Ist es einer staatlichen Einrichtung erlaubt, zu einer Frage der historischen Forschung "eine behördliche Auffassung ... zur Geltung zu bringen und als einzig legitim oder vertretbar hinzustellen"? Das BVerfG verneint das. Eine bemerkenswerte Entscheidung auch, was die Entlassung von Thilo Sarrazin angeht.
Bemerkenswert, wie der Schreiber der WELT gleich im ersten Satz offenbart, daß er zwar vielleicht schreiben, jedenfalls aber nicht lesen kann, in diesem Fall nicht einmal eine kurze Pressemitteilung:
Zitat von KellerhoffEine staatliche Einrichtung wie die Bundeszentrale für politische Bildung darf sich von fragwürdigen und falschen Äußerungen inhaltlich nicht distanzieren. Das ist jedenfalls die Ansicht der Ersten Kammer des Bundesverfassungsgerichts.
Zitat von BVerfGDie Bundeszentrale [ist] nicht gehalten, alle grundrechtlich geschützten Meinungen formal gleich zu behandeln; vielmehr kann sie insoweit auch wertende Unterscheidungen treffen... Da zu den Grundlagen ihrer eigenen Tätigkeit auch das öffentliche Vertrauen in die eigene Glaubwürdigkeit und Integrität gehört, kann es ein legitimes Interesse darstellen, sich von ihr zuzurechnenden Beiträgen, die von dem Anspruch einer ausgewogenen Informationstätigkeit auffällig abweichen, weil sie etwa extreme oder extremistische Meinungen vertreten, zu distanzieren, um so die eigene Reputation wiederherzustellen.
Wenn er dann im folgenden den Text des Anstoßes recht redundant als "Unfug ... schlicht falsch ... völlig falsch" bezeichnet, fragt man sich natürlich. Ob es sich bei dem Löwschen Aufsatz nicht etwa doch um einen Text handelt, der nicht mehr diskursiv erörtert, sondern nur noch makuliert werden kann, ist hier überprüfbar.
Der Kommentar von Herrn Prantl in der SZ wiederum geht schon mit einer boshaften Insinuation los:
Zitat von PrantlAntisemitismus-Urteil - Dr. jur. absurd: Angeblich [sic!] im Interesse der Meinungsfreiheit fällen die Karlsruher Richter ein hanebüchenes Urteil.
... was will er mit "angeblich" sagen - daß die Richter das Grundrecht der Meinungsfreiheit nur vorschöben, um ... ja, was? Nebenbei auch schon sachlich falsch: der rechtliche Anknüpfungspunkt der Begründung des Beschlusses ist nicht die Meinungsfreiheit, sondern explizit das Persönlichkeitsrecht.
Und er endet mit einer doch sehr bezeichnenden Unverschämtheit:
Zitat von PrantlDie drei Bundesverfassungsrichter, die diese Entscheidung gefällt haben, bedürfen der politischen Bildung.
Wie hat sich der geneigte SZ-Leser das vorzustellen, wenn der "engagierte Verteidiger eines liberalen und weltoffenen Rechtsstaats" (Wikipedia) Prantl die Herren Prof. Kirchhof, Prof. Eichberger und Prof. Masing politisch bildet? Mit Stacheldraht drumherum? Nein, das wäre jetzt auch wieder eine bösartige Unterstellung. Hoffentlich. Der Dr. jur. absurd allerdings war wohl doch eher als Selbstbezeichnung des Autors gemeint.
____________________________________________________ "I want my republic back!"
Da gilt wie bei der ZEIT: Die war früher ganz ordentlich (zu Zeiten von Rhiel-Heyse bzw. Dönhoff), und ist inzwischen dumpfester linker Stammtisch.
Wobei mir die Thesen von Löw (im Unterschied zu denen von Sarrazin) wirklich etwas obskur vorkommen. Aber sie sind natürlich legitimer Teil des Meinungsspektrums.
Zitat von R.A.Wobei mir die Thesen von Löw (im Unterschied zu denen von Sarrazin) wirklich etwas obskur vorkommen. Aber sie sind natürlich legitimer Teil des Meinungsspektrums.
Ja, und das ist der Punkt, lieber R.A.
Löw ist ja ein ausgewiesener Gegner des Totalitarismus in jeder Spielart. Er versucht keinen Augenblick, irgend etwas an der Nazi-Diktatur zu beschönigen. Nur erlaubt er sich eine Meinung zu einer schwierigen empirischen Frage, die von der herrschenden Meinung abweicht: Er meint, daß die Mehrheit der Deutschen keine Antisemiten gewesen seien, auch nicht unter Hitler.
Das ist gewiß keine kühnere These als diejenige Goldhagens, der einen "gesamtgesellschaftlichen deutschen Antisemitismus" behauptet.
So etwas ist naturgemäß außerordentlich schwer zu entscheiden. Schon in einem demokratischen Rechtsstaat gibt es Hindernisse, die Meinung der Mehrheit zu ermitteln, vor allem, wenn sie von der dominierenden Meinung abweicht (siehe Sarrazin).
Wie will man empirisch herausfinden, wieviel Prozent der Deutschen zwischen 1933 und 1945 Antisemiten waren, und in welchem Grad? Gab es in Deutschland 1933 prozentual mehr Antisemiten als in Frankreich, dem UK, Polen, Österreich? Nahm deren Zahl während der Nazi-Diktatur zu oder ab?
Mir scheinen für Löws Position mehr Indizien zu sprechen als für diejenige Goldhagens. Beispielsweise fand die Pogromnacht, die als "Reichskristallnacht" verharmlost wurde, keineswegs eine breite Unterstützung in der Bevölkerung. Es gab eben nicht die von den Nazis erhofften Volksmassen, die jüdische Geschäfte stürmten; das mußten die SA-Männer schon selbst tun. Es herrschte eher so etwas wie Betretenheit, wie auch Entsetzen über diesen Ausbruch der Gewalt.
Ebenso ist ja erklärungsbedürftig, warum die Nazis den Holocaust strikt geheim hielten. Wegen der Alliierten? Kaum. Diese wußten ja Bescheid. Aber offenbar hatten die Nazis Angst, daß ein Bekanntwerden dessen, was im Osten geschah, eine Mehrheit der Deutschen gegen sie aufbringen würde.
Wie auch immer - nichts in dem Text von Löw rechtfertigt auch nur entfernt das Vorgehen der Bundeszentrale. Das war schlimme Zensur.
Es ist ermutigend, daß es noch Richter in Deutschland gibt, die das dieser staatlichen Einrichtung nicht durchgehen ließen.
Zitat von ZettelEr meint, daß die Mehrheit der Deutschen keine Antisemiten gewesen seien, auch nicht unter Hitler.
Das kann ich noch gut nachvollziehen. Aber er geht ja offenbar noch weiter und spricht im Gegenteil von sympathisieren - da zweifele ich schon sehr. Und den Begriff "deutsch-jüdische Symbiose" für die Verhältnisse im Nazi-Deutschland kann ich gar nicht nachvollziehen. Aber das sind Einzeleindrücke, ich habe seinen Text nicht gelesen.
Zitat Mir scheinen für Löws Position mehr Indizien zu sprechen als für diejenige Goldhagens.
Da stimme ich zu. Goldhagen ist so abstrus, da kann man fast nur besser sein ;-)
Wobei natürlich auch hier der Vergleich zu Sarrazin interessant ist: Goldenhagen ist nun wirklich fachlich angreifbar, eigentlich wurde sein Buch von der wissenschaftlichen Fachwelt ziemlich komplett abgelehnt. Das hat aber dem Hype in den deutschen Medien keinen Abbruch getan, bei Journalisten-Mainstream gilt seine These quasi als etablierte Wahrheit.
Zitat Beispielsweise fand die Pogromnacht, die als "Reichskristallnacht" verharmlost wurde, keineswegs eine breite Unterstützung in der Bevölkerung.
Richtig - ist aber nur bedingt ein Beleg. Man kann sehr wohl eine antisemitische Grundeinstellung haben, aber trotzdem Gewalt in diesem Kontext ablehnen. Vor allem diese Form der "unordentlichen" Gewalt, außerhalb der staatlichen Ordnung - gerade für konservative Bürgerliche war das alles ziemlich inakzeptabel, selbst wenn sie keinerlei Sympathie empfanden.
Zitat Ebenso ist ja erklärungsbedürftig, warum die Nazis den Holocaust strikt geheim hielten.
Das sagt aber in erster Linie etwas über die Nazis selber aus. Deren Einschätzung, wie die Bevölkerung denken würde, ist ja nicht umbedingt richtig.
Zitat Wie auch immer - nichts in dem Text von Löw rechtfertigt auch nur entfernt das Vorgehen der Bundeszentrale. Das war schlimme Zensur. Es ist ermutigend, daß es noch Richter in Deutschland gibt, die das dieser staatlichen Einrichtung nicht durchgehen ließen.
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