Am Wochenende sind zwei Texte zu den Übergriffen in der Odenwaldschule erschienen, auf die ich in dieser Marginalie hinweise.
Aufmerksam machen möchte ich auch nochmals auf den mehr als zehn Jahre alten Artikel in der "Frankfurter Rundschau", in dem die schon damals sehr konkreten Zeugenaussagen ehemaliger Schüler zu den Übergriffen von Gerold Becker zu lesen sind. Da verwundert es schon etwas, wenn Hartmut von Hentig in dem Interview mit Markus Verbeet über die jetzige Leiterin der Odenwaldschule, Margarita Kaufmann, sagt:
Zitat von Hartmut von HentigUrteile ich aus dem, was mich erreichte, ist sie im Begriff, die Aufklärung zu versäumen, wenn nicht gar zu verderben, indem sie von vorneherein Aussagen der Beschuldiger, deren Erinnerung an lang Zurückliegendes, zum Teil auch bloße Mutmaßungen wie Fakten behandelt hat.
Das klingt, als hätte von Hentig Zweifel an den durch zahlreiche Zeugen verbürgten Übergriffen.
Zitat von ZettelAm Wochenende sind zwei Texte zu den Übergriffen in der Odenwaldschule erschienen, auf die ich in dieser Marginalie hinweise.
Als ich den Artikel schrieb, hatte ich einen weiteren Text nicht finden können, den Bericht von Tanjev Schultz in der "Süddeutschen Zeitung" über seinen Besuch bei von Hentig. Jetzt sehe ich, daß er vom Zürcher "Tagesanzeiger" ins Netz gestellt wurde.
Der Artikel ist informativ und abgewogen; er geht behutsam mit Hentig um, dem Schultz früher schon eine sehr freundliche Besprechung eines seiner Bücher gewidmet hatte.
Gerade weil Schultz keine Polemik gegen von Hentig erkennen läßt, machen Passagen wie diese in seinem Text nachdenklich:
Zitat von TagesanzeigerEs ist nicht mehr nur «mein Leben», schreibt Hentig in seiner Autobiografie. Es ist «unser Leben». Hentig und Gerold Becker sind unzertrennlich. (...)
Er hält seinen Freund für einen begnadeten Lehrer und besonders feinsinnigen Menschen. Dass Becker je den Willen eines Kindes gebrochen hat, das kann, das will er sich nicht vorstellen. Hentig ist alt und schwerhörig, und er ist blind vor Liebe und Loyalität. Er weint. (...)
Hentig leugnet, verdrängt und bagatellisiert: Becker kann nichts Böses getan haben. Wenn überhaupt, könnte allenfalls mal ein Schüler seinen Lehrer Becker irgendwie verführt haben . . . Als Hentig diesen Gedanken äussert – diese schlimme Gedankenlosigkeit, die die Asymmetrie zwischen Schüler und Lehrer ignoriert – wird offensichtlich, dass sich der Pädagoge völlig verrannt haben muss. (...)
Hentig belässt es nicht bei einem gesunden sokratischen Zweifel. Er ergeht sich in Unterstellungen: Einer der Schüler, die jetzt als Ankläger auftreten, ist mit seinem Leben nicht klargekommen. Therapeuten haben ihm die Idee, er sei missbraucht worden, dann eingeflüstert. Das sind so die Theorien, die Hentig seinem Gast ausbreitet.
Und dann enthält der Artikel von Schultz noch etwas, das ich in dem jetzigen und dem vorausgehenden Artikel zu diesem Thema angesprochen habe: Diese Grauzone, diese Beschönigung, ja Rechtfertigung eines erotischen Verhältnisses von Lehrern zu Schülern:
Zitat von TagesanzeigerEnde Januar hielt Hentig in Stuttgart einen Vortrag über das «Ethos der Erziehung». (...) Hentig erwähnte den «pädagogischen Eros», den Gott, den Platon in die Erziehung einführte. Hentig zitierte Pestalozzi, der fand, dass die elterliche Liebe auf den Erzieher übergehen müsse: «Bei beiden, Platon und Pestalozzi, bedarf es keiner Verbergung der Natürlichkeit des hier waltenden Gefühls.» Hentig nannte Eduard Spranger, der unbefangen habe sagen können, ein echter Erzieher trage pädagogische Liebe in sich, und diese sei mehr als ein Klima der Zuneigung. Sie sei «eine Form der persönlichen Liebe». In diesem Punkt – fügte Hentig hinzu – sei «unsere aufgeklärte Gesellschaft kleinmütig».
Und weiter: Die Gesellschaft blicke «misstrauisch auf jede Zärtlichkeit und errichtet fürsorgliche Schutzvorkehrungen gegen den scheuen Gott».
Von Hentig ist ein Greis, der sich in seinen vielgeübten Studien (Griechenland, Knabenliebe, Platon) in der Weise verstrickt hat, daß er von vornherein nicht die Pädagogik sondern die Rechtfertigung seines Handelns im Vordergrund sah. Auf der einen Seite gibt es nun Leute, die die ganze Reformpädagogik zum Abschuß freigeben möchten, zum anderen wundere ich mich, daß niemand von den Dauerkämpfern sich für die Edelschwulen von Hentig/Becker stark macht. Irgendwie ekelt mich das Thema an, weil es über kurz oder lang wieder in bewußter Beliebigkeit versinken wird. Freundlichst, Inger
Gestern hat Birger Menke in "Spiegel-Online" weitere Einzelheiten veröffentlicht, die kein gutes Licht auf die Leitung der Odenwaldschule in den vergangenen Jahrzehnten werfen. Erst die jetzige Leiterin, Margarita Kaufmann, scheint zur Aufklärung entschlossen zu sein.
Zitat Hentig nannte Eduard Spranger, der unbefangen habe sagen können, ein echter Erzieher trage pädagogische Liebe in sich, und diese sei mehr als ein Klima der Zuneigung. Sie sei «eine Form der persönlichen Liebe».
aber doch nicht erotisch oder sexuell. Welcher Vater, welche Mutter, handelt so?
Hentig hat schlicht und einfach Angst um sein Lebenswerk und seine sehr positive Erinnerung an Wahrnehmungen während seiner aktiven Jahre. Die war wohl unvollständig. Das ist auch das Einzige, wo man ihn noch erreichen kann, bei der Angst um sein Lebenswerk, um sein das nicht sein kann, was nicht sein darf zu durchbrechen.
Ich kann mich an einen Sportlehrer erinnern, der auch eine merkwürdige Vorliebe dafür hatte, mit uns Jungs nach dem Sportunterricht zu duschen. Was genau dabei passierte, kann ich aber nicht sagen, denn ich hatte die merkwürdige Vorliebe, die Duschen zu meiden, wenn wir Unterricht bei diesem Sportlehrer hatten. Es war ihm wichtig, das gemeinsame Duschen. Der Mann kam übrigens aus der anderen politischen Ecke und hatte seine Vergangenheit als strammer HJ Führer und Flakhelfer noch nicht ganz bewältigt. Da mein Vater seine Erinnerungen an den Krieg dank einiger "hilfreicher" Schrapnelle, Splitter und Kugeln in seinen Körper eingraviert hatte und als Kriegsversehrter reichlich zerfleddert aussah, war meine von ihm geborgte Erinnerung an diesen Krieg nicht ganz so heroisch.
In einem Punkt muß ich der Reformpädagogik recht geben. Ich bin jetzt über 50 und blicke auf meine Lebensjahre und die der Schulfreunde und Studienkollegen zurück. Je älter ich werde, um so höher werte ich das Wissen, wie ich mit mir selbst und mit anderen umgehe. Fachwissen ist notwendig, aber leider nicht hinreichend. Was hilft das Fachwissen, wenn das Miteinanderumgehen im privaten und beruflichen Leben den Wirkungsgrad des Lebens, teilweise empfindlich, beeinträchtigt.
Das ist nicht Aufgabe der Schule, das ist Aufgabe der Familie? Natürlich versucht man als Vater oder auch Mutter, seinem Nachwuchs dabei zu helfen, als junger Erwachsener sich selbst zu erkennen. Wer bin ich? Was möchte ich werden. Wer passt zu mir? Wer passt zu mir nicht, vor allem privat? Wie gehe ich mit Menschen um, die für mich schwierig sind?
Dummerweise ist der Sinn des Heranwachsens die Loslösung vom Elternhaus, die oft sich auch so äußert, daß der Nachwuchs jede Anregung zu diesem Sichselbstfinden ablehnt.
Wenn sie von den Eltern kommt.
Zudem ist die Geschichte der Familie in Europa nicht ganz so glorreich, wie viele glauben. Früher war im familiären Zusammenleben nicht alles besser, sondern eher bei vielen Familien vieles schlimmer.
Fachwissen ist ohne Selbstbewußtsein, Selbstvertrauen und Entschlossenheit leider ziemlich wertlos. Das Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen ist für mich auch der Schlüssel für den Erfolg bisheriger Schulversager.
Da wird ja immer von bildungsfernen Schichten gesprochen. Ich hatte einen Studienkollegen, der in seinem ganzen Auftreten dieser Etikettierung entsprach. Hauptschule, dann Mauerlehre. Dann Fachabitur. Dann FH-Ing. Dann Dipl.-Ing. Dann Promotion. Im Beruf ging das so weiter. Betriebsassistent, Bereichsleiter, Betriebsleiter, Werksleiter, Geschäftsführer. Inzwischen ist er bei einem recht bekannten Unternehmer, der auf eine ähnliche Karriere zurückblicken kann. Er hat sein Talent nicht zu 100 %, sondern zu 150 %, wenn nicht sogar zu 200 % genutzt. Alleine mit seiner Begabung hätte er es nicht geschafft. Die war eigentlich nicht ausreichend. Selbstvertrauen, Mut, Entschlossenheit und immenser Fleiss haben ihm zu dieser beispiellosen Karriere verholfen. Ohne diese Eigenschaften wäre er einer der vielen namenlosen Maurer geblieben. Er hat viele mit viel größerer Begabung hinter sich gelassen, die steckenblieben oder strauchelten oder durch private Streitigkeiten ihr Lebensglück einbüßten. Er ist ein toller Fachmann. Gewiss, er hat Lücken in der Allgemeinbildung, aber es ist viel reifer als viele andere in der Bildung, die für den Lebensglück der arbeitenden Jahre und die Lebenssattheit im Alter wichtig ist.
Was habe ich von meinen Lehrern am Gymnasium und an der Universität behalten? Das Fachwissen? Nein, das ist es nicht. Das was Sie mir nebenbei an Lebensweisheiten offenbarten. Es ist das, was ich Ihnen an Bildung zu verdanken habe.
Insofern hat die Reformpädagogik recht. Die übliche Schule vermittelt eigentlich keine Bildung.
Herzlicher Gruß Libero
Man sollte vorsichtig sein in der Wahl seiner Feinde: Früher oder später wird man ihnen ähnlich.
Zitat Hentig nannte Eduard Spranger, der unbefangen habe sagen können, ein echter Erzieher trage pädagogische Liebe in sich, und diese sei mehr als ein Klima der Zuneigung. Sie sei «eine Form der persönlichen Liebe».
aber doch nicht erotisch oder sexuell. Welcher Vater, welche Mutter, handelt so?
Es gibt aber, bei Vater und Mutter - wenn sie normal sind - eine Inzesthemmung, die beim Lehrer natürlich fehlt. Ist jemand auch noch pädophil veranlagt (was ja nicht seine Schuld ist), dann läßt sich eine Grenze zwischen einer Liebe à la Vater und Mutter und erotischer, wenn nicht sexueller Zuwendung nicht ziehen.
Wer pädophil ist, der hat sich von Kindern fernzuhalten. Die Schuld von Menschen wie Gerold Becker beginnt nicht damit, daß sie Kinder sexuell belästigen, sondern sie beginnt mit ihrer Entscheidung, Lehrer oder Geistlicher zu werden. Wer um die zwanzig ist, der weiß es, wenn er pädophil wird. Also soll er Kaufmann oder Ingenieur werden, aber nicht Lehrer oder Geistlicher.
Zitat von LiberoHentig hat schlicht und einfach Angst um sein Lebenswerk und seine sehr positive Erinnerung an Wahrnehmungen während seiner aktiven Jahre. Die war wohl unvollständig. Das ist auch das Einzige, wo man ihn noch erreichen kann, bei der Angst um sein Lebenswerk, um sein das nicht sein kann, was nicht sein darf zu durchbrechen.
Ja, das mag gut sein. Tanjev Schultze schreibt, er habe bei dem Interview geweint. Ihm persönlich ist ja bisher nichts vorgeworfen worden. Vielleicht hätte er besser schweigen sollen.
Zitat von LiberoFachwissen ist ohne Selbstbewußtsein, Selbstvertrauen und Entschlossenheit leider ziemlich wertlos. Das Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen ist für mich auch der Schlüssel für den Erfolg bisheriger Schulversager.
Das entspricht auch meiner Erfahrung, lieber Libero. Allerdings ist es im Schulalter sehr wahrscheinlich zu spät, Selbstsicherheit aufzubauen. Sie entsteht wohl in der frühen Kindheit aus der Erfahrung heraus, von den Eltern v vorbehaltlos akzeptiert und geliebt zu werden.
Zitat von LiberoSelbstvertrauen, Mut, Entschlossenheit und immenser Fleiss haben ihm zu dieser beispiellosen Karriere verholfen. Ohne diese Eigenschaften wäre er einer der vielen namenlosen Maurer geblieben.
Ich habe an der Uni überwiegend gute Erfahrungen mit Studenten gemacht, die über den zweiten Bildungsweg die Hochschulreife erlangt haben. Viele hatten die Eigenschaften, die Sie nennen. Es gibt dort allerdings auch eine Gruppe von Menschen, die sich selbst überschätzen. Sie glauben, durch Pauken fehlende Begabung ausgleichen zu können. Das geht aber je nach Fach nur begrenzt.
Zitat von LiberoWas habe ich von meinen Lehrern am Gymnasium und an der Universität behalten? Das Fachwissen? Nein, das ist es nicht. Das was Sie mir nebenbei an Lebensweisheiten offenbarten. Es ist das, was ich Ihnen an Bildung zu verdanken habe.
Da sind die Erfahrungen wohl sehr verschieden. Ich hatte gute und schlechte Lehrer, auf den Schulen und an den Hochschulen. Persönlich beeindruckt hat mich niemand von ihnen. Lebensweisheit habe ich von keinem gelernt; und ich bin froh, daß es auch niemand versucht hat, mir das zu vermitteln.
Am besten waren die strengen Lehrer, die ein solides Fachwissen hatten und uns Solides beigebracht haben. Am schlimmsten waren die Gutwilligen, die nichts konnten.
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