In mehreren Artikeln werde ich die Analysen von Stratfor zu den Situationen in den arabischen Ländern und im Iran zusammenfassen; in diesem ersten Teil geht es um den Maghreb und Ägypten.
Zitat von lukasIn Libyen geht es inzwischen ebenfalls rund, und auch in Mauretanien und im Senegal scheint sich etwas zu tun. Geht Stratfor darauf ein?
Auf Libyen ja, damit befasse ich mich im nächsten Teil. Die anderen nicht; das Dossier beschränkt sich auf den arabischen Raum plus den Iran.
als kleine Erganzung. Gestern lief auf BBC World-Service ein Feature in dem einer der Organistoren der Demonstrationen von folgender Begebenheit erzählte. Er wurde verhaftet und der Verhörende fragte nicht etwa nach Strukturen und Plänen der Oppositionellen, sondern wie man die Situation lösen könnte. Nur durch Mubaraks Rücktritt war die Antwort. Tage nach dem Verhör, das wohl insgesamt eher ungewöhnlich war, erhielt er von dem gleichen Mann den Hinweis nun sei der richtige Zeitpunkt um den Druck weiter zu erhöhen. Kurze Zeit später trat Mubarak zurück. Der Beitrag bestärkt Stratfors Zweifel über die Quelle des "Machtwechsels"
Zumindest Mauretanien gehört aber sicher ebenfalls zum arabischen Raum. Dort hat sich ein wohlhabender Geschäftsmann aus Protest gegen die Regierung angezündet. Es hat wohl Demonstrationen gegeben (siehe auch hier) und ein Attentat von al-Qaida auf den Präsidenten wurde durch die Armee vereitelt. Oppositionspolitiker haben zu Großdemonstrationen nach dem nächsten Freitagsgebet aufgerufen, aber ich kann mich jetzt nicht noch durch mehr arabische Presseartikel quälen, um herauszufinden, was dort eigentlich los ist, die deutsche Presse interessiert sich für dieses Land leider noch weniger als die französische. Da die Islamisten der Qaida im islamischen Maghreb von Mauretanien und Mali aus zu operieren scheinen, sind diese Länder für die weitere Entwicklung der Region von großer Bedeutung.
In diesem zweiten Teil befasse ich mich nur mit zwei Staaten - Jordanien und Bahrain -, weil ich das Material von Stratfor mehr als im ersten Teil durch weitere Informationen und eigene Bewertungen ergänzt habe.
Da dieser Thread bisher erst wenige Beiträge enthält, habe ich für Teil 2 keinen neuen Thread eröffnet, sondern diesen umbenannt.
ich bin ein bisschen irritiert, dass Strafor bei Jordanien überhaupt nicht darauf eingeht, dass bis zu 80 % der Bevölkerung - die Zahlenangaben reichen von 50 % - 80 % - palästinensische Araber sind, die allerdings trotz ihrer Anzahl in weiten Teilen noch in Flüchtlingslagern leben und auch darüber hinaus unterpreviligiert sind. Die Situation der anderen beiden Gruppen, der Beduinen sowie Tscherkessen, stellt sich ganz anders dar. Dass die Palästinenser mit den Islamisten sei es in Gaza, Ägypten, Libanon etc. oder auch im eigenen Lande sympathisieren könnte auch Folgen für das jordanische Königshaus haben.
Diese hat sich zumindest schon einmal in 2009 - ob das noch andauert weiß ich nicht- einiger Palästinenser entledigt, indem es tausendfach deren Staatsbürgerschaften entzog:
Zitat von Stefanieich bin ein bisschen irritiert, dass Strafor bei Jordanien überhaupt nicht darauf eingeht, dass bis zu 80 % der Bevölkerung - die Zahlenangaben reichen von 50 % - 80 % - palästinensische Araber sind, die allerdings trotz ihrer Anzahl in weiten Teilen noch in Flüchtlingslagern leben und auch darüber hinaus unterpreviligiert sind. Die Situation der anderen beiden Gruppen, der Beduinen sowie Tscherkessen, stellt sich ganz anders dar. Dass die Palästinenser mit den Islamisten sei es in Gaza, Ägypten, Libanon etc. oder auch im eigenen Lande sympathisieren könnte auch Folgen für das jordanische Königshaus haben.
Ich recherchiere ja immer a bisserl für meine Artikel, liebe Stefanie, und für den jetzigen habe ich, wie eingangs angegeben, nicht nur Material von Stratfor verwendet.
Zitat The Jordan National Census for the year 2004 was released on October 1 of the same year, According to the census, Jordan had a population of 5,100,981. The census estimated that there are another 190,000 who were not counted. (...) Jordanian citizens made up 93% of the population (4,750,463), non-Jordanian citizens made up 7% (349,933). However, it is estimated that most of those who did not turn in their forms were immigrants from neighboring countries (...)
In addition, there are sizable immigrant communities from Egypt, Syria and Lebanon residing in Jordan. Of the non-Arab population which comprises 2% to 5% of Jordan's population, most are Circassians, Chechens, Armenians, Turkmans, and Romanis, all of which have maintained separate ethnic identities, but have integrated into mainstream Jordanian culture.] Since the Iraq War many Christians (Assyrians/Chaldeans) from Iraq have settled permanently or temporarily in Jordan.
During the years 2004–2007, Jordan saw a rapid increase in its population due to the heavy migration of Iraqi refugees, an independent census carried in 2007, estimated that there are 700,000 Iraqis residing in Jordan, other estimates put them as high as one million Iraqis. Estimates put the population of Jordan slightly over 6,300,000 as of the year 2009 (increasing from 5,100,000 in 2004). UNRWA indicates that as many as 1,951,603 persons are registered as Palestinian refugees in 2008 mostly as Jordanian citizens.
Also rund zwei Millionen von sechs Millionen Einwohner bezeichnet die für palästinensische Flüchtlinge zuständige UN-Organisation als palästinensische Flüchtlinge, 31,5 Prozent, nicht 50 bis 80 Prozent.
Davon sind die meisten aber jordanische Staatsbürger. Tscherkessen spielen demographisch keine Rolle. Die Mehrzahl der Jordanier sind auch keine Beduinen, sondern leben in der Millionenstadt Amman oder einer der anderen Großstädte. Auch das hatte ich mir zu dem Artikel angesehen; die Wikipedia bietet eine Liste der jordanischen Städte. Von den sechs Millionen Jordaniern leben danach rund vier Millionen in den beiden Großstädten Amman und der Industriestadt Zarqa! (Die Angaben für Zarqa schwanken allerdings; andere nennen nur eine Bevölkerung von einer halben Million).
Also nicht nur sind nicht 50 - 80 Prozent der Jordanier palästinensische Araber, sondern es kann nach diesen Daten auch nicht sein, daß diese in weiten Teilen noch in Flüchtlingslagern leben.
Von Flüchtlingslagern ist weder in dem zitierten Artikel noch in dem Hauptartikel über die Demographie Jordaniens die Rede; dort heißt es vielmehr: " About 70% of Jordan's population is urban; less than 6% of the rural population is nomadic or semi-nomadic". Allerdings stammt die städtische Bevölkerung überwiegend von Beduinen ab.
Das, liebe Stefanie, sind die Zahlen, die ich mir in der vergangenen Nacht angesehen hatte, als ich den Artikel schrieb (sie sind in diesem dann nicht aufgetaucht, aber ich lese zum Hintergrund ja a bisserl mehr). Vielleicht stimmen sie aber nicht. Vielleicht können wir das klären, wenn Sie die Quellen für Ihre Zahlen nennen?
Herzlich, Zettel
PS: Das, was Pollak anspricht, ist ein anderes Thema. Ich habe das damals gelesen; kann sein, daß ich sogar einmal darüber geschrieben habe. Diese Ausbürgerungen sind in der Tat ein Problem.
Zitat von ZettelAlso nicht nur sind nicht 50 - 80 Prozent der Jordanier palästinensische Araber, sondern es kann nach diesen Daten auch nicht sein, daß diese in weiten Teilen noch in Flüchtlingslagern leben.
Über Jordanien weiß ich sehr wenig. Aber die "Flüchtlingslager" der Palis sind ja schon lange keine Zeltlager mehr, sondern im Prinzip ganz normale Stadtviertel mit festen Häusern und allen üblichen Einrichtungen. Es ist daher davon auszugehen, daß ein guter Teil der als städtische Bevölkerung gezählten Jordanier gleichzeitig auch bei "Flüchtlinge" registriert ist.
Zitat von ZettelAlso nicht nur sind nicht 50 - 80 Prozent der Jordanier palästinensische Araber, sondern es kann nach diesen Daten auch nicht sein, daß diese in weiten Teilen noch in Flüchtlingslagern leben.
Über Jordanien weiß ich sehr wenig. Aber die "Flüchtlingslager" der Palis sind ja schon lange keine Zeltlager mehr, sondern im Prinzip ganz normale Stadtviertel mit festen Häusern und allen üblichen Einrichtungen. Es ist daher davon auszugehen, daß ein guter Teil der als städtische Bevölkerung gezählten Jordanier gleichzeitig auch bei "Flüchtlinge" registriert ist.
Das vermute ich auch, lieber R.A.
Dieser Begriff der "Flüchtlinge" ist hochgradig politisch. Wenn man alle Nachkommen dazurechnet - wieviele "Flüchtlinge" aus Polen und Tschechien würden dann wohl heute in Deutschland leben?
Ebenso irreführend ist diese Bezeichnung refugee camps; wie Sie richtig schreiben (das gilt übrigens auch für Gaza und den Libanon). Der Zweck ist natürlich, die Wunde offenzuhalten; außerdem, der zuständigen UN-Behörde UNRWA ihr Betätigungsgebiet und also ihre Finanzierung zu erhalten.
vielen Dank für die Erläuterungen. Das war auch nicht als Vorwurf an Sie oder irgendwen anderes gemeint.
Bei Wiki z.B. wird die Anzahl der Palästinenser mit:
Jordanier betrachten sich zu 99,2 % als Araber.(....) Über 50 % der arabischen Bevölkerung[5][6][7][8] stammen von den etwa 800.000 Palästinensern (s. Palästina) ab, die nach dem Palästinakrieg und dem Sechstagekrieg nach Jordanien geflohen sind.
Wo ich das mit den bis zu 80 % gelesen habe, weiß ich nicht mehr. War auch nicht nur eine Quelle. Aber eine bezog sich eben auf diesen Wiki-Artikel und legte dar, warum die Zahlen zu niedrig sein müssen. Ich werde nächstes Wochenende mal recherchieren, woher ich habe und gucken, wie seriös das war.
"Tscherkessen spielen demographisch keine Rolle. " Das ist wohl richtig, da drückte ich mich unklar aus, weil ich meinte, dass die wohl mit den Beduinen und deren Nachfahren im Gegensatz den Palästinensern Einfluss haben. Da muss ich aber auch noch mal gucken, wo ich das her habe.
"daß diese in weiten Teilen noch in Flüchtlingslagern leben."
Auch hierzu muss ich noch einmal recherchieren. Da es den Palästinensern in Jordanien im Vergleich zu den anderen arabischen Nachbarländern sehr gut geht, stolperte ich sehr, als ich mal über Zahlen stieß, wie viele noch in Flüchtlingslagern leben. Es kann sehr gut sein, dass dies in weiten Teilen nicht stimmt und nur viele sind und ich mir falsch merkte. Auch hier gucke ich nächstes Wochenende noch einmal.
(Nachtrag: @RA
Das dies Wohnsiedlungen sind, weiß ich. Ich kenne auch solche "Lager" aus eigenen Anschauung an anderen Orten. Der Begriff Lager ist in der Tat irreführend, werden sie doch aber überall so genannt, so dass ich es aufgriff. Daher danke für die Klarstellung. Auch ist der Flüchtlingsstatus vererblich bei den Palästinensern und zwar als einziger Flüchtlingsgruppe.)
Da habe ich mir jetzt was eingebrockt mit meiner spontanen Reaktion. Aber Sie haben völlig recht, wenn man was schreibt, sollte man es auch belegen können und "nicht frei Schnauze" einfach losschreiben.
Ich bitte das zu entschuldigen und werde daher bei Gelegenheit noch einmal das ganze recherchieren, aber nur, weil ich mich jetzt dazu verpflichtet fühle, denn ich gehe davon aus, dass Ihre Zahlen stimmen werden. Ich wusste auch nicht, dass Sie dazu etwas recherchiert hatten und ging wie in der Einleitung von Ihnen geschrieben davon aus, dass Sie nur die Beiträge von Strafor zusammen gefasst hatten.
Zitat von Stefanievielen Dank für die Erläuterungen. Das war auch nicht als Vorwurf an Sie oder irgendwen anderes gemeint.
Hatte ich auch nicht so verstanden.
Zitat Ich wusste auch nicht, dass Sie dazu etwas recherchiert hatten und ging wie in der Einleitung von Ihnen geschrieben davon aus, dass Sie nur die Beiträge von Strafor zusammen gefasst hatten.
Dann hatte ich das vielleicht nicht deutlich genug formuliert. Ich hatte ja gerade sagen wollen, daß ich weiteres Material verwende und auch mein eigenes Urteil einbeziehe.
Vielleicht eine Anmerkung zu den, sagen wir, Produktionsbedingungen dieser neuen Rubrik:
Stratfor liefert seinen Abonnenten je nach Wunsch Material; ungeheuer viel, wenn man will (man kann das so einstellen, wenn man will, daß man hunderte von Mails mit allen denkbaren aktuellen Informationen pro Tag erhalten würde). Das ist alles zur persönlichen Information gedacht und darf auch verwertet werden, aber nicht wörtlich zitiert.
Wenn ich nun einen Artikel in dieser Rubrik schreibe, dann stütze ich mich auf dieses Material. Aber während ich damit arbeite, ergeben sich für mich Fragen. Dazu recherchiere ich dann, und die Ergebnisse fließen teils in den Artikel ein.
Heute Nacht beispielsweise war das bei der Demographie Jordaniens so. Ich hatte erst in meiner zusammenfassenden Wertung geschrieben: ein Wüstenstaat. Dann habe ich mich gefragt, ob das überhaupt stimmt, und deshalb die Demographie Jordaniens angesehen. Mit dem überraschenden Ergebnis, daß die meisten Menschen in Großstädten leben.
Ein anderes Beispiel: Als ich zu Bahrain geschrieben habe, habe ich mich gefragt, wie eigentlich die dortige Bevölkerung lebt (wiederum überraschendes Ergebnis: überwiegend in kleinen Städten und auf dem Land). Ich habe mich gefragt, wie weit das eigentlich von Saudi-Arabien entfernt liegt und wie weit es zu Persien ist. Über die Entfernung zu Persien habe ich keine genauen Angaben gefunden und mir deshalb Google Earth angesehen und die Entfernung mittels dessen Entfernungsskala geschätzt. So kamen die "rund 250 km" zustande, die jetzt in dem Artikel stehen.
Ich schreibe das a), weil ich nicht den falschen Eindruck entstehen lassen möchte, alles, was in dieser neuen Rubrik zu lesen ist, stünde so bei Stratfor; und b) um zu erklären, warum man sich auf die Fakten in ZR im allgemeinen verlassen kann. Das wird schon gründlich recherchiert; soweit ich das kann.
Eigentlich wollte ich diesen dritten Teil erst heute Abend publizieren, aber da sich in Libyen die Ereignisse zu überstürzen scheinen, habe ich das vorgezogen.
Die Berichte in Al Jazeera, CNN und BBC sind noch immer dürftig und zum Teil widersprüchlich; alle haben nicht mehr als gelegentlich ein Telefonat mit jemandem, der irgendwo in Tripoli sitzt, und ein paar verwackelten Handy-Videos aus dem Internet. Kein Vergleich mit der Rundum-Berichterstattung über Ägypten vor kurzem
Da ich den Artikel früher als vorgesehen publiziert habe, war er nicht so Korrektur gelesen, wie ich das üblicherweise mache. Ich hoffe, die meisten Fehler sind inzwischen behoben.
Zitat von ZettelDie Berichte in Al Jazeera, CNN und BBC sind noch immer dürftig und zum Teil widersprüchlich; alle haben nicht mehr als gelegentlich ein Telefonat mit jemandem, der irgendwo in Tripoli sitzt, und ein paar verwackelten Handy-Videos aus dem Internet.
Darauf weist auch Stratfor in einer Red Alert hin, die ich soeben erhalten habe. Fast alle Berichte, die heute Vormittag kursieren, seien bisher nicht bestätigt.
Daß es 61 Tote gegeben habe, meldet zum Beispiel nur Al Jazeera. Daß das Parlamentsgebäude in Flammen stehe, meldete bisher nur der in saudischem Besitz befindliche Sender Al Arabiya.
Festzustehen scheint hingegen, daß British Petrol entschlossen ist, seine Leute aus Libyen abzuziehen. Die EU ist dabei, ein Programm zur Evakuierung ihrer Bürger aus Lybien auf die Beine zu stellen.
Wer seinen Tank nicht voll hat, für den wäre es vielleicht keine schlechte Idee, heute noch einmal vollzutanken.
zu den Unruhen in Libyen ist mir ein Gedanke gekommen, der mich irgendwie nicht mehr loslässt: Ich befürchte, der Umsturz in Libyen wird der bisher am schwersten zu bewerkstelligende in der arabischen Welt - und das liegt in der Natur von Gaddafi begründet.
Für Ägyptens Mubarak etwa, stärker noch Tunesiens Ben Ali, war die eigene Bereicherung im Amt und das "schöne Leben" (notfalls im Exil) mindestens so wichtig wie der nackte politische Machterhalt. Das konnte man sehr schön sehen, als herauskam, welche Vermögen der Ben-Ali-Clan in letzter Sekunde außer Landes zu schaffen versucht hatte, als abzusehen war, dass sein Regime am Ende ist.
Aber ich schätze dagegen Gaddafi so ein, dass das sozialistisch-islamische Libyen sein Lebenswerk ist, "sein Baby" gewissermaßen. Das wird er nicht im Stich lassen und abdanken - er wird den Präsidentenpalast womöglich nur "mit den Füßen voran" verlassen. Und vorher seine Macht mit allen Klauen und Zähnen verteidigen - was schon im besonders brutalen Vorgehen auch gegen friedliche Demonstranten zu sehen ist.
Doch man weiß es im Endeffekt nie - derzeit laufen bereits Gerüchte, dass er außer Landes geflohen ist. Es würde mich zumindest wundern...
Zitat von BerndFür Ägyptens Mubarak etwa, stärker noch Tunesiens Ben Ali, war die eigene Bereicherung im Amt und das "schöne Leben" (notfalls im Exil) mindestens so wichtig wie der nackte politische Machterhalt. Das konnte man sehr schön sehen, als herauskam, welche Vermögen der Ben-Ali-Clan in letzter Sekunde außer Landes zu schaffen versucht hatte, als abzusehen war, dass sein Regime am Ende ist.
Aber ich schätze dagegen Gaddafi so ein, dass das sozialistisch-islamische Libyen sein Lebenswerk ist, "sein Baby" gewissermaßen. Das wird er nicht im Stich lassen und abdanken - er wird den Präsidentenpalast womöglich nur "mit den Füßen voran" verlassen. Und vorher seine Macht mit allen Klauen und Zähnen verteidigen - was schon im besonders brutalen Vorgehen auch gegen friedliche Demonstranten zu sehen ist.
Doch man weiß es im Endeffekt nie - derzeit laufen bereits Gerüchte, dass er außer Landes geflohen ist. Es würde mich zumindest wundern...
Typischerweise beginnen solche Sozialisten als Gläubige und enden als Zyniker. Das war bei Lenin und Stalin so, bei Mao und allen Herrschern im Sowjetreich, von Husák bis Jaruszelski. Selbst Ulbricht und Honecker waren in ihrer Jugend so etwas wie Idealisten.
Ich habe dieses Grüne Buch gelesen. Als Gaddafi es schrieb, war er Anfang dreißig. Es ist eine naive, wirre, aber offenbar ernstgemeinte Gesellschaftsutopie, in der alle frei, glücklich und solidarisch leben sollten.
Natürlich konnte es Gaddafi nicht entgehen, daß aus ihrem Paradies eine Hölle wurde. Also wurden sie Zyniker, wie sie alle.
Mich würde es deshalb gar nicht wundern, daß Gaddafi die Hölle, die er angerichtet hat, in der er aber als Oberteufel sehr komfortabel lebte, jetzt verlassen würde.
Das hätten Stalin und Mao genauso getan. Mao hat seinen Zynismus ausgelebt, indem er ein ausschweifendes Luxusleben geführt hat, jedes dekadenten römischen Kaisers der Spätantike würdig. Das hätte er mit beiseite geschafftem Geld notfalls auch an der Côte d'Azur oder in Acapulco führen können.
Natürlich könnte es in Libyen deutlich mehr Wohlstand geben, wenn die keinen Wahnsinnigen als Präsidenten hätten.
Das BIP pro Kopf hatte ich mir für den Artikel auch angesehen. Aber das ist ein Maß, das nicht unbedingt etwas mit dem Wohlstand oder der Armut der Bevölkerung zu tun hat. Der hohe Wert für Libyen ergibt sich natürlich aus dem Ölgeschäft. Offenbar kommt davon kaum etwas bei der Bevölkerung an. Ich habe zitiert, daß zwei Drittel der Bevölkerung weniger als 2 Dollar am Tag haben. Jedenfalls laut Stratfor.
ich hab mal gelesen, dass es denen materiell eigentlich nicht so schlecht geht. Die haben ja auch wirklich viel Erdöl. PPP BIP pro Einwohner halte ich schon für recht aussagekräftig. Aber auch so riskieren viele Libyer ihr Leben, um sich aus dieser Diktatur zu befreien. Siehe hier auch die Kommentare von Volkmar und Julia, die tatsächlich dort waren, auch wenn ich mit keinen der beiden übereinstimme. http://www.sarsura-syrien.de/libyen-gadd...higen-4730.html
ich hab mal gelesen, dass es denen materiell eigentlich nicht so schlecht geht.
Das CIA Factbook bestätigt Zettel:
Zitat Substantial revenues from the energy sector coupled with a small population give Libya one of the highest per capita GDPs in Africa, but little of this income flows down to the lower orders of society.
Mit der Einschätzung der Entwicklung vom Gläubigen zum Zyniker haben Sie sicher auch im Fall Gaddhafi recht, dennoch glaube ich nicht, dass er Libyen verlassen wird um irgendwo mit dem beiseite geschafften Geld einem luxuriösen Lebensabend zu verbringen. Eher befürchte ich, dass er, falls er zur Einsicht kommt, dass seine Position aussichtslos geworden ist, versuchen wird ein Programm "Nerobefehl" durchzuführen.
Gaddhafi hat zwar in den letzten Jahren versucht, gegenüber dem Ausland die Maske des geläuterten Despoten aufzusetzen, aber wer sich an seine jahrzehntelange Unterstützung des Terrorismus erinnert, fällt darauf hoffentlich nicht so leicht rein. Nach meiner Einschätzung ist der reine Machterhalt derzeit sein bei Weitem wichtigstes Ziel um seinen Söhnen eine gesicherte Herrschaftsperspektive zu hinterlassen. Er ist klug genug um einzusehen, dass er dafür seinen revolutionären Habitus zurück nehmen muss, aber gelegentlich blitzt dennoch durch, dass er weiter bestrebt ist seine wirre Ideologie in der Welt zu verbreiten - Etwa wenn er italienische Models zu einem Vortrag über den Koran einlädt. Er kann sehr gut einschätzen, wie weit er gehen und wann er Kompromisse machen kann. Seine Urteilskraft wird aber durch seinen Narzissmus getrübt. Ein Beispiel dafür war die geforderte "Aufteilung der Schweiz", ein Verhalten, das sich nicht rational erklären lässt, weil es seinem eigentlichen Ziel - internationales Ansehen zu gewinnen - komplett entgegenläuft. Doch bei ihm führte die empfunden Kränkung auf Grund der Verhaftung seines Sohne dazu, dass er sich von seiner Wut, statt von seinem Verstand, hat leiten lassen.
Gaddhafi ist demnach mitnichten der unberechenbare Irre, als der er gern gezeichnet wird. Im Gegenteil, wenn man diese Faktoren mit einbezieht, ist er meiner Meinung nach sogar ziemlich berechenbar, aber dadurch nicht weniger gefährlich, wenn er gereizt wird.
Deshalb habe ich in Libyen auch viel größere Sorgen für die zukünftigen Entwicklungen. Gaddhafi sieht nicht nur sein Lebenswerk in Gefahr sondern für ihn sind die Proteste eine persönlicher Angriff und eine Beleidigung. Im Gegensatz zu Ben Ali oder Mubarak, die vielleicht Demonstrationen brutal niedergeschlagen hätten, um sich an der Macht zu halten, wird es bei Gaddhafi auch darum gehen Rache zu üben und, was ich nicht hoffe, im schlimmsten Fall sein Volk mit in die Vernichtung zu ziehen. Ich vermute, solche Überlegungen spielen bei vielen Deserteuren und den Stämmen eine Rolle bei der Entscheidung, direkt in die Proteste einzugreifen statt den Ausgang der Revolte abzuwarten, weil sie Angst haben, in einen Racheakt Gaddhafis hineingezogen zu werden.
Zitat von LDMit der Einschätzung der Entwicklung vom Gläubigen zum Zyniker haben Sie sicher auch im Fall Gaddhafi recht, dennoch glaube ich nicht, dass er Libyen verlassen wird um irgendwo mit dem beiseite geschafften Geld einem luxuriösen Lebensabend zu verbringen. Eher befürchte ich, dass er, falls er zur Einsicht kommt, dass seine Position aussichtslos geworden ist, versuchen wird ein Programm "Nerobefehl" durchzuführen.
Ja, das könnte sein. Danke für diese gedankenreiche Analyse!
Es ist, denke ich, sehr schwer, vorherzusagen, wie jemand sich in einer solchen Situation verhalten wird. Es ist für ihn ja eine Extremsituation. Die meisten dieser Diktatoren kannten Jahrzehnte nur die vollständige Verehrung und Unterwerfung durch ihre Bürge, Plötzlich bricht diese Welt zusammen.
Es ist eine fight-or-flee-Situation. Die meisten versuchen erst zu kämpfen, und fliehen dann. Der Schah, Ben Ali, vor Jahrzehnten einmal der irakische Diktator Kassem, der in Frauenkleidern zu entkommen suchte. Er war allerdings nur kurz an der Macht gewesen.
Aber Sie haben Recht, bei Gaddafi könnte es anders sein. Wie er tickt, ist wohl schwer zu klären. Ihr Psychogramm finde ich überzeugend.
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