Hier ist nach längerer Zeit wieder einmal eine Anmerkung zur Sprache. Wie oft bei sprachlichen Themen geht es nicht nur um Linguistik, sondern auch um Gesellschaft und Politik.
Vielen Dank, lieber Zettel, für den Artikel und die Verlinkung. Da ich mich als Deutschlehrer hier Anmerkungen:
a) Keine Frage, "Kiezdeutsch" (den Begriff halte ich nicht für glücklich, da "Kiez" als "Arbeiterviertel in Berlin" [so würde ich "Kiez" übersetzen] impliziert, dass es sich um einen Regiolekt handelt; es ist ein Soziolekt) kann Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung sein, keine Frage.
b) Allerdings würde ich (ich vermute, das sehen Sie genauso) zwischen dem Schwäbischen (als einem Dialekt) und dem "Kiezdeutschen" (als einer defizitären Sprachform) einen Unterschied machen. Das meine ich gar nicht normativ, sondern deskriptiv; ein Dialekt ist historisch gewachsen, ein komplexes System mit differenzierter Syntax, Morphologie und Phonemsystem, klar unterscheidbar von anderen Dialekten udn der Standardsprache; "Kiezdeutsch" ist restringiert, mit Einzelelementen aus Dialekt und Standarddeutsch, evtl. doch in Richtung von Kreolisierung gehend.
c) Die Idee, "Kiezdeutsch" im Deutschunterricht aufzugreifen, ist nichts Neues. Es dürfte seit den 70ern sein, dass sich in Deutschbüchern (Teil-)Kapitel, Aufgaben etc. dazu finden, nur nennt man das, was hier "Kiezdeutsch" genannt wird, bislang "Jugendsprache". Es geht aber letztlich um dieselben Phänomene, allerdings stark mit dem Fokus auf dem Wortschatz. Das Problem ist allerdings, dass es nicht *die* Jugendsprache gibt (ich bleibe zunächst bei J.), sondern sie ist regional höchst unterschiedlich und einem schnellen Wandel unterworfen. Folge: Die Schüler lachen über das, was Deutschbücher in einem sog. "schülerorientierten" Einstieg in Grammatikthemen oder gar in eigenen Kapiteln bieten - denn SO sprechen sie gerade nicht, haben sie auch nie gesprochen und kommen sich tendenziell veralbert vor. Wer soll denn so sprechen, fragen sie, oder sie verstehen gar die Beispiele gar nicht, weil es nicht ihre Sprache ist. Es kommt hinzu, dass - am Gymnasium - die Schüler in der Regel a) eine "Jugensprache" nur sehr eingeschränkt benutzen und b) sich durchaus über Richtiges und Falsches im Klaren sind, wenigstens in den höheren Klassen.
d) Die Idee, "Kiezdeutsch" zum Unterrichtsthema zu machen, ist also eine typische Idee von Deutsch-Didaktikern - an der Uni fern der Schule erdacht und in der Praxis kaum zu gebrauchen. Das Problem des fehlenden oder falschen Materials habe ich genannt. Nun denkt man konkreten Beispiel ja vielleicht daran, die tatsächliche Sprechweise der Schüler zum Gegenstand zu machen, d.h. von konkreten Beispielen der Schüler auszugehen. Ein Problem ist, dass sich Schüler hier nicht unbedingt gegen dem Lehrer entsprechend öffnen; sie wollen gar nicht unbedingt offenlegen, wie sie unter sich sprechen. Gut. Vor allem aber, und deswegen ist der Ansatz für den Unterricht im Allgemeinen nicht brauchbar: Mit welcher Schülergruppe sollen denn solche sprachvergleichenden Untersuchungen gemacht werden? Ich kann wieder nur vom Gymnasium ausgehen: Bis Klasse 8 bin ich damit beschäftigt, die Grundlagen und Regeln des Standarddeutschen zu erarbeiten und zu festigen. Kl. 5: Wortarten, Deklination, Konjugation, Satzglieder Subjekt, Objekte, Prädikat. Kl. 6: Tempusgebrauch; adverbiale Bestimmungen und Adverbialsätze; Attribute. Kl. 7: Nebensatztypen; Aktiv vs. Passiv; Kl. 8: Konjunktiv und sein Gebrauch; Modalität und Modalverben.
Ein nicht unerheblicher Teil der Schüler hat schon mehr oder weniger gravierende Probleme, diese Grundlagen des Standarddeutschen nicht nur korrekt anzuwenden, sondern auch noch beschreiben zu können. Mit "Funktionsverbgefügen" (die ausdrücklich als Fragestellung für den Unterricht genannt werden) oder Kopulaverben möchte ich den Schülern nun wirklich nicht kommen; das sind Begriffe und Fragestellungen für ein Proseminar - oder aber, wenn es denn schulisch sein soll, evtl. am Rande beim Oberstufenthema "Sprachwandel", im Rahmen einer Facharbeit (die meisten "Fragestellungen" für den Unterricht wären als Facharbeitsthemen für die Jgst. 12 denkbar) oder evtl. mit besonders interessierten Schülern im Rahmen einer Projektwoche. Die genannten Beispiele sind wohl auch Projektwochenbeispiele.
Also: Die "Fragestellungen" für den Unterricht sind am grünen Tisch erdacht, nicht unterrichtspraktisch verwendbar am Gymnasium (Ausnahmen siehe oben), und an andere SChulformen will ich gar nicht denken. Man hat ja auch nicht beliebig viel Zeit; ein Thema muss in drei, vier Wochen bearbeitet sein. Da gebe ich dann der sicheren Beherrschung des Standarddeutschen den Vorzug, was mal einen Exkurs, einige Beispiele etc. aus dem "Kiezdeutschen" ja nicht ausschließt.
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