Ich wundere mich immer wieder, wie wenig in Deutschland über die politischen Vorgänge in Frankreich berichtet, erst recht darüber diskutiert wird - doch immerhin unser wichtigstes Nachbarland. In der Serie "Gedanken zu Frankreich" will ich mit meinen bescheidenen Mitteln das eine oder andere schreiben, das zu berichten eigentlich Pflicht der Qualitätsmedien wäre.
In der jetzigen Folge befasse ich mich mit der bevorstehenden Regierungsumbildung. Entgegen dem Tenor in den deutschen Medien halte ich es keineswegs für ausgemacht, daß François Fillon abtreten muß.
Kleine Bemerkung zur Qualität der Qualitätsmedien: In der im Artikel verlinkten Passage aus FAZ.Net wird Fillon als "Ministerpräsident" bezeichnet.
Der letzte französische Ministerpräsident war kein geringerer als Charles de Gaulle. Er übernahm dieses Amt am 29. Mai 1958 von Pierre Pflimlin, als die IV. Republik im Todeskampf lag, ließ sich von der Nationalversammlung mit außerordentlichen Vollmachten ausstatten und bereitete im Lauf des Sommers 1958 den Übergang zur V. Republik vor.
Jener Fünften Republik, deren Regierungschef mit Bedacht nicht mehr Ministerpräsident (Président du Conseil) heißt, sondern Premierminister (Premier Ministre) - ein Minister unter anderen, wenn auch der Erste. Der Titel "Präsident" sollte dem Staatsoberhaupt, zugleich die wichtigste politische Instanz, vorbehalten bleiben.
Zitat von ZettelHeute um 10.20 Uhr wurde gemeldet, daß Sarkozy den bisherigen Premierminister François Fillon zum neuen Premierminister ernannt hat.
Inzwischen hat Jean-Louis Borloo auch bestätigt, daß er es abgelehnt hat, dem neuen Kabinett anzugehören. Damit steht ihm der Weg offen, 2012 gegen Sarkozy zu kandidieren.
Die Zusammensetzung des Kabinetts soll heute um 20.15 bekanntgegeben werden. Ich werde dann hier die interessantesten Entscheidungen kommentieren.
Zitat von ZettelInzwischen hat Jean-Louis Borloo auch bestätigt, daß er es abgelehnt hat, dem neuen Kabinett anzugehören. Damit steht ihm der Weg offen, 2012 gegen Sarkozy zu kandidieren. Die Zusammensetzung des Kabinetts soll heute um 20.15 bekanntgegeben werden. Ich werde dann hier die interessantesten Entscheidungen kommentieren.
Im wesentlichen bestätigt sich das, was in dem Artikel in ZR zu lesen war:
* Außenministerin wird Michèle Alliot-Marie. Damit endet die für Frankreich sehr untypische Außenpolitik unter Kouchner, Partei für die Durchsetzung der Menschenrechte und gegen Armut zu ergreifen. Alliot-Marie hat sich in allen drei bisherigen Ministerien als eine knallharte Politikerin erwiesen. Frankreich wird jetzt vermutlich wieder ausschließlich unter dem Gesichtspunkt seiner eigenen Machtinteressen Außenpolitik machen.
* Rama Yade verliert ihre Position als Staatssekreärin für Sport. Wie vorhergesagt, tritt die Französin nordafrikanischer Abstammung Jeannette Bougrab ins Kabinett ein, und zwar als Jugendministerin. Sie wird also für die Probleme mit Jugendlichen in der banlieue zuständig sein.
* Wie auch erwartet (aber in dem Artikel nicht erwähnt) worden war, wird der altgediente Spitzenpolitiker Alain Juppé neuer Verteidigungsminister. Er hatte sich, nachdem er in seinem Wahlkreis in Bordeaux nicht wieder in die Nationalversammlung gewählt worden war, vorübergehend aus der nationalen Politik zurückgezogen. Auch er ist wie Borloo ein ungewöhnlich fähiger und hochintelligenter Mann, der ebenfalls 2012 für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren könnte; Premierminister ist er schon gewesen. Möglicherweise will ihn Sarkozy ins Kabinett einbinden, um eine Kandidatur zu verhindern.
Ich habe unlaengst in "Les Echos" ein Interview mit Borloo gelesen. Was er da zur Wirtschaftspolitik gesagt hat, waere vielleicht nach deutschen Massstaeben sozialdemokratisch (von vor ein paar Jahren). Nach den Massstaeben des "Sechsecks" sehe ich in ihm wirtschaftspolitisch allerdings einen typischen Gaullisten mit diesem unerschuetterlichen Grundvertrauen in die Rolle des Staates bei der Entwicklung und Steuerung der Wirtschaft. Ueberhaupt scheint es mir doch so zu sein, dass "Liberale" sich in Frankreich hauptsaechlich ueber gesellschaftspolitische Fragen profilieren koennen, nicht so sehr aber ueber wirtschaftliche, bzw. dass einem Eintreten fuer wirtschaftsliberale Positionen noch groessere Skepsis entgegengebracht wird als in Allemanien.
Meiner unbedarften Meinung nach war es im Uebrigen ein Fehler des Praesidenten, den remaniement der Regierung schon vor Monaten mit dem Ergebnis anzukuendigen, dass einzelne Regierungs- und Parteigroessen wochenlang einen nicht unerheblichen Teil ihrer Energien darauf verwendet haben, sich in Raenkespielen gegenueber ihren potenziellen Rivalen zu ueben.
Das Bild einer geschlossenen Regierung hat darunter in meinen Augen beispielsweise zum Teil gelitten. Ausserdem hat es etwas Aufmerksamkeit von den weiterhin offensichtlichen Zwistigkeiten im PS abgelenkt. Haette man mal ueber den Rhein geschaut. Die Union hat die Wahlen unter anderem auch gewonnen, indem sie der SPD uneingeschraenktes Rampenlicht bei der Selbstdemontage gewaehrt hat.
Zitat von FTT_2.0Ich habe unlaengst in "Les Echos" ein Interview mit Borloo gelesen. Was er da zur Wirtschaftspolitik gesagt hat, waere vielleicht nach deutschen Massstaeben sozialdemokratisch (von vor ein paar Jahren). Nach den Massstaeben des "Sechsecks" sehe ich in ihm wirtschaftspolitisch allerdings einen typischen Gaullisten mit diesem unerschuetterlichen Grundvertrauen in die Rolle des Staates bei der Entwicklung und Steuerung der Wirtschaft.
Also Gaullisten würde ich, lieber FTT, Jean-Louis Borloo nicht unbedingt sehen (es heißt, die Gaullisten aus dem alten RPR, jetzt Teil der UMP, hätten ihn als Premierminister verhindert). Ansonsten gebe ich Ihnen absolut Recht: In Frankreich gibt es nun einmal keine Tradition des Liberalismus; es hat sie nie gegeben.
Ich habe Borloo einen Liberalen genannt, weil er auf Listen der UDF und der Centristes von Simone Veil kandidiert hat. Die UDF ist im deutschen oder gar angelsächsischen Sinn auch nicht liberal; am ehesten waren das noch die Républicains Indépendents von Valéry Giscard d'Estaing, die in der UDF aufgingen.
Der Mangel an Liberalismus hat, soweit ich das beurteilen kann, viel mit der cartesianischen Rationalität zu tun. Die Lenkung des Staats ist die Aufgabe einer Elite, die das mit Rationalität absolviert. Ob man als Énarque nun Sozialist oder Gaullist ist, macht im Grunde kaum einen Unterschied: Man hat dasselbe Denken eingeimpft bekommen.
Borloo hat zwar keine Grande École besucht, aber mit seinem mit vier Abschlüssen gezierten Studium ist auch er der brillante Intellektuelle in der Politik. Wir haben in Deutschland nichts dieser Elite Vergleichbares. Er denkt wie diese ganze Elite.
Der eigentliche Außenseiter war Bernard Kouchner. Ein Mann mit Herz, ein Weltverbesserer - darüber kann sich die Elite von Delanoë bis Juppé nur amüsieren. In Le Monde war gestern ein Artikel zu lesen, der Kouchners Scheitern trefflich beschrieb: Die Machtpolitik wurde an ihm vorbei vom Elysée gemacht; seine Diplomaten verachteten ihn.
Zitat von FTT_2.0Ueberhaupt scheint es mir doch so zu sein, dass "Liberale" sich in Frankreich hauptsaechlich ueber gesellschaftspolitische Fragen profilieren koennen, nicht so sehr aber ueber wirtschaftliche, bzw. dass einem Eintreten fuer wirtschaftsliberale Positionen noch groessere Skepsis entgegengebracht wird als in Allemanien.
Exakt. Sarkozy wollte beim Amtsantritt gewisse Liberalisierungen ("travailler plus pour gagner plus"; mehr arbeiten, um mehr zu verdienen) und hat bald gemerkt, daß seine Franzosen sich gegen eine solche Zumutung mit Krallen und Zähnen wehren.
Zitat von FTT_2.0Meiner unbedarften Meinung nach war es im Uebrigen ein Fehler des Praesidenten, den remaniement der Regierung schon vor Monaten mit dem Ergebnis anzukuendigen, dass einzelne Regierungs- und Parteigroessen wochenlang einen nicht unerheblichen Teil ihrer Energien darauf verwendet haben, sich in Raenkespielen gegenueber ihren potenziellen Rivalen zu ueben.
Vielleicht hat Sarkozy genau das gewollt? Er neigt dazu, andere zu demütigen. Fillon hat das oft erlebt, auch jetzt wieder (bisher war es üblich, daß ein Premier, der im Amt bleibt, noch am Tag der Demission erneut ernannt wird; Sarkozy ließ Fillon genüßlich zappeln).
Auch Borloo hat Sarkozy vermutlich gezielt aus der Regierung geekelt, indem er erst hat streuen lassen, er sei der Neue, und ihn dann fallen ließ.
Mein Bild von Sarkozy hat drei Phasen durchlaufen. Anfangs hielt ich wenig von diesem narzißtischen, hyperaktiven Louis-de-Funés-Typen; mein Favorit war Bayrou. Dann war ich eine Zeitlang beeindruckt von dem Tempo und der Tatkraft, mit der Sarkozy loslegte. Aber das war ein Strohfeuer. Bald interessierten sich die Franzosen mehr für sein extravagantes Privatleben als für seine Politik. Ich sehe ihn jetzt als einen narzißtischen Egozentriker, nicht unähnlich Obama.
Zitat von Zettel Also Gaullisten würde ich, lieber FTT, Jean-Louis Borloo nicht unbedingt sehen (es heißt, die Gaullisten aus dem alten RPR, jetzt Teil der UMP, hätten ihn als Premierminister verhindert). Ansonsten gebe ich Ihnen absolut Recht: In Frankreich gibt es nun einmal keine Tradition des Liberalismus; es hat sie nie gegeben.
Beim Verfassen meines Posts habe ich zwischen "typischer Gaullist" und "typischer Vertreter der französischen Elite" geschwankt. Ich habe "Gaullist" gewählt, weil an diesem Punkt meiner Meinung nach deutsche Qualitätsmedien (unwissentlich oder unwillentlich) bisweilen vielmehr die Realität verzerren, indem sie zu unreflektiert die UMP als französisches Pendant der deutschen Unionsparteien, der britischen bzw. spanischen Konservativen etc. darstellt. Dabei sind die Gaullisten, die ja das Gros der UMP ausmachen, wirtschaftlich traditionell weniger liberal als die anderen genannten Parteien.
Zitat von ZettelIch habe Borloo einen Liberalen genannt, weil er auf Listen der UDF und der Centristes von Simone Veil kandidiert hat. Die UDF ist im deutschen oder gar angelsächsischen Sinn auch nicht liberal; am ehesten waren das noch die Républicains Indépendents von Valéry Giscard d'Estaing, die in der UDF aufgingen.
Einer der letzten liberalen Vertreter mit einer gewissen Wichtigkeit in diesem Kontext war wohl Alain Madelin. Sein politischer Werdegang zeigt wohl auch drastisch die Bedeutung(slosigkeit) wirtschaftsliberaler Positionen in Frankreich.
Zitat von ZettelDer Mangel an Liberalismus hat, soweit ich das beurteilen kann, viel mit der cartesianischen Rationalität zu tun. Die Lenkung des Staats ist die Aufgabe einer Elite, die das mit Rationalität absolviert. Ob man als Énarque nun Sozialist oder Gaullist ist, macht im Grunde kaum einen Unterschied: Man hat dasselbe Denken eingeimpft bekommen. Borloo hat zwar keine Grande École besucht, aber mit seinem mit vier Abschlüssen gezierten Studium ist auch er der brillante Intellektuelle in der Politik. Wir haben in Deutschland nichts dieser Elite Vergleichbares. Er denkt wie diese ganze Elite.
Vollkommen d'accord.
Zitat von ZettelMein Bild von Sarkozy hat drei Phasen durchlaufen. Anfangs hielt ich wenig von diesem narzißtischen, hyperaktiven Louis-de-Funés-Typen; mein Favorit war Bayrou. Dann war ich eine Zeitlang beeindruckt von dem Tempo und der Tatkraft, mit der Sarkozy loslegte. Aber das war ein Strohfeuer. Bald interessierten sich die Franzosen mehr für sein extravagantes Privatleben als für seine Politik. Ich sehe ihn jetzt als einen narzißtischen Egozentriker, nicht unähnlich Obama. Herzlich, Zettel
Bei mir war es so ähnlich, was Sarkozy angeht. Von Bayrou habe ich indes nur sehr kurz etwas gehalten. Im Moment wüsste ich nicht, wer mein Favorit in zwei Jahren wäre. Vielleicht würde ich ja dann aus vergangenem Lokalpatriotismus den Briefträger aus Nanterre wählen.
Zitat von FTT_2.0 Vielleicht würde ich ja dann aus vergangenem Lokalpatriotismus den Briefträger aus Nanterre wählen.
Hehe!
Übrigens ist das mit dem Briefträger natürlich pure Propaganda. Der Mann stammt aus einem Akademikerhaushalt (Vater Lehrer, Mutter Psychologin) und hat ein abgeschlossenes Hochschulstudium in Geschichte.
Ansonsten Zustimmung. An Madelin habe ich gar nicht mehr gedacht, aber Sie haben Recht.
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