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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 11 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.09.2010 11:28
Zitat des Tages: Ressentiments, Marx, Freud Antworten

Thomas Pauli hat mich auf einen schönen Text von Theodore Dalrymple aufmerksam gemacht, den ich in dem Artikel zitiere und kommentiere.

Wenn Sie Dalrymples Aufsatz lesen, dann werden Sie sehen, daß er sehr persönlich gehalten ist. Dalrymple geht (auch) mit sich und seinen Ressentiments ins Gericht. Ich habe dagegen das Allgemeine herausgepickt und weitergesponnen: Eine Denkweise, die, geprägt von Marx und Freud, dem Menschen die Eigenverantwortung abspricht und ihn auf der individuellen Ebene zum Produkt seine Kindheit (später vertreten durch Es und Überich) und auf der sozialen Ebene zum Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse macht.



Frei von diesem Denken sind wir alle nicht; so wenig, wie Dalrymple von seinen Ressentiments.

Ich habe mich zum Beispiel gefragt, warum sich dieses freudianisch-marxistische Denken so durchsetzen konnte; jedenfalls in der "linksliberalen" Meinungs- und Erziehungselite.

Meine (vorläufige) Antwort lautet: Weil es dieser gesellschaftlichen Schicht der Helfer aller Art nützt, vom Sozialabeiter über die Ernährungsberaterin bis zum Hoschschullehrer für Psychologie. Weil es sie in Arbeit und Brot bringt; in noch dazu überwiegend angenehme Arbeit und üppig belegtes Brot.

Und weil es zweitens allen diesen Menschen das schöne Gefühl gibt, zugleich Macht ausüben zu dürfen und dabei etwas Gutes zu tun.

Das erste ist eine marxistische Antwort, das zweite eine psychoanalytische.

VolkerD Offline



Beiträge: 101

08.09.2010 12:38
#2 Psychoanalyse ... Antworten

... führt mitnichten zu einer "Entschuldung" des Einzelnen sondern soll dem Einzelnen dabei helfen sein Selbstbewußtsein zu entdecken und danach zu handeln (meine Definition, keine Lehrbuchmeinung).

Wenn sich jemand durch eine Psychoanalyse bzw. -therapie so manipulieren lässt wie Sie es darstellen, dann ist das wohl ein Patient, der sonst auf irgendeine Religion hereinfallen würde.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.09.2010 13:27
#3 RE: Psychoanalyse ... Antworten

Zitat von VolkerD
... führt mitnichten zu einer "Entschuldung" des Einzelnen sondern soll dem Einzelnen dabei helfen sein Selbstbewußtsein zu entdecken und danach zu handeln (meine Definition, keine Lehrbuchmeinung).
Wenn sich jemand durch eine Psychoanalyse bzw. -therapie so manipulieren lässt wie Sie es darstellen, dann ist das wohl ein Patient, der sonst auf irgendeine Religion hereinfallen würde.


Das ist, lieber VolkerD, nicht nur eine Frage des Patienten, sondern vor allem auch des Therapeuten.

Aber lassen Sie mich einen Unterschied verdeutlichen, der aus meiner Sicht wichtig ist: Den zwischen dem "Menschenbild" Freuds und dem Ziel der Psychoanalyse.

Was dieses Ziel angeht, haben Sie vollkommen Recht: Die Therapie soll das Ich stärken; die Selbstverantwortlichkeit erweitern, die Abhängigkeit von nicht verstandenen unbewußten Impulsen verringern. "Wo Es war, soll Ich werden", so hat Freud das auf eine Formel gebracht und als Vergleich die damals aktuelle Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe verwendet.

Freud hat dazu übrigens in einer seiner "metapsychologischen Schriften" aus den Jahren um 1915 (ich weiß nicht mehr genau, in welcher; ich glaube in "Das Unbewußte") eine interessante Idee entwickelt: Es gibt "Wortvorstellungen" und - ich glaube, so nannte er sie - "Bildvorstellungen". Wenn man sich etwas bewußt macht, dann verknüpft man diese miteinander. Man gibt der Sache ein Etikett, man "nennt das Kind beim Namen". U.a. deshalb ist die Sprache so wichtig für den analytischen Prozeß; die "Trockenlegung" geschieht eben zT durch die Verknüpfung mit Sprache.

Das also ist das eine. Das andere ist, daß Freud aber dieses Menschenbild von "nicht Herr im eigenen Haus" hatte. Er hat die "Macht des Unbewußen" meines Erachtens sehr überschätzt. Wenn Sie die ersten Kapitel der "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" von 1917 lesen, dann finden Sie dort die Fehlhandlungen und den Traum ausführlich behandelt. Was Freud da alles als "unbewußt determiniert" vorführt, ist oft an den Haaren herbeigezogen. Er konnte und wollte sich keinen Zufall vorstellen. Darin ganz Kind des 19. Jahrhunderts.

Es hat etwas Paradoxes, daß der große Rationalist Freud der Ratio so wenig zugetraut hat. Oder sagen wir: Nur seiner eigenen. Bei anderen hat er - auch in wissenschaftlichen Diskussionen, etwa mit Jung - gern nach verborgenen Motiven gegraben, statt zur Sache zu diskutieren.

Bei ihm war das gebändigt. Aber die Psychoanalyse ist eine wesentliche Ursache für dieses ständige Gelabere à la "Was willst du mir jetzt damit sagen?", "Da kommt wieder dein Mutterkomplex durch" ja nicht nur in den Wohnküchen von Wohngemeinschaften.

Herzlich, Zettel

dirk Offline



Beiträge: 1.538

08.09.2010 13:52
#4 RE: Zitat des Tages: Ressentiments, Marx, Freud Antworten

Zitat von Zettel
Meine (vorläufige) Antwort lautet: Weil es dieser gesellschaftlichen Schicht der Helfer aller Art nützt, vom Sozialabeiter über die Ernährungsberaterin bis zum Hoschschullehrer für Psychologie. Weil es sie in Arbeit und Brot bringt; in noch dazu überwiegend angenehme Arbeit und üppig belegtes Brot.

Und weil es zweitens allen diesen Menschen das schöne Gefühl gibt, zugleich Macht ausüben zu dürfen und dabei etwas Gutes zu tun.



Hinzu kommt: In einer Welt der Freiheit, in der jeder alles erreichen kann, benötigt der Einzelne Ausreden und Rechtfertigungen, warum er nicht nach oben kam. Jedenfalls dann, wenn er nicht selbstbewusst genug ist, um zu sagen "Macht mir keinen spaß und ich hatte keine Lust dazu".

Thomas Pauli Offline




Beiträge: 1.486

08.09.2010 14:03
#5 RE: Psychoanalyse ... Antworten

Zitat
Aber die Psychoanalyse ist eine wesentliche Ursache für dieses ständige Gelabere à la "Was willst du mir jetzt damit sagen?", "Da kommt wieder dein Mutterkomplex durch" ja nicht nur in den Wohnküchen von Wohngemeinschaften.

Ah ja, die Volkspsychologie! Jeder weiß natürlich aus dem Effeff, daß die linke Hirnhälfte alles rauslassen muß, damit die rechte keinen Verdrängungsmechanismus entwickeln kann.
Allein aus der Tatsache der tiefen Durchdringung unser aller Vorstellungswelt könnte man auf die ungeheure Nützlichkeit dieser Figuren schließen. Sie bevölkern den Jargon, mit dem die große Alleserklärungsmaschine gefüttert wird und letztlich auch alles verstanden werden kann. Was Wunder?

Herzlich, Thomas

P.S.: Neue Variante: "Was macht das mit Dir?"

C. Offline




Beiträge: 2.639

08.09.2010 16:22
#6 RE: Psychoanalyse ... Antworten

Zitat von Thomas Pauli
P.S.: Neue Variante: "Was macht das mit Dir?"



Ich fände es unheimlich spannend, wenn Du darüber reden könntest.

Haben wir etwa Ressentiments gegen Wohnküchengespräche von Wohngemeinschaften?

Bei der Gelegenheit, es war ein Vergnügen Dalrymples Erkenntnisse zu lesen. Dass Zettel allerdings Ressentiments gegen Freud hegt, wird vermutlich an traumatischen Erlebnissen in der Adoleszenzkrise liegen

http://www.iceagenow.com/

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.09.2010 16:47
#7 RE: Psychoanalyse ... Antworten

Zitat von Thomas Pauli
P.S.: Neue Variante: "Was macht das mit Dir?"


Und die beiden sportlichen Varianten: "Wie fühlt man sich, wennn ..."? und "Woran hat's gelegen?".

(Jens Lehmann auf die zweite Frage: "Wenn der Ball so aufgesprungen wäre, wie ich gedacht habe, hätte ich ihn gehalten, glaube ich". Und Paul Breitner auf eine ähnliche Frage: "Da kam dann das Elfmeterschießen. Wir hatten alle die Hosen voll, aber bei mir lief's ganz flüssig").

Diese und viele schöne weitere Zitate von Fußballern hier.

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.09.2010 16:51
#8 RE: Psychoanalyse ... Antworten

Zitat von C.

Zitat von Thomas Pauli
P.S.: Neue Variante: "Was macht das mit Dir?"

Dass Zettel allerdings Ressentiments gegen Freud hegt, wird vermutlich an traumatischen Erlebnissen in der Adoleszenzkrise liegen



Viel früher, dear C., viel früher. Es liegt daran, daß ich im ödipalen Konflikt meinen Vater mit Freud identifiziert habe, weil dessen Porträt über seinem Schreibtisch hing. Und du weißt ja, Kastrationsdrohung und Todeswunsch ...

Herzlich, Zettel

Juno Offline



Beiträge: 332

08.09.2010 16:53
#9 RE: Zitat des Tages: Ressentiments, Marx, Freud Antworten

Vielen Dank für diese wieder einmal großartige Analyse.

Übrigens trifft sie m.E. auch einen bisher vernachlässigten Kern der Sarrazin-Kontroverse. In der Öffentlichkeit wird das Buch inzwischen fast nur noch unter dem Aspekt "versteckter Biologismus" debattiert, Frank Schirrmacher und die FAZ haben da - auf deutlich höherem Niveau als die meisten anderen - die Richtung vorgegeben. Das überhaupt nicht versteckte, sondern sehr explizite Thema bei Sarrazin heißt aber Eigenverantwortung - oder im Politjargon: Nicht nur fördern, sondern auch fordern. Und zwar konsequent und ohne Ausreden.

Es ist offenkundig, dass dieser Ansatz die gesamte Förder- und Betreuungsindustrie samt ihrer linksliberalen Herolde in Medien und Politik ins Mark trifft. Denn wenn einer anfängt, in den Klienten dieser Industrie etwas anderes als nur hilfsbedürftige Opfer zu sehen, dann gefährdet er die Geschäftsgrundlage des Ganzen.

Es ist ja zum Beispiel das Eine, über fehlende Sprachkenntnisse von Zuwanderern zu klagen. Da kann man zur Not immer noch mehr Sprachkursangebote und staatliche Förderung fordern, und in diese Richtung bewegt sich die Diskussion ja inzwischen auch. Wenn aber einer sagt, dass es auch in der Eigenverantwortung eines Zuwanderers liegt, sich um Spracherwerb zu bemühen, dann eröffnen sich plötzlich ganz schockierende Möglichkeiten:
- Integration kann trotz noch so guter Absichten der aufnehmenden Gesellschaft scheitern
- Integration kann zu selbstbewussten Neubürgern führen, die mit Stolz auf eigene Leistung verweisen können, statt in geduckter Dankbarkeit zu verharren (der amerikanische Einwanderertraum)

Der Biologismus-Vorwurf gegen Sarrazin lenkt von solchen Gedanken ab und stellt gleich die alte Ordnung wieder her:
Hier die hilflosen Opfer des Kapitalismus - dort die aufgeklärten Betreuer, die ihre Klienten auch vor der verbalen und statistischen Gewalt eines durchgedrehten Krypto-Nazis schützen müssen.

Von Dalrymple ist übrigens auch im Wall Street Journal ein interessanter Artikel über "Politik und den "Kult der Sentimentalität" erschienen.

Zitat
Sentimentality allows us to congratulate ourselves on our own warmth and generosity of heart. Oscar Wilde said that sentimentality is the desire to have the luxury of emotion without paying for it. It turns the people on whom it is bestowed into objects. It attempts, often successfully, to disguise from them their own part in their downfall. It suggests solutions to problems that do not, because they cannot, work. Sentimentality is the ally of ever-expanding bureaucracy, for the more a solution doesn't work, the more of it is needed.

Leipziger ( gelöscht )
Beiträge:

08.09.2010 21:49
#10 RE: Zitat des Tages: Ressentiments, Marx, Freud Antworten
Westfale Offline



Beiträge: 45

09.09.2010 16:16
#11 RE: Zitat des Tages: Ressentiments, Marx, Freud Antworten

Der Wunsch des Menschen, sein Schicksal nicht allein mit seinem eigenen Handeln zu erklären, es nicht allein in seiner eigenen Verantwortung zu sehen, ist zum einen verständlich - insbesondere bei denjenigen, die ihre Ziele nicht erreichen - und zum zweiten legitim.

Denn wer will leugnen, dass es tatsächlich auch die Umwelt ist, die die Chancen, die das Leben dem Einzelnen bietet, beeinflusst. Seien es die Handymonteure von Nokia in Bochum, die aufgrund der Verlagerung der Produktion - gegen die ich nichts einzuwenden habe - erst einmal ihren Arbeitsplatz verlieren, mit all den Sorgen, die damit einhergehen. Wer will ihnen verdenken, hier zunächst einmal denjenigen zuzustimmen, die in sozialistisch inspirierter Manier gegen diese Verlagerung wettern.

Und sei es das Kind, das von einem lieblosen Elternhaus geprägt ist und selbst im Erwachsenenleben Bindungsprobleme hat. Hier kann Introspektion und Rückschau hilfreich sein, um ein Verständnis in die eigenen Probleme zu finden, um überhöhte Ansprüche an sich selbst zu eliminieren und um so zuvor unmögliche Schritte gangbar zu machen. Sollte dies mit Hilfe eines Psychologen o.ä. geschehen - auch in Ordnung.

Man gestatte mir dieses Klischee: Die Menge macht das Gift. Wer als Arbeitsloser jahrelang nur über die bösen Bosse lamentiert und ansonsten den Hintern nicht hochbekommt, der hat in der Tat jegliche Eigenverantwortung abgelegt, ebenso wie derjenige, der seine möglicherweise problematische Kindheit als Grund vorschützt, jegliche Eigenanstrengung zur Lösung seiner Probleme zu verweigern.

Gruß,
der Westfale

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

09.09.2010 16:42
#12 RE: Zitat des Tages: Ressentiments, Marx, Freud Antworten

Zitat von Westfale
Der Wunsch des Menschen, sein Schicksal nicht allein mit seinem eigenen Handeln zu erklären, es nicht allein in seiner eigenen Verantwortung zu sehen, ist zum einen verständlich - insbesondere bei denjenigen, die ihre Ziele nicht erreichen - und zum zweiten legitim.

Denn wer will leugnen, dass es tatsächlich auch die Umwelt ist, die die Chancen, die das Leben dem Einzelnen bietet, beeinflusst.

Ich gewiß nicht, lieber Westfale; und ich danke Ihnen für diesen Beitrag, der eine Seite des Problems thematisiert, auf die ich nicht eingegangen bin.

Ja, gewiß, frühkindliche Prägungen spielen eine große Rolle für unser Leben; ebenso gesellschaftliche Einflüsse. Das abzustreiten wäre töricht.

Mir scheint nur, daß dies zunehmend nicht mehr als Herausforderung gesehen wird, sondern als Schicksal. Wobei es gar nicht einmal unbedingt die Betroffenen sein müssen, die mit diesen Klischees operieren, sondern sehr oft die Helfer und Vormunde. Diese erklären uns, daß zB an den Verbrechen eines Jugendlichen nicht er schuld sei, sondern seine schwere Kindheit, seine Arbeitslosigkeit usw. Dagegen habe ich mich in dem kleinen Artikel gewendet.

Ich glaube, Sie sehen das ähnlich, lieber Westfale, wenn Sie am Schluß schreiben:

Zitat von Westfale
Wer als Arbeitsloser jahrelang nur über die bösen Bosse lamentiert und ansonsten den Hintern nicht hochbekommt, der hat in der Tat jegliche Eigenverantwortung abgelegt, ebenso wie derjenige, der seine möglicherweise problematische Kindheit als Grund vorschützt, jegliche Eigenanstrengung zur Lösung seiner Probleme zu verweigern.

Darum ging es mir, und darum geht es übrigens auch Thilo Sarrazin.



Sie schreiben noch etwas Interessantes: "besonders bei denen, die ihr Ziel nicht erreichen". In der Tat hat dieses Attribuieren von Mißerfolg nicht auf sich selbst, sondern die Umstände und/oder andere Personen ja etwas Entlastendes.

Vermutlich gehört es zur condition humaine. Man erträgt manches Schicksal leichter, wenn man es der Moira zuschreibt, den Nornen, dem Kismet, dem unerforschlichen Ratschluß Gottes; oder eben der frühen Kindheit, der Gesellschaft oder, nebenbei, auch den Genen, die man nun einmal in sich hat. (Für Gorgasal: den Allelen ).

Würde man sich, wie es Sartre und andere "Existenzialisten" gefordert haben, als ganz allein verantwortlich für das eigene Schicksal sehen, dann könnte man daran wohl zerbrechen.

Herzlich, Zettel

PS: Willkommen im kleinen Zimmer!

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