorhandenen Solidarität mit Israel schäme ich mich sogar für mein Land.
Zitat von ZettelDiese Regierung ist gerade einmal neun Wochen im Amt. Ist es nicht ungerecht, sie jetzt schon zu kritisieren?
Ja, für eine Kritik an ihrer Arbeit wäre es noch viel zu früh.
Ich erlaube mir den Hinweis, dass Sie bei Obama schon deutlich früher munterkritisiert haben...
-- La sabiduría se reduce a no olvidar jamás, ni la nada que es el hombre, ni la belleza que nace a veces en sus manos. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
Die Parteien erscheinen mir von Legislaturperiode zu Legislaturperiode immer mehr als Getriebe der Ereignisse und immer weniger als Institutionen, die den Ereignisse vorangehen.
Der Haushalt fliegt uns buchstäblich um die Ohren, aber die FDP spricht von Steuersenkungen, die über völlig hypothetische Einnahmen in der Zukunft finanziert werden sollen. Wahrscheinlich weiß keine Wählerschaft besser, als jene der Liberalen, daß das völliger Schwachsinn ist, solange man diese Steuersenkungen nicht durch Einschnitte gegenfinanziert. Mir scheint es so, als würde sich die FDP nicht trauen genau das zu tun, wozu "wir" sie gewählt haben: Veränderungen, und zwar in eine ganz bestimmte Richtung!
Der Bund reißt eine Kompetenz nach der nächsten an sich, frißt sich wie Krebs immer tiefer in die Gesellschaft, was man übrigens auch wunderbar an den aufgeblasenen Haushalten sehen kann, und die FDP verteilt fleißig mit und zwar aus beiden Händen.
Um es auf deutsch zu sagen: Diese Koalition ist zum kotzen und jeder weiß es. Die Hälfte der Minister hat bereits einen riesen Bock geschossen und ihre Flügel gestutzt bekommen. Rösler mit der Schweinegrippe, Schnarrenberger mit dem SWIFT Agreement, Gutenberg mit der Luftschlag-Affaire, Rötgen mit Climategate und dem Desaster(*) von Kopenhagen, und Leyen hat sowieso fertig spätestens seit sie das Amt gewechselt hat. Keiner der Minister hat nach diesen Punkten noch einen Stand in der Gesellschaft, um irgendetwas zu erreichen.
Und vergessen wollen wir natürlich nich die Merke, auch wenn ihre Präsenz kaum zu erkennen ist.
Sie zeigt null Führungskompetenz. Die einzige Entscheidung, die sie bisher getroffen hat, war eine unwillige vdL ins Amt des Familienministeriums zu heben, welche sie in schnellster Zeit und egal wohin verlassen wollte.
Die Koalition hält sich im hickhack auf und die FDP verkauft all ihre Programmpunkte für gute Stimmung in der Koalition. Merkel macht den Kohl, aber das wird nur noch 3,x Jahre gehen, dann bekommen wir eine tiefrote Regierung.
[edit] Ich suche noch eine Wahlempfehlung für die NRW-Landtagswahl. ;(
Zitat von HajoDie Parteien erscheinen mir von Legislaturperiode zu Legislaturperiode immer mehr als Getriebe der Ereignisse und immer weniger als Institutionen, die den Ereignisse vorangehen
Das ist auch mein Eindruck. Ich bin zwar nur Leichtmatrose auf dem Schiff Deutschland; dennoch gefällt mir die Devise: „Unsere Reise geht, wohin der Wind uns weht“ ganz und gar nicht. Eine grobe Richtungsangabe würde mir sicher guttun.
Zitat von HajoMir scheint es so, als würde sich die FDP nicht trauen genau das zu tun, wozu "wir" sie gewählt haben.
Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass?
Ich dachte bisher, es gäbe eine glasklare Koalitionsvereinbahrung; deshalb verstehe ich das herumgeeiere nicht so ganz (Das gilt auch für die CDU/CSU).
Ich habe es von Anfang an für einen Fehler gehalten, dass Westerwelle aus Gründen des Prestiges oder der persönlichen Eitelkeit unbedingt ins Auswärtige Amt wollte, für das er wenig qualifiziert ist. Er hätte das Finanzministerium beanspruchen sollen, das wäre angesichts des Wahlkampfthemas Steuern konsequent und glaubwürdig gewesen. Zur Not wäre er dort sogar noch aus der Steuersenkungsfalle rausgekommen.
Zitat von ZettelDiese Regierung ist gerade einmal neun Wochen im Amt. Ist es nicht ungerecht, sie jetzt schon zu kritisieren? Ja, für eine Kritik an ihrer Arbeit wäre es noch viel zu früh.
Ich erlaube mir den Hinweis, dass Sie bei Obama schon deutlich früher munterkritisiert haben...
Zitat von HerrIch habe es von Anfang an für einen Fehler gehalten, dass Westerwelle aus Gründen des Prestiges oder der persönlichen Eitelkeit unbedingt ins Auswärtige Amt wollte, für das er wenig qualifiziert ist. Er hätte das Finanzministerium beanspruchen sollen, das wäre angesichts des Wahlkampfthemas Steuern konsequent und glaubwürdig gewesen. Zur Not wäre er dort sogar noch aus der Steuersenkungsfalle rausgekommen.
Das war, lieber Herr, immer auch meine Meinung.
Das Problem ist wohl, daß der Außenminister protokollarisch die Nummer zwei nach dem Kanzler ist und das Amt deswegen seit der ersten Großen Koalition (damals war es Willy Brandt) immer dem Koalitionspartner zustand.
Die Brisanz bei Westerwelle liegt meines Erachtens darin, daß er zugleich die Partei vollkommen auf sich zugeschnitten hat. Um die Partei zu führen, müßte er eigentlich ständig in Berlin sein. Als Außenminister - noch dazu einer, der sich erst mal in das Amt einarbeiten muß - kann er das nicht; er hat gar nicht die Zeit dazu, abgesehen davon, daß ein Außenminister heute ständig auf Reisen ist.
An der Spitze der FDP ist dadurch ein Vakuum entstanden. Westerwelle versucht seine mangelnde Präsenz als Vorsitzender durch ein - der "Spiegel" berichtet es heute - herrisches Basta-Verhalten zu kompensieren.
Zitat von NumpyIch suche noch eine Wahlempfehlung für die NRW-Landtagswahl. ;(
Im Grunde ist die Situation identisch mit der Bundestagswahl. Man kann pragmatisch wählen und landet, trotz allem, bei der FDP als kleinstem aller wählbaren Übel mit realistischen Chancen.
Man kann seinem Herzen folgen und diesem ganzen mehr oder weniger sozialdemokratischen Einheitsmischmasch, der mal konservative, mal liberale und mal ökologische, manchmal auch ureigen-sozialdemokratische Rhetorik und Symbolik verwendet, seine Unterstützung versagen. Wirklich schade, daß es keine ernsthaft konservativ-liberale, von mir aus auch gerne nationalliberale Partei gibt, der man seine Stimme wirklich mit vollem Bewußtsein geben möchte... Im moment würde ich das wahrscheinlich sofort machen. Folgt man jedoch seinem Herzen, führt es ggf. auch nur dazu, daß am Ende die Umverteiler und Wohlmeinender noch mehr Einfluß gewinnen.
Es ist ein schlimmes Dilemma, das einem da als Wähler zugemutet wird.
Erinnert sich noch wer an den Start von Rot-Gruen? Die SPD und die Gruenen hatten sich jahrzehntelang in dr Opposition aufs gemeinsame Regieren vorbereitet und was kam dann: Im ersten Jahr der Amtszeit wurde gleich mal Krieg gefuehrt (Kosovo), 'Nachbessern' war der Begriff des Jahres, Lafontaine schmiss hin. Die Situation also durchaus nicht unaehnlich:
- Unterschiedliche persoenliche Vorstellungen - Umschalten Opposition - Regierung. D.h. Programmpartei - Kanzlerpartei, wenn man es etwas zuspitzen will. - Verprellen von Stammwaehlern durch neue Positionen, der Einbindung D. in Europa (Kosovo) geschuldet - Handwerkliche Fehler
Mir scheint das alles nicht so neu. - Es ist aber wohl nicht von der Hand zu weisen, dass die Koalitionsvereinbarung intellektuell besser vorbereitet werden sollte. Rot-Gruen hatte einen geistigen Uberbau: Die neue Mitte. (Was immer das war, spielt keine Rolle. Die Koalitionaere hatten eine corporate identity) Die Tigerente hat diesen nicht gefunden.
Zitat von DagnyErinnert sich noch wer an den Start von Rot-Gruen? Die SPD und die Gruenen hatten sich jahrzehntelang in dr Opposition aufs gemeinsame Regieren vorbereitet und was kam dann: Im ersten Jahr der Amtszeit wurde gleich mal Krieg gefuehrt (Kosovo), 'Nachbessern' war der Begriff des Jahres, Lafontaine schmiss hin. Die Situation also durchaus nicht unaehnlich: - Unterschiedliche persoenliche Vorstellungen - Umschalten Opposition - Regierung. D.h. Programmpartei - Kanzlerpartei, wenn man es etwas zuspitzen will. - Verprellen von Stammwaehlern durch neue Positionen, der Einbindung D. in Europa (Kosovo) geschuldet - Handwerkliche Fehler Mir scheint das alles nicht so neu.
Gut, daß Sie daran erinnern, liebe Dagny. Man vergißt solche Dinge ja leicht.
Allerdings sehe ich einen wesentlichen Unterschied:
Damals dominierte die Inkompetenz. (Ich erinnere mich an einen damaligen Bericht des "Nouvel Observerateur" darüber, wie schlecht vorbereitet die deutsche Delegation in die ersten deutsch-französischen Konsultationen nach dem Regierungswechsel gegangen war).
Heute ist durchaus Kompetenz da. Was fehlt, das ist die Entschlossenheit, gemeinsam etwas zu bewegen. Man merkt ja fast nicht, daß es einen Regierungswechsel gegeben hat; außer daß sich das Feld der Querelen auf die Finanzpolitik verlagert hat.
Vor allem der FDP ist es bisher überhaupt nicht gelungen, ein Profil zu entwickeln. Westerwelle ist durch sein Amt absorbiert, Rösler ist noch im Stadium des Praktikanten, und die andern wirken müde und verbraucht. Wenn der von mir hochgeschätzte Jörg-Uwe Hahn sinngemäß gesagt hat, er hoffe, man könne Hermann Otto Solms "noch einmal motivieren", dann hätte er das für die gesamte FDP auf Bundesebene sagen können.
Dem stimme ich zu. Anders als Zettel sehe ich hier die Schuld aber hauptsächlich bei der Union. Alle "Errungenschaften" der großen Koalition und sonstigen SPD-Positionen sind für die Union "unverhandelbar" (für mich das Unwort des Jahres 2009), während der frisch unterschriebene Koalitionsvertrag nichts gilt (Seehofer: keine Gesundheitsprämie, Schäuble: 1000 Interviews gegen die Steuerreform,...).
Dem stimme ich zu. Anders als Zettel sehe ich hier die Schuld aber hauptsächlich bei der Union. Alle "Errungenschaften" der großen Koalition und sonstigen SPD-Positionen sind für die Union "unverhandelbar" (für mich das Unwort des Jahres 2009), während der frisch unterschriebene Koalitionsvertrag nichts gilt (Seehofer: keine Gesundheitsprämie, Schäuble: 1000 Interviews gegen die Steuerreform,...).
Ich sehe das gar nicht anders, lieber Robert. Nur habe ich mich in dem Artikel mit der FDP befaßt.
Ein Artikel zur Union - vielleicht schreibe ich ja demnächst einen - wäre noch kritischer ausgefallen.
Auch sie hat die Chance eines Neuanfangs überhaupt nicht be- und nicht ergriffen.
Regelungen, die ihr von der SPD abgetrotzt worden waren (zB der Gesundheitsfonds) macht sie sich jetzt zu eigen; obwohl bekanntlich die Union für die "Kopfprämie" gewesen war, wie sie jetzt Rösler wieder ins Spiel bringt. Den "Ausstieg aus der Atomenergie" hat die SPD ebenfalls der Union aufgezwungen (dh seine Beibehaltung). Was hindert eigentlich die Union daran, sich jetzt von diesem Müll zu trennen und zusammen mit der FDP nicht nur mit dem Ausstieg Schluß zu machen, sondern auch den Bau neuer KKWs ins Auge zu fassen?
Es hindert sie eines, lieber Robert: Die Macht der Medien. Seit den neunziger Jahren leben wir in einer von Linken und Ökos kontrollierten Medienlandschaft; weit über die Linkspresse und die ÖRs hinaus. Sehen Sie sich zum Beispiel das Feuilleton der FAZ an oder die einst liberale "Zeit".
Gegen diese geballte Medienmacht läßt es sich nicht regieren; das weiß die Kanzlerin.
Ist das so einfach? Medien werden geschrieben, gedruckt, gekauft, gelesen und vom Leser fuer gut befunden. All das zusammen ist 'die Macht der Medien'. Vox populi waere ein anderes Wort: Redakteure, Leser und Zustimmung der Leser zu dem, was die Redakteure schreiben. Manchmal funktioniert dieses Zusammenspiel, manchmal nicht.
Zitat von Zettel Es hindert sie eines, lieber Robert: Die Macht der Medien. Seit den neunziger Jahren leben wir in einer von Linken und Ökos kontrollierten Medienlandschaft; weit über die Linkspresse und die ÖRs hinaus. Sehen Sie sich zum Beispiel das Feuilleton der FAZ an oder die einst liberale "Zeit". Gegen diese geballte Medienmacht läßt es sich nicht regieren; das weiß die Kanzlerin.
Obwohl ich ihre Sätze nachvollziehbar finde, lieber Zettel ... wozu brauchen wir dann eigentlich noch eine Regierung? Sind Wahlen nicht überflüssig, wenn sich die Regierung eh der Medienmacht beugt? Ist Politikverdrossenheit nicht die logische Folge davon?
Eine starke Bundeskanzlerin würde regieren, und das Volk mitziehen/überzeugen können ... die Medien könnten ihr Handeln ja nicht verschweigen. Bei guter Politik würden dann eher die Medien abgewählt (was ja schon im Gange ist).
Ich hab mir schwarz-gelb auch anders vorgestellt (irgendwie ruckiger, nach Roman Herzog), aber so blockiert die Union, während die FDP zu kleinlaut daherkommt ... und Frau Merkel sitzt aus.
Bei der nächsten Wahl wird es die Volksfront geben, zur Freude der Medien.
Herzlich, Calimero
---------------------------------------------------- Wir sind alle gemacht aus Schwächen und Fehlern; darum sei erstes Naturgesetz, dass wir uns wechselseitig unsere Dummheiten verzeihen. - Voltaire
Zitat von DagnyMacht der Medien: Ist das so einfach? Medien werden geschrieben, gedruckt, gekauft, gelesen und vom Leser fuer gut befunden. All das zusammen ist 'die Macht der Medien'. Vox populi waere ein anderes Wort: Redakteure, Leser und Zustimmung der Leser zu dem, was die Redakteure schreiben. Manchmal funktioniert dieses Zusammenspiel, manchmal nicht.
Das Problem, liebe Dagny, ist meines Erachtens das "öffentliche Bewußtsein", das durch das Dauer-Bombardement mit bestimmten Meinungen über die Jahre - über mehr als zwei Jahrzehnte - entstanden ist. Nicht so sehr das, was aktuell geschrieben oder im TV gesagt wird.
Zu diesem "öffentlichen Bewußtsein" gehört, daß KKWs des Teufels sind. Eine völlig irrationale Haltung, aber sie ist halt herbeigeführt worden und ist jetzt da. Wir könnten mit Spaltungsreaktoren unseren Energiebedarf stillen, bis die Fusionsenergie weit genug entwickelt ist, um in den kommenden Jahrhunderten billigen und sauberen Strom zu liefern; ohne die Gefahr eines GAUs. Aber diese simple Einsicht wird keine Mehrheit finden.
Ein anderes Beispiel ist das, was ich gerade in dem Berkeley-Artikel angesprochen habe: "Gerechtigkeit". Niemand weiß, was das eigentlich ist, aber es ist in der Bevölkerung die feste Überzeugung entstanden, daß es bei uns sozial ungerecht zugehe. Da kann man noch so oft darauf hinweisen, daß kaum irgendwo auf der Welt die untersten Einkommen so hoch sind wie in Deutschland, daß es kaum irgendwo den Empfängern von Transferleistungen so gut geht. Die kommunistische Propaganda und ihre zahllosen Mitläufer haben beste Arbeit geleistet. Viele Deutsche denken wieder in der Kategorie von Klassen.
Oder nehmen Sie den deutschen Pazifismus. Bei uns kann der einzige Abgeordnete des Bundestags, der jahrelang aktiv mit der Beschaffung von Waffen für einen blutigen Krieg befaßt gewesen ist, sich als Pazifisten aufspielen, und fast alle nehmen es ihm ab. Bei uns kann eine Bischöfin sich hinstellen und der Politik gute Ratschläge erteilen, wie man denn am besten Afghanistan befriedet; nämlich indem die Bundeswehr es verläßt. Politik auf dem Niveau des kleinen Moritz, aber viele nehmen es ihr ab.
Was soll eine Kanzlerin, eine Regierung dagegen machen? Politik ist nun einmal die Kunst des Möglichen. Mit fliegenden Fahnen unterzugehen mag edel sein, ist aber miserable Politik.
Zitat von Zettel Was soll eine Kanzlerin, eine Regierung dagegen machen? Politik ist nun einmal die Kunst des Möglichen. Mit fliegenden Fahnen unterzugehen mag edel sein, ist aber miserable Politik.
Man könnte anfangen, Argumente zu bringen und zu streiten. Die Regierungskoalition könnte auf Angriff gehen und ihre Projekte vorstellen und erklären. Man könnte sich daran erinnern, woher der Name Parlament kommt und sich dafür engagieren, daß dort gehaltene Reden auch verbreitet werden. Und daß sie vor allem überhaupt erst einmal gehalten werden. Man könnte Veranstaltungen organisieren, man könnte Broschüren und Websites erstellen. Man könnte Videos für youtube produzieren und mp3s für Handies. Medienmacht ist nur noch eine billige Ausrede seit dem die Böhsen Onkelz zu einer der erfolgreichsten deutschen Rockbands aller Zeiten werden konnten. Gegen die Macht fast aller etablierten Medien. Gegen die Macht vieler Politiker. Und das war vor 15 Jahren.
Wenn ein Politiker etwas erreichen will, muß er eben zusehen, daß er seine Argumente unters Volk bringt. Die Zeitungsverlage und Sender sind doch so, wie sie sind, bereits totgeweiht. Man muß an den Redaktionen vorbeikommunizieren. Das geht. Man muß nur wollen.
-- Der Weg zur Hölle beginnt mit dem Monopol auf Moral.
Ich finde es interessant wie es zunehmend klar wird dass die Gegensaetze in dieser "liberalkonservartiven Regierung" offenbar groesser sind (oder zumnidest gleich gross) wie in der sozialdemokratisch-konservativen Regierung die ihr voranging. Das laesst fuer ein entschlossenes Handeln und einen ausreichenden Handlungsspielraum dieser Regierung nichts Gutes erwarten. Wie wird das erst bei einer 3-Parteien-Regierung sein?
Zitat von john jIch finde es interessant wie es zunehmend klar wird dass die Gegensaetze in dieser "liberalkonservartiven Regierung" offenbar groesser sind (oder zumnidest gleich gross) wie in der sozialdemokratisch-konservativen Regierung die ihr voranging.
Es geht hier m. E. recht wenig um echte inhaltliche Gegensätze. Ursache der Koalitionsquerelen sind Machtfragen. Die Union fühlt sich traditionell als DIE Regierungspartei, die FDP hat in ihrem Weltbild nur die traditionelle Rolle als Steigbügelhalter und ergänzende Zwergpartei.
In den letzten Jahren hat die FDP es geschafft, als eigenständige und auf alle Wählergruppen zielende Partei Profil zu gewinnen. Und hat insbesondere der Union massiv Wähler abgenommen - durchaus mit dem Potential, sich in der Nähe von 20% und als eigene Volkspartei zu etablieren. Dies vor allem bei jüngeren Wählern. Die Wahlergebnisse mit dem sehr hohen Anteil an alten Unionswählern verdecken, daß beim Nachwuchs (und damit den langfristigen Machtperspektiven) die Führungsfrage im bürgerlichen Lager durchaus offen ist!
Das ist für viele Unions-Führer alarmierend. Und sie scheinen entschlossen zu sein, diesen Trend um jeden Preis umzukehren - die FDP öffentlichkeitswirksam scheitern zu lassen ist ihnen wichtiger als der Erfolg der Regierung. Die Union kann das Scheitern dieser Regierung nämlich gut überstehen, für die FDP dagegen mit ihrer fragilen, frisch gewonnenen und noch nicht wirklich überzeugten Wählerschaft wäre es ein Desaster.
Man sieht das ganz gut am Steuerthema: Eigentlich sind in der Unionsspitze viele (insbesondere bei der CSU, und auch Schäuble) für eine Senkung von Steuern und Staatsquote. Aber da die FDP dieses Thema so stark für sich in Anspruch genommen hat, darf ihr hier kein Erfolg vergönnt sein - gemischt mit der natürlichen Geldgier der Ministerpräsidenten führt das dazu, daß die Union eine echte Steuerreform mit Entlastung derzeit taktisch verhindern will.
Die Union agiert eben langfristig denkend: Sie ist bereit kurzfristig auch Machtverlust zu riskieren, um ihre strategische Position zu verbessern. So hat sie z. B. konsequent alle Parteien rechts von ihr durch Verweigerung kaputt gekriegt - auch wenn diese ihr zu Regierungsbeteiligung verholfen hätten. Der FDP kann sich die Union nicht verweigern, nicht in der Öffentlichkeit. Aber de facto läuft derzeit eine Koalitionsverweigerung durch die kalte Küche.
Während umgekehrt die SPD Konkurrenzparteien von links kurzsichtig bei der Etablierung hilft und z. B. den Grünen extrem bei deren Lieblingsthemen entgegen gekommen ist.
Zitat von R.A.Es geht hier m. E. recht wenig um echte inhaltliche Gegensätze. Ursache der Koalitionsquerelen sind Machtfragen.
Interessante Thesen, lieber R.A. Aber ich bezweifle, daß dies die strategischen Überlegungen in der Union sind.
Also riskiere ich mal eine Gegenthese:
Man weiß in der Union, daß die SPD unter Gabriel/Nahles auf die Volksfront setzt. Die Kommunisten und die Grünen sind dazu eh bereit.
Wenn die SPD die Option einer Volksfront hat, dann wird sie nicht noch einmal in eine Große Koalition gehen. Hat sie diese aber nicht, dann bedeutet das logischerweise eine Mehrheit für Schwarzgelb.
Also wird es in den kommenden Jahrzehnten entweder schwarzgelbe oder Volksfront-Regierungen geben; so wie es zB in Frankreich und Italien und auch in skandinavischen Ländern schon längere Zeit der Fall ist (dort die Kommunisten allerdings meist nur in "tolerierender" Funktion).
Union/FDP und Volksfront liegen gleichauf; mit meist einem Vorsprung für die Volksfront. (Das war während fast der ganzen vergangenen Legislaturperiode so und ist auch jetzt wieder so; nur im Wahljahr 2009 hatte es sich glücklicherweise wegen des miserablen Erscheinungsbilds der SPD gedreht). Es wird also immer wieder einen Kampf um einen relativ kleinen Prozentsatz der Wähler geben, die bereit sind, Union oder aber auch SPD zu wählen. Sie - katholische Arbeiter, kleine Angestellte usw. - entscheiden, wer Deutschland regiert.
Zugunsten von Schwarzgelb geht diese Entscheidung nur dann aus, wenn die Union sich nach links bewegt und damit diese Wechselwähler und Unentschiedenen für sich gewinnt. Sie überläßt damit der FDP einen Teil der liberalkonservativen Unionswähler.
Getrennt marschieren und vereint schlagen - das ist aus meiner Sicht die Strategie Merkels. Ihre Schwachstelle ist, daß die FDP für konservative Wähler (bisher) nicht attraktiv ist. In der Logik dieser Strategie würde deshalb eine bundesweite Ausdehnung der CSU liegen, wie sie Strauß einst erwogen hatte. Oder eine Neubelebung des nationalliberalen Flügels der FDP, der immerhin mit Erich Mende einmal einen der erfolgreichsten Vorsitzenden gestellt hat.
Zitat von ZettelAber ich bezweifle, daß dies die strategischen Überlegungen in der Union sind.
Es sind m. E. die strategischen Überlegungen der Unionsführer, die den Konflikt schon seit der Wahl öffentlich hochkochen. Wenn man sich die diversen öffentlichen Äußerungen der letzten Monate so durchliest, wird man dieses sehr unübliche Verhalten kaum anders deuten können.
Es ist wahrscheinlich nicht die Linie Merkels - die würde sehr viel riskieren, wenn die Regierung nicht Erfolge vorweisen kann. Aber die Unions-Quertreiber würde es wohl nicht stören, wenn mit den FDP-Ambitionen auch die Kanzlerin abgeräumt würde.
Zitat Man weiß in der Union, daß die SPD unter Gabriel/Nahles auf die Volksfront setzt.
Sicher weiß man das. Und eine Regierungsperiode von rot/rot/grün wäre für die nach der großen Koalition ausgelaugte Union ein Jungbrunnen - nachdem die FDP zurecht gestutzt wurde. Für Kanzler-Aspiranten in der Unionsführung ist das ein verlockendes Szenario. Für das man auch gerne riskiert, daß das Land vier Jahre von den Kommunisten mitregiert wird. Entspricht etwas der Sonthofen-Strategie von Strauß.
Zitat Also wird es in den kommenden Jahrzehnten entweder schwarzgelbe oder Volksfront-Regierungen geben
An schwarz-grün wird auch heftig gearbeitet. In mancher Hinsicht wären die Grünen für die Union der bequemere Partner - die wollen ihre Spielwiesen, machen der Union aber keine echte Konkurrenz.
Zitat Getrennt marschieren und vereint schlagen - das ist aus meiner Sicht die Strategie Merkels.
Richtig. Damit hat sie ja auch die Wahl gewonnen. Aber zu einem Preis, den viele CDU-Größen nicht zu zahlen bereit sind.
Zitat von R.A.Es sind m. E. die strategischen Überlegungen der Unionsführer, die den Konflikt schon seit der Wahl öffentlich hochkochen. Wenn man sich die diversen öffentlichen Äußerungen der letzten Monate so durchliest, wird man dieses sehr unübliche Verhalten kaum anders deuten können.
Solche Äußerungen, lieber R.A., kommen ja überwiegend aus den Reihen der CSU. Diese befindet sich in der ersten wirklichen Krise ihrer Geschichte; denn ihr droht der Verlust des Status als Staatspartei des Freistaats. Seehofer, skrupellos wie immer, will die CSU gegen die FDP profilieren und nimmt dabei in Kauf, daß das Image der Bundesregierung leidet.
Zitat von R.A.
Zitat Man weiß in der Union, daß die SPD unter Gabriel/Nahles auf die Volksfront setzt.
Sicher weiß man das. Und eine Regierungsperiode von rot/rot/grün wäre für die nach der großen Koalition ausgelaugte Union ein Jungbrunnen - nachdem die FDP zurecht gestutzt wurde.
Mag sein, daß es Einzelne gibt, die das so sehen; ich kenne keine. Kommunisten, wenn sie erst einmal an der Macht sind, haben bekanntlich die Tendenz, an der Macht zu bleiben. Der Glaube, daß nach vier Jahren Volksfront der demokratische Wechsel noch funktionieren würde, ist naiv. Die Volksfront müßte denn schon so radikal scheitern wie die französische Volksfront von 1981 bis 1984 oder die italienische Volksfront von 2006 bis 2008.
Zitat von R.A.An schwarz-grün wird auch heftig gearbeitet. In mancher Hinsicht wären die Grünen für die Union der bequemere Partner - die wollen ihre Spielwiesen, machen der Union aber keine echte Konkurrenz.
Nur werden die Grünen nicht mitmachen. Trittin und Roth am Kabinettstisch von Angela Merkel? Vielleicht Ströbele als Verteidigungsminister, der kennt sich ja mit dem Finanzieren eines Kriegs aus wie kaum ein anderer?
Zitat von ZettelSolche Äußerungen, lieber R.A., kommen ja überwiegend aus den Reihen der CSU.
Wenn es nur die üblichen CSU-Anwürfe wären, wäre das ja kein Problem. Die gab es auch in früheren Koalitionen immer, das diente der gegenseitigen Profilierung der beiden kleinen Partner - denn damals waren sie noch auf Augenhöhe (heute ist die FDP doppelt so stark).
Die Querelen nach dem Koalitionsstart wurden aber m. W. weitgehend von CDU-Politikern angezettelt. Jedenfalls ist das als Eindruck bei mir hängen geblieben, es würde etwas Arbeit machen, diese ganzen Konflikte und Diskussionen noch einmal in der Presse nachzuvollziehen.
Zitat Der Glaube, daß nach vier Jahren Volksfront der demokratische Wechsel noch funktionieren würde, ist naiv.
Nun ja, ich habe ja auch eine sehr schlechte Meinung von den Kommunisten. Und wenn diese alleine regieren würden, bestünde diese Gefahr. Aber ich gehe schon sicher davon aus, daß nach einer Wahlniederlage von SPD und Grünen mit den Kommunisten ein normaler demokratischer Machtwechsel folgen würde.
Zitat Die Volksfront müßte denn schon so radikal scheitern wie die französische Volksfront von 1981 bis 1984 oder die italienische Volksfront von 2006 bis 2008.
Eben - in diesen beiden demokratischen Ländern konnten die Kommunisten eben auch nicht verhindern, daß es zu einem demokratischen Machtwechsel kommt, sie waren nur Juniorpartner in der jeweiligen Linksregierung.
Zitat Nur werden die Grünen nicht mitmachen.
Wegen ihrer bekannten Prinzipienfestigkeit?
Nun gut, ich bin auch skeptisch, ob die Grünen da mitmachen würden. Käme auf die Konstellation an - z. B. lieber einziger Koalitionspartner der Union als kleinster Partner in einer 3-Parteien-Linksfront.
Wobei die Wunschkonstellation der CDU-Querulanten (mal abgesehen von der absoluten schwarzen Mehrheit) wohl eher die mit einer FDP wäre, die man wieder auf altbekanntes Minimaß reduziert hätte.
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