Vieles von dem, was in dieser Analyse von Stratfor steht, kann man anders sehen. Ich finde sie dennoch - oder vielmehr gerade deswegen - eine Diskussion wert.
Erstens, weil das die Art von Analyse ist, die in unseren Medien sträflich vernachlässigt wird: Was sind die Interessen der einzelnen Staaten? Welche Optionen haben sie?
Zweitens stimme ich auch inhaltlich Marko Papic, bei Stratfor zuständig für Europa-Analysen, in zwei Punkten zu:
* Der Expansionismus Rußlands ist das Thema der künftigen Politik in Europa. Er bestimmt schon jetzt die Entscheidungen in Osteuropa. Deutschland muß sich entscheiden, ob es die Allianz mit Rußland wirklich will, also (aus meiner Sicht) den späten Triumph Stalins.
* Zweitens muß Deutschland sich entscheiden, ob es die Vormacht Europas sein will. Dann - und nur dann - haben wir keine andere Wahl, als immer wieder mit finanziellen Hilfen einzuspringen.
Papic sieht ein Europa der Regionen eher kritisch; nicht verwunderlich für einen Amerikaner.
Aus meiner Sicht ist eine solche "Fragmentierung" begrüßenswert. Wobei Deutschland die Allianz mit Rußland vermeiden sollte (sofern das nach dem "Ausstieg" noch möglich ist), um stattdessen die Rolle einer regionalen Vormacht anzunehmen, der sich auch Staaten Osteuropas anschließen können. Dann nämlich, wenn sie überzeugt sind, daß Deutschland sie vor Rußland schützt, statt sie gemeinsam mit Rußland in die Zange zu nehmen. Und nur dann.
Die deutsche Hinwendung zu Rußland ist aus meiner Sicht eine große Dummheit. Es wird, wenn sie weiter Gestalt annimmt, den Osteuropäern gar nichts anderes übrigbleiben, als sich gemeinsame gegen diese Allianz, also auch gegen Deutschland zu stellen.
Von der deutschen "Einflußzone" bleibt dann nicht mehr viel. Zumal auch Frankreich aus einer deutschen Allianz mit Rußland die Konsequenz ziehen wird, sich von Deutschland weg zu orientieren; wie das Papic auch analysiert.
Wenn die Entwicklung so verlaufen sollte, wie sie sich jetzt abzeichnet, dann ist Deutschland in einigen Jahrzehnten als Verbündeter - und militärisch als Vasall - Rußlands in Europa ziemlich isoliert und zugleich dank des "Ausstiegs" wirtschaftlich im Niedergang.
Ich finde den Artikel ehrlich gesagt ziemlich schwach.
Das geht schon mit dem seltsamen Ansatz los, die EU 2011 mit den USA von 1783 zu vergleichen. Die Ausgangslage ist eine völlig andere, ich sehe da Null Erkenntnisgewinn. (Genausogut könnte man die EU mit der Hanse oder dem Delisch-Attischen Bund vergleichen. Was soll das bringen?).
Und auch die Analyse des Zustands der EU finde ich in vielen Punkten seltsam. Beispielsweise die seltsame Einteilung in irgendwelche Einflusszonen.
Soweit ich das sehe, gibt es in der EU - je nach Sachthema - ganz unterschiedliche Koalitionen. Ich kann nicht erkennen, dass z.B. Tschechien als angeblicher Teil der "deutschen Einflusszone" sich deutlicher an Deutschland anlehnen würde als z.B. Dänemark, das angeblich zum "nordischen Block" gehört. Dass es gewisse regionale Gemeinsamkeiten und Interessengemeinschaften bei Sachthemen gibt, ist sicher richtig. Aber diese Überlegung wird durch dieses "Block-Denken" völlig überstrapaziert.
Und ganz peinlich wird es, wenn die europäischen Gebirgszüge und das Fehlen eines vereinigenden Flusstals als Argumente aufgeführt werden, warum Europa sich politisch nicht einigen kann. Sicher: Im Mittelalter mag das mit ein Grund gewesen sein, warum Europa (anders als z.B. China) nicht zu einem "europäischen Kaiserreich" verschmolzen ist. Es gab einfach geographische Hindernisse, die dem entgegen standen. Aber so etwas darf doch nicht ernsthaft im 21. Jahrhundert als Argument angeführt werden, warum Europa sich nicht einigen kann. Nach der Logik dürfte es auch keine USA geben: die Rocky Mountains sind mindestens ein so starkes Hindernis wie die Alpen.
Und was soll man von diesem Satz halten:
Zitat Thus, while large armies have trouble physically pushing through the Continent and subverting various nations under one rule, ideas, capital, goods and services do not. This makes Europe rich (the Continent has at least the equivalent GDP of the United States, and it could be larger depending how one calculates it).
Ist etwa eine politische Einigung in Europa nur durch Waffengewalt vorstellbar? (Oder ist das etwa nur eine historische Betrachtung? Dies wird auf jeden Fall nicht deutlich, zumal auf aktuelle GDP-Zahlen Bezug genommen wird. Aber selst als rein militärhistorische Betrachtung ist das fragwürdig: Weder die Römer, noch Napoleon oder Hitler wurden durch die europäischen Flüsse oder Gebirgszüge aufgehalten.
Womit der Artikel sicher recht hat: Es müsste sich vor allem Deutschland klar werden, was es in Europa eigentlich will. Ich sehe allerdings nicht, dass eine solche Diskussion in Deutschland ernsthaft geführt würde. Das würde nämlich eine Diskussion über deutsche Interessen voraussetzen, die tiefer geht als das übliche schlichte "Europa ist gut für Deutschland". Aber deutsche Interessen zu formulieren ist in Deutschland ja nicht politisch korrekt. Daher wird Deutschland - und damit wohl auch Europa - Spielball der tagespolitischen Situationen bleiben.
Deutschland wird auf keinen Fall (offen) eine Führungsrolle übernehmen. Dazu ist es innerlich zu zerissen und pflegt das Bild des "Nie wieder". Es wird wohl immer einen, oder lieber mehrere Bündnispartner suchen, denen es sich anschließen, hinter denen es sich "verstecken" kann. Nur wird das nie hinhauen, weil D einfach wirtschaftlich (noch) zu stark ist. Damit ist es immer ein unerklärter Konkurrent der jeweiligen selbstsicheren Führungsmacht.
Für die Unterordnung unter eine Führungsmacht kommen eigentlich nur Frankreich, England und Russland infrage. England ist daran aber nicht interessiert und pflegt eher die Kooperation mit den USA, Frankreich will zu offen beherrschen und ein Deutschland klein halten, welches aber nicht klein genug ist. Da gibt es immer Konfliktpotential. Russland dagegen ist wirtschaftlich nicht zu stark, hat aber einen riesigen Rohstoffhintergrund und auch sonst ein gewichtiges Wort in der Welt mitzureden. Da kann sich Deutschland gut verstecken.
Ich halte das aber, genau wie sie, für sehr gefährlich. Viel besser wäre aus meiner Sicht die Anbindung an den angelsächsischen Block, wenn das ginge. Eine französische Führung würde mE nicht gut gehen, und eine deutsche Führungsrolle halte ich für ausgeschlossen, da dafür kein Selbstbewusstsein vorhanden ist und jede Art von geäußertem Führungsanspruch von innen und außen sofort mit einer "Nazi!-Breitseite" abgeschossen würde.
Nuja, aber an der Anpassung der deutschen Wirtschaftskraft arbeiten unsere Regenten ja fleißig.
---------------------------------------------------- Wir sind alle gemacht aus Schwächen und Fehlern; darum sei erstes Naturgesetz, dass wir uns wechselseitig unsere Dummheiten verzeihen. - Voltaire
Zitat von FlorianDas geht schon mit dem seltsamen Ansatz los, die EU 2011 mit den USA von 1783 zu vergleichen. Die Ausgangslage ist eine völlig andere, ich sehe da Null Erkenntnisgewinn. (Genausogut könnte man die EU mit der Hanse oder dem Delisch-Attischen Bund vergleichen. Was soll das bringen?).
Es macht amerikanischen Lesern die Lage Europas deutlich. Und nicht jeder Europäer ist vielleicht über diese eigenartige amerikanische Epoche zwischen 1783 und 1788 im Bilde.
Zitat von FlorianUnd auch die Analyse des Zustands der EU finde ich in vielen Punkten seltsam. Beispielsweise die seltsame Einteilung in irgendwelche Einflusszonen.
Soweit ich das sehe, gibt es in der EU - je nach Sachthema - ganz unterschiedliche Koalitionen. Ich kann nicht erkennen, dass z.B. Tschechien als angeblicher Teil der "deutschen Einflusszone" sich deutlicher an Deutschland anlehnen würde als z.B. Dänemark, das angeblich zum "nordischen Block" gehört. Dass es gewisse regionale Gemeinsamkeiten und Interessengemeinschaften bei Sachthemen gibt, ist sicher richtig. Aber diese Überlegung wird durch dieses "Block-Denken" völlig überstrapaziert.
Ich finde, lieber Florian, diesen Ansatz richtig; auch wenn man natürlich streiten kann, wer wohin gehört.
Es ist Denken in klassischen historischen Kategorien; und daran fehlt es heute vor allem in den deutschen Medien.
Regionale Allianzen hat es immer in Europa gegeben. Zur Zeit der Ost-West-Konfrontation traten sie durch den großen Gegensatz der östlichen und der westlichen Allianz in den Hintergrund. Jetzt bilden sie sich wieder.
Wir haben uns aber abgewöhnt, in diesen Kategorien zu denken. Meines Erachtens hat das viel mit der Rhetorik zu tun, die das Thema Europa beherrscht: Die einen sehen nur das Einigende; die anderen möchten am liebsten zurück zum Nationalstaat des 19. Jahrhunderts.
Zitat von FlorianWomit der Artikel sicher recht hat: Es müsste sich vor allem Deutschland klar werden, was es in Europa eigentlich will. Ich sehe allerdings nicht, dass eine solche Diskussion in Deutschland ernsthaft geführt würde. Das würde nämlich eine Diskussion über deutsche Interessen voraussetzen, die tiefer geht als das übliche schlichte "Europa ist gut für Deutschland". Aber deutsche Interessen zu formulieren ist in Deutschland ja nicht politisch korrekt. Daher wird Deutschland - und damit wohl auch Europa - Spielball der tagespolitischen Situationen bleiben.
Das fürchte ich auch. Anders als Sie, lieber Florian, glaube ich aber wie Papic, daß diese Diskussion auch eine Diskussion um Einflußzonen und Allianzen sein muß.
Wir haben ja gegenwärtig faktisch keine Außenpolitik. Schon gar nicht werden außenpolitische Fragen in der Breite öffentlich diskutiert, in der das erforderlich wäre.
Ohne daß es groß auffällt, ist Deutschland dabei, sich Rußland anzunähern. Wer schreibt darüber? In Osteuropa fürchtet man diese Zangenbewegung. Wen kümmert es in Deutschland? Frankreich und England kooperieren militärisch, und Deutschland bleibt außen vor. Na und?
Zitat von FlorianDas geht schon mit dem seltsamen Ansatz los, die EU 2011 mit den USA von 1783 zu vergleichen. Die Ausgangslage ist eine völlig andere, ich sehe da Null Erkenntnisgewinn. (Genausogut könnte man die EU mit der Hanse oder dem Delisch-Attischen Bund vergleichen. Was soll das bringen?).
Es macht amerikanischen Lesern die Lage Europas deutlich. Und nicht jeder Europäer ist vielleicht über diese eigenartige amerikanische Epoche zwischen 17783 und 1788 im Bilde.
Aber wenn der Autor schreibt, die Articles of Confederation seien an außenpolitischen Schwierigkeiten zerbrochen (und das dann mit Shays Rebellion "illustriert"), dann scheint er mir auch über die Übergangszeit von den Articles of Confederation zur Constitution nicht so ganz im Bilde zu sein.
-- Defender la civilización consiste, ante todo, en protegerla del entusiasmo del hombre. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
Zitat as fürchte ich auch. Anders als Sie, lieber Florian, glaube ich aber wie Papic, daß diese Diskussion auch eine Diskussion um Einflußzonen und Allianzen sein muß.
Ja, das ist natürlich richtig. Wir bräuchten wirklich eine ernsthafte Diskussion darüber, welche Interessen man mit Russland teilt und welche mit den USA oder mit Frankreich.
Leider scheint das in Deutschland nicht möglich zu sein. Ich war zum letzten Mal im November 2010 in den USA. Im Hotel habe ich einmal eine halbe Stunde lang "Frühstücksfernsehen" geschaut. Thema war: "Die Zukunft der NATO" (Wird die NATO noch gebrauht? Bringt den USA die NATO-Mitgliedschaft noch etwas oder schadet sie eher? Kann man für die NATO noch eine einheitliche Strategie formulieren? Sollte die NATO erweitert werden und wenn ja um welche Länder? Solche Themen). Vormittags um 9 Uhr im US-Fernsehen!
Ich habe eine vergleichbare Diskussion in Deutschland noch nie mitbekommen. Noch nicht einmal in gehobenen Zeitungen. Wenn überhaupt, wird da Außenpolitik moralisch behandelt ("die NATO greift völkerrechtswidrig in Lybien ein", so was in der Art). Aber praktisch nie die Frage disktiert, was deutsche Interessen sind und mit welchem Bündnis man diese befördern könnte.
Es gab mal eine Zeitlang den "Kosmoblog", der das gemacht hat. Auch Zettels Raum hat Ansätze in diese Richtung. Aber in den klassischen Medien oder auch im Parlament gibt es diese Diskussion nicht. Sehr schade.
Ich bin allerdings der Meinung, dass der Stratfor-Artikel da viel zu platt argumetiert. Da soll es in Eropa angeblich eine "deutsche Einflusszone" geben und einen "Mittelmeer-Block". So platt stimmt das einfach nicht. In Wirklichkeit sind die Interessen der einzelnen Länder wesentlich vielschichtiger, als diese groben Kategorien suggerieren.
Und selbst wenn man so platt vorgeht wie Stratfor, stimmt die Einsortierung oft einfach nicht. Frankreich soll demnach halb in der "Mittelmeer-Einflusszone" und teilweise in der deutschen Einflusszone sein. Nun ja, wenn man schon vereinfachen will, dann ist Frankreich selbst doch der Kern einer eigenen Einflusszone.
Stratfors Analysen sind exzellent. "The Dividend States of Europe" zieht einen äußerst interessanten Vergleich zum Unabhängigkeitskrieg um zu einer Kernaufgabe eines sich bildenden Staates überzugehen; Der Verteidigung nach außen. Europa teilt ökonomische Interessen, aber keine sicherheitspolitischen. Und ganz besonders Deutschland nicht, dass meint eine Enthaltung im Sicherheitsrat bei der Libyen-Resolution ist vereinbar mit seinen Bündnisverpflichtungen in der NATO und einer Führungsrolle in der EU. Als wäre dies nicht genug, nimmt es die sicherheitspolitischen Sorgen Polens und der baltischen Staaten, Russland betreffend, nicht ernst und baut stattdessen militärische Ausbildungslager in Russland. Kann man sich noch mehr als Führungsmacht disqualifizieren? Marko Papic meint, dass die Regionalisierung Europas in sicherheitspolitischen Fragen, auf eine Vertrauenskrise zurückzuführen ist. Und mit einer solchen haben wir es auch hinsichtlich der europäischen Staatsfinanzen zu tun. Grüße Erling Plaethe
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