Gisela Friedrichsen berichtet im heutigen "Spiegel" über das für den 13. Oktober erwartete Gutachten des Berliner Psychiaters Kröber; dasjenige Gutachten, dessentwegen laut Mannheimer Richter jetzt erst einmal vor "Simone" Kachelmanns Ex-Geliebte gehört werden; denn es soll erst am 13. Okober vorliegen.
Übrigens weist Gisela Friedrichsen in dem Artikel auf einen wichtigen Punkt hin: Es entspricht keineswegs der Erfahrung, daß Traumaopfer sich an die Einzelheiten des traumatischen Ereignisses nicht erinnern können. Sie können das im Gegenteil in der Regel sehr genau.
Die Behauptung, daß traumatische Erfahrungen "verdrängt" werden und dann erst in einer Therapie - gar erst in Hypnose! - wieder "bewußt gemacht" werden, ist eine der Behauptungen von Sigmund Freud, für die es kaum empirische Belege gibt.
Zitat von ZettelEs entspricht keineswegs der Erfahrung, daß Traumaopfer sich an die Einzelheiten des traumatischen Ereignisses nicht erinnern können. Sie können das im Gegenteil in der Regel sehr genau.
Das kann stimmen, wenn wir von einzelnen Traumata sprechen. Patienten mit mehrfacher Traumatisierung weisen aber sehr wohl genau dieses Phänomen auf. Die Traumaforscher führen das darauf zurück, dass emotionale Eindrücke und situative Informationen zwar zusammen im Gedächtnis abgelegt werden, bei wiederholter Aktivierung der mit einem Trauma einhergehenden Emotionen aber der Zusammenhang zwischen einem konkreten traumatischen Erlebnis und den dazu gehörigen situativen Informationen (wo war es, war es bei Tag oder bei Nacht) irgendwann unter dem übersteigerten Furchtnetzwerk untergeht. Stichwort: Hebbsches Lernen. Hierzu auch relevant die Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung, insbesondere A und B:
Zitat von Wikipedia zur PTSDA: Exposure to a traumatic event
This must have involved both (a) loss of "physical integrity", or risk of serious injury or death, to self or others, and (b) an intense negative emotional response. (The DSM-IV-TR criterion differs substantially from the previous DSM-III-R stressor criterion, which specified the traumatic event should be of a type that would cause "significant symptoms of distress in almost anyone," and that the event was "outside the range of usual human experience.")
B: Persistent re-experiencing
One or more of these must be present in the victim: flashback memories, recurring distressing dreams, subjective re-experiencing of the traumatic event(s), or intense negative psychological or physiological response to any objective or subjective reminder of the traumatic event(s).
-- La función didáctica del historiador está en enseñarle a toda época que el mundo no comenzó con ello. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
Zitat von GorgasalHierzu auch relevant die Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung, insbesondere A und B:
Zitat von Wikipedia zur PTSDA: Exposure to a traumatic event This must have involved both (a) loss of "physical integrity", or risk of serious injury or death, to self or others, and (b) an intense negative emotional response. (The DSM-IV-TR criterion differs substantially from the previous DSM-III-R stressor criterion, which specified the traumatic event should be of a type that would cause "significant symptoms of distress in almost anyone," and that the event was "outside the range of usual human experience.") B: Persistent re-experiencing One or more of these must be present in the victim: flashback memories, recurring distressing dreams, subjective re-experiencing of the traumatic event(s), or intense negative psychological or physiological response to any objective or subjective reminder of the traumatic event(s).
Lieber Gorgasal, dieser Artikel ist nicht unproblematisch, wie der Vorspann zeigt. (Allerdings werden im Literaturverzeichnis auch nun wirklich wissenschaftlich seriöse Zeitschriften Progress in Brain Research als "unreliable medical source" gebrandmarkt; da hat wohl einer des Guten zuviel getan).
In diesem Artikel findet sich aber kein Wort über die "posttraumatische Amnesie", vulgo Verdrängung, die ja vom Therapeuten Seidel offenbar bei "Simone" diagnostiziert wurde.
Die drei klassischen Symptomgruppen des PTSD sind
- das Wiedererinnern oder Wiedererleben (re-experiencing), das schon Freud im Ersten Weltkrieg aufgefallen war und das ihn zur Revision seiner Triebtheorie (mit) veranlaßte (Eros vs Thanatos statt Libido vs Ichtriebe); das ist also das genaue Gegenteil von "Verdrängung"
- Vermeidung und emotionale Abstumpfung. Dazu können Schwierigkeiten beim Erinnern von Traumata gehören; die Regel ist das aber keineswegs. KZ-Opfer beispielsweise können in aller Regel genauestens über ihre traumatischen Erlebnsse berichten
- Erhöhte Nervosität (arousal)
Wir wissen ja beide, lieber Gorgasal, daß diese ganze Diskussion um angebliches "repressed memory" dadurch belastet ist, daß dieses von bestimmten feministischen Strömungen behauptet und hervorgehoben wurden.
Frauen, die sich an keine sexuellen Übegriffe in ihrer Kindheit hatten erinnern können, bevor sie in eine Therapie gingen, wurden durch ihre Therapeutin (oft unter Hypnose) dazu gebracht, sich zu "erinnern". Die ausgezeichnete Gedächtnisforscherin Elizabeth Loftus hat das einer wissenschaftlichen Überprüfung unterzogen, mit einem vernichtenden Ergebnis. Hier faßt sie das Ergebnis ihrer Forschungen zusammen.
Wir alle erinnern uns ungern schlimmer Dinge. Das heißt aber nicht, daß wir sie im Freud'schen Sinn "verdrängt" haben, daß sie also überhaupt nicht bewußtseinsfähig sind. Es heißt nur, daß wir es vermeiden, an sie zu denken. Meine Großmutter redete zum Beispiel kaum von ihren schrecklichen Erlebnissen als Opfer der alliierten Terrorangriffe. Wenn sie einmal darauf kam, dann brach sie ab und sagte "Ich darf gar nicht daran denken".
Aber als Zeugin hätte sie natürlich aussagen können; so, wie KZ-Opfer das konnten und getan haben.
Daß "Simone" sich aufgrund eines PTSD nicht an die Einzelheiten der Vergewaltigung erinnern kann, von der sie sagt, daß sie ihr widerfuhr, halte ich für ausgesprochen unwahrscheinlich. Jedenfalls kenne ich keine seriöse wissenschaftliche Dokumentation eines solchen Falls.
Kennen Sie, lieber Gorgasal, irgendeinen seriösen Artikel, in dem überhaupt nur "Verdrängung" nachgewiesen worden wäre?
Herzlich, Zettel
PS: Den Zusammenhang mit der Hebb'schen Regel habe ich nicht verstanden. Das ist ja nur eine Regel, nach der neuronale Netze lernen, wie die Delta Rule usw.
Zitat von Gorgasalhttp://en.wikipedia.org/wiki/PTSD#A:_Exposure_to_a_traumatic_event
Lieber Gorgasal, dieser Artikel ist nicht unproblematisch, wie der Vorspann zeigt.
Öhm, was genau ist an den DSM-IV-Kriterien für eine PTSD problematisch? Ich habe bewusst nur auf diese verlinkt. Natürlich ist der Wikipedia-Artikel kein Beleg für das fragmentierte Gedächtnis bei PTSD nach multipler Traumatisierung.
Zitat von ZettelDaß "Simone" sich aufgrund eines PTSD nicht an die Einzelheiten der Vergewaltigung erinnern kann, von der sie sagt, daß sie ihr widerfuhr, halte ich für ausgesprochen unwahrscheinlich.
Dem kann ich mich anschließen. Das Furchtnetzwerk wird nur bei wiederholter Traumatisierung relevant - kann dann aber eben doch zu massiven Gedächtnisstörungen führen. Was Seidel geschrieben hat, kann ich nicht beurteilen.
Zitat von ZettelKennen Sie, lieber Gorgasal, irgendeinen seriösen Artikel, in dem überhaupt nur "Verdrängung" nachgewiesen worden wäre?
Dass Sie wiederholt auf "Verdrängung" zurückkommen, weist für mich darauf hin, dass wir aneinander vorbeidiskutieren. Der postulierte Mechanismus ist kein freudianischer.
Zitat von ZettelDen Zusammenhang mit der Hebb'schen Regel habe ich nicht verstanden. Das ist ja nur eine Regel, nach der neuronale Netze lernen, wie die Delta Rule usw.
In der Tat. Das Modell ist, dass bei einer Traumatisierung ein Gedächtnisnetzwerk angelegt und (Hebb) verstärkt wird, das "heiße" emotionale Inhalte (Furcht bis zur Todesangst, Hilflosigkeit, Entsetzen) mit "kalten" situativen Inhalten (Tageszeit, Wetter, Datum, Umstehende) verknüpft. Bei einer folgenden neuen Traumatisierung werden ähnliche "emotionale Knoten" und andere "situative" aktiviert. Wenn sich das oft genug wiederholt, etwa unter Soldaten oder Folteropfern oder auch mehrfach missbrauchten Kindern, dann verschmelzen die emotionalen Knoten zu einem Netzwerk, das gesamthaft sehr sensibel auf Aktivierung reagiert, aber dann auch mehrere situative Knoten aktiviert, die ursprünglich vielleicht gar nicht zu einem spezifischen Erlebnis gehören. Wenn man PTSD-Opfer nach der Situation eines bestimmten Traumas befragt, also das Furchtnetzwerk des Gedächtnisses aktiviert, dann sind sie sehr schnell kognitiv in der Situation eines anderen und springen im diagnostischen Interview von einem Erlebnis zum anderen. Fragmentiertes Gedächtnis.
Dass ein solches Furchtnetzwerk nicht mal eben so durch Therapie zu löschen ist, sondern nur unterdrückt wird, darauf weisen Ergebnisse zur Rezidivierung bei PTSD hin, wenn "geheilte" PTSD-Patienten mit Stimuli konfrontiert werden, die der ursprünglichen Traumatisierung gleichen (zum Beispiel israelische Veteranen aus dem Yom Kippur-Krieg allein schon durch TV-Berichte während des Ersten Golfkriegs).
Biologisch sollten Amygdala (für die Emotionen) und Hippocampus (für die "kalten" Erinnerungen) involviert sein, und da gibt es durchaus den Befund, dass der Hippocampus bei PTSD kleiner ist (allerdings ist da Ursache und Wirkung nicht ganz geklärt).
Die Forschung zum Furchtnetzwerk bei PTSD hat nun überhaupt nichts mit "repressed memories" zu tun. Ich empfehle die Arbeiten von Foa und Kollegen. Metcalfe hat ein wenig dazu publiziert. Einen neueren Überblick zu allgemeinen kognitiven Veränderungen bei PTSD bietet McNally, R. J. (2006), relevant hierzu:
Zitat von McNallyPeople exposed to trauma, especially those who develop PTSD, are often characterized by overgeneral autobiographical memory. In one study [45], Vietnam veterans with PTSD, relative to healthy veterans, exhibited difficulty retrieving specific autobiographical memories, a deficit exacerbated by exposure to a war-related videotape.
Other studies have emerged on overgeneral memory among trauma survivors [46]. Most studies have revealed an association between overgeneral memories and reports of early childhood trauma [47], whereas others have not [48]. An overgeneral mode of retrieval might serve an emotion-regulation function by enabling distressed individuals to avoid dwelling on disturbing events from their past [49].
-- La función didáctica del historiador está en enseñarle a toda época que el mundo no comenzó con ello. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
Zitat von ZettelGisela Friedrichsen [weist] in dem Artikel auf einen wichtigen Punkt hin: Es entspricht keineswegs der Erfahrung, daß Traumaopfer sich an die Einzelheiten des traumatischen Ereignisses nicht erinnern können. Sie können das im Gegenteil in der Regel sehr genau.
... das sagt auch der Gerichtspsychiater Volker Dittmann in der Bernerzeitung.
Zitat von ZettelGisela Friedrichsen [weist] in dem Artikel auf einen wichtigen Punkt hin: Es entspricht keineswegs der Erfahrung, daß Traumaopfer sich an die Einzelheiten des traumatischen Ereignisses nicht erinnern können. Sie können das im Gegenteil in der Regel sehr genau.
... das sagt auch der Gerichtspsychiater Volker Dittmann in der Bernerzeitung.
Danke! Soweit ich es beurteilen kann, ist das the state of the art in der Psychiatrie. Nur ein paar psychologische TherapeutInnen glauben an die Story vom Blackout aufgrund eines Traumas.
(Lieber Gorgasal, das ist jetzt keine vorweggenommene Antwort auf Ihren interessanten Beitrag. Auf den kann ich aber erst später antworten, weil eben der Hund reinekommen ist und sein Recht auf Gassigehen angemahnt hat ).
Zitat von ZettelDaß "Simone" sich aufgrund eines PTSD nicht an die Einzelheiten der Vergewaltigung erinnern kann, von der sie sagt, daß sie ihr widerfuhr, halte ich für ausgesprochen unwahrscheinlich.
Dem kann ich mich anschließen. Das Furchtnetzwerk wird nur bei wiederholter Traumatisierung relevant - kann dann aber eben doch zu massiven Gedächtnisstörungen führen. Was Seidel geschrieben hat, kann ich nicht beurteilen.
Zitat von ZettelKennen Sie, lieber Gorgasal, irgendeinen seriösen Artikel, in dem überhaupt nur "Verdrängung" nachgewiesen worden wäre?
Dass Sie wiederholt auf "Verdrängung" zurückkommen, weist für mich darauf hin, dass wir aneinander vorbeidiskutieren. Der postulierte Mechanismus ist kein freudianischer.
Ja, da habe ich Sie wohl in der Tat mißverstanden. Es ging ja um diese Idee des Psychotherapeuten Seidel, daß "Simone" sich wg. Trauma nicht genau erinnern könne. Mir scheint das der Gedanke des repressed memory zu sein; aber vielleicht irre ich mich. Jedenfalls sind wir uns, was "Simone" angeht, ja offenbar einig.
Ich habe mich bisher nicht mit der Originalliteratur zum PTSD befaßt und kann deshalb zum Übrigen wenig sagen. Mir scheint nur, soweit ich informiert bin, daß Gedächtnisverlust keineswegs die Regel ist, sondern im Gegenteil flash memory usw. im Vordergrund stehen; bis hin zu zwanghaftem Erinnern an das Trauma.
Das Modell, das Sie zitieren, habe ich leider nicht so beschrieben finden können, daß ich es verstehen konnte. Es scheint ein konnektionistisches Modell zu sein, ist das richtig? Mit dem Versuch, emotionale und kognitive Prozesse in ihrer Wechselwirkung zu modellieren?
Ich bin da inzwischen a bisserl skeptisch, daß in solchen Modellen viel Erkenntnisgewinn steckt. Sicher am ehesten dann, wenn sie neuronal implementiert sind; wenn man also nicht einfach von einem Netzwerk spricht, sondern sagt, welche Hirnstrukturen denn beteiligt sind usw.
Es gab vor Jahrzehnten einmal ähnliche Idee auf behavioristischer Grundlage. Damals wurde Schizophrenie so interpretiert, daß am Anfang ein erhöhter arousal level steht (drive sagte man damals noch), durch den die Habit-Hierarchie abgeflacht wird und es dadurch zu fehlerhaften Reaktionen, zu overinclusion usw. kommt. Hat uns das beim Verstehen "der" Schizophrenie (wenn es das denn gibt) weitergebracht? Ich weiß nicht recht.
Aber wenn Sie einen Artikel verlinken können, denn man auch ohne die Zahlung von fast 40 Dollar lesen kann und der dieses Modell darlegt, dann wäre ich schon sehr interessiert.
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