Erinnern Sie sich noch an die "Affäre", die 2002 das literarische Deutschland erschütterte? Sie begann, bevor überhaupt das Buch erschienen war, auf das sie sich bezog; und sie kreiste um den absurden Vorwurf des Antisemitismus ausgerechnet gegen einen Autor, der beispielsweise 1965 diesen Text über den Auschwitz-Prozeß geschrieben hatte.
Der Anlaß zu meinem Artikel ist ein Beitrag, der am Sonntag in der F.A.S. erscheinen wird und der jetzt schon in FAZ.Net zu lesen ist. Er befaßt sich mit dem heute erschienen dritten Band der Tagebücher Walsers.
Zitat von ZettelDer Anlaß zu meinem Artikel ist ein Beitrag, der am Sonntag in der F.A.S. erscheinen wird und der jetzt schon in FAZ.Net zu lesen ist. Er befaßt sich mit dem heute erschienen dritten Band der Tagebücher Walsers.
Eine lesenswerte Kurzrezension dieses Bands hat Martin Lüdke, ein ausgezeichneter Kenner Walsers, für die "Frankfurter Rundschau" geschrieben.
Darin findet sich auch eine Bemerkung zu den Tagebüchern Thomas Manns, die ich der Aufmerksamkeit aller empfehle, die diese Tagebücher so beurteilen wie ich. (Wie, sage ich nicht. )
Ebenfalls in der FR ist ein Interview erschienen, das Martin Oehlen mit Walser über den Band führte. Darin macht Walser eine Bemerkung, die darauf hindeutet, daß es wohl mit einer Versöhnung nichts werden wird:
Zitat von InterviewMartin Oehlen: Nach Marcel Reich-Ranickis Verriss von "Jenseits der Liebe" im Jahre 1976 folgte 1977 seine begeisterte Ankündigung des Vorabdrucks Ihrer Novelle "Ein fliehendes Pferd".
Martin Walser: Die Komödie daran ist, dass Reich-Ranickis Rezension des "Fliehenden Pferds" vor allem von 1976 handelt und er meint, dass er mich seinerzeit eines Besseren belehrt habe. Das ist unmöglich, dass mich jemand durch Bösartigkeit belehrt. Sich so etwas einzubilden! Da können Sie sagen: Ein hoffnungsloser Fall.
Und noch etwas aus diesem Interview: Anders, als ich es in dem Artikel vermutet habe, hatte Walser nach seiner Aussage die Tagebücher beim Schreiben nicht für eine spätere Publikation vorgesehen.
Im morgigen "Spiegel" (Heft 11/2010, S. 136 - 140) ist ein weiteres Gespräch mit Walser, aus dem noch einmal deutlich wird, wie sehr ihn die vernichtende Kritik Reich-Ranickis 1976 getroffen hat.
Das Gespräch enthält auch eine interessante Passage über den Vorwurf des Antisemitismus, der Walser 2002 nach dem Erscheinen von "Tod eines Kritikers" gemacht wurde:
Zitat von Martin WalserDer Vorwurf, in einem Roman antisemitisch geschrieben zu haben, ist der härteste Vorwurf überhaupt. Das kann sich jemand, dem dieser Vorwurf noch nicht gemacht worden ist, überhaupt nicht vorstellen. Auch die, die einem diesen Vorwurf machen, haben keine, keine, keine Ahnung, wie dieser Vorwurf weh tut. Sonst würden sie diesen Vorwurf nicht machen. Also, das war dann der wirkliche Tief- und Schmerzpunkt meiner sogenannten Laufbahn. Ich konnte nur noch denken: Kennen denn die nicht, was ich geschrieben habe über Kafka, Proust, Rudolf Borchardt und andere, meine Aufsätze zum Thema Auschwitz, mein Stück "Der Schwarze Schwan"? Nein, sie kennen es nicht und beschuldigen drauflos, weil das der Zeitgeist gerade so will.
Ich habe das damals genauso gesehen und meine Meinung seither nicht geändert. Die Kampagne gegen Walser war unanständig. Einige haben sich daran beteiligt, weil sie Walser und sein Werk nicht kannten. Andere haben sich - wie Schirrmacher, der die Debatte durch einen völlig unnötigen "Offenen Brief" angestoßen hatte, wie Karasek - wider besseres Wissen so verhalten; das war schäbig.
In einem Interview aus der Zeit dieser Kampagne hat sich Walser gegenüber Roger Köppel von der "Weltwoche" dazu und zu der Vorgeschichte der Affäre geäußert:
Zitat von Martin WalserMir war natürlich klar, dass der Vorabdruck nicht konfliktfrei abgewickelt werden kann, angesichts der engen Verbindung zwischen der FAZ und Marcel Reich-Ranicki. Vier professionelle Gewährsleute haben das Manuskript vorab gelesen, keiner fühlte sich gedrängt, mir von einer Publikation abzuraten. Die erste Entwarnung kam von Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld. Der kennt den Kulturbetrieb, steht mittendrin. Er hat gesagt: kein Problem, keine Beleidigung weit und breit. (...)
Ich war dann sehr überrascht, als ich am Dienstag, den 27. Mai, abends um 18 Uhr 35, den Anruf vom Literaturchef Hubert Spiegel erhielt. Die ganzen Tage hatte ich mit ihm bereits in Kontakt gestanden, und es klang immer so, als ob es mit dem Vorabdruck klappen könnte. Nur das Plazet des Herausgebers Frank Schirrmacher fehle noch, der habe halt schrecklich viel zu tun, hiess es. Um 18 Uhr 35 kam dieser Anruf, sie könnten es nicht bringen. (...)
Frage von Roger Köppel: Mit Frank Schirrmacher verstanden Sie sich doch gut. Warum fiel ausgerechnet er Ihnen in den Rücken?
Das frage ich mich die ganze Zeit. In meinem neuen Buch gibt es einen Autor, der sich schlimm behandelt fühlt. Der sagt an einer Stelle sinngemäss: Wenn du jemanden wirklich treffen willst, dann musst du es so machen, dass er nie begreift, warum. Das sind die richtigen Schläge, wenn man ein ganzes Leben darüber nachdenken muss, warum, warum, warum, und doch nie darauf kommt. So hat mich nun Schirrmacher getroffen.
Daß solche Kontroversen auch eine menschliche Seite haben; daß es nicht nur darum geht, sich zu profilieren und sich einer allgemeinen Treibjagd anzuschließen, damit man nicht an Einfluß verliert: Das zeigen solche Sätze sehr eindrücklich.
Nachtrag am 15. 3.: In modifizierter und erweiterter Fassung ist dieser Beitrag jetzt auch in ZR zu lesen.
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