Als ich vor einer Woche das Interview mit Dr. Tilman Röder in der "Zeit" las, wollte ich es eigentlich gern kommentieren, denn es kam mir weltfremd vor. Aber zu der Frage, wie es denn der NTC mit der Scharia hält, hatte ich keine alternativen Informationen.
Insgesamt fällt an dem Interview mit Dr. Röder dessen schönfärberischer Grundton auf. Man hat den Eindruck, daß diese Libyen-Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht nicht sehr gut zwischen dem unterscheidet, was man sich wünscht, und der politischen Realität in Libyen.
Zitat Ein Staat, in dem die Scharia die Hauptquelle der Gesetzgebung ist, ist ein islamistischer Staat.
Lieber Zettel,
ganz so einfach ist es nicht. In Mubaraks Ägypten schrieb die Verfassung ebenfalls die Sharia als Hauptquelle der Gesetzgebung vor, aber dennoch war Ägypten kein islamistischer Staat. Nur eben - schlimm genug - ein islamischer.
Zitat Ein Staat, in dem die Scharia die Hauptquelle der Gesetzgebung ist, ist ein islamistischer Staat.
Lieber Zettel,
ganz so einfach ist es nicht. In Mubaraks Ägypten schrieb die Verfassung ebenfalls die Sharia als Hauptquelle der Gesetzgebung vor, aber dennoch war Ägypten kein islamistischer Staat. Nur eben - schlimm genug - ein islamischer.
Die Grafik ist nicht korrekt. Dort sind die Philippinen als Geltungsbereich der Scharia eingezeichnet. Es gibt zwar eine 5% muslimische Minderheit auf der südlichen Hauptinsel Mindanao, aber keine im gesamten Land verankerte Scharia, und sei es nur als Familienrecht.
Viele Grüße, Erling Plaethe Nachtrag: d.h. es gibt eine teilweise Autonomie für Mindanao was Scharia-Gerichte dort einschließt.
Zitat von ZettelInsgesamt fällt an dem Interview mit Dr. Röder dessen schönfärberischer Grundton auf. Man hat den Eindruck, daß diese Libyen-Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht nicht sehr gut zwischen dem unterscheidet, was man sich wünscht, und der politischen Realität in Libyen.
Lieber Zettel, so ganz verstehe ich Ihren Punkt nicht. In dem Interview wird der Islam ganz allgemein als „eine Quelle“ der Gesetzgebung angekündigt, womit nicht gesagt wird, welche Position er in der Normenhierarchie haben wird. Derartige Zurückhaltung bei Vorhersagen erscheint mir vernünftig, da bislang nur die Verfassungscharta vom Übergangsrat vorliegt (übrigens schon seit Anfang August allgemein bekannt). Diese sollten Sie nicht überbewerten. Die weitere Entwicklung ist noch völlig offen. Was die Islamisierung des libyschen Rechts angeht: Erstens hat Gaddhafi das Recht ab den 1970er Jahren stärker islamisiert als es vielen Libyern recht war. Islamischer wird es also sicher nicht, aber der Islam wird selbstverständlich weiter eine Rolle spielen. Zweitens wird, selbst wenn man die Scharia in einer permanenten Verfassung zur Hauptquelle der Gesetzgebung erhebt, damit nicht unbedingt die Rechtswirklichkeit grundlegend verändert. Beispiel Irak: Das Parlament keinesfalls ab 2005 begonnen, die Gesetzgebung religiös anzureichern (trotz entsprechender Verfassungsklausel). Beispiel Ägypten: hier sorgt v.a. der Oberste Verfassungsgericht für einen Berücksichtigung der Menschenrechte. lukas hat recht, dass dies nicht alles islamistische Staaten sind. Rechtsordnungen sind komplex und lassen sich nicht mit ein, zwei Zitaten erfassen. Zu einem Taliban-Staat oder mediterranen Saudi-Arabien wird Libyen sicher nicht.
Zitat von Immanuel KantLieber Zettel, so ganz verstehe ich Ihren Punkt nicht. In dem Interview wird der Islam ganz allgemein als „eine Quelle“ der Gesetzgebung angekündigt, womit nicht gesagt wird, welche Position er in der Normenhierarchie haben wird. Derartige Zurückhaltung bei Vorhersagen erscheint mir vernünftig, da bislang nur die Verfassungscharta vom Übergangsrat vorliegt (übrigens schon seit Anfang August allgemein bekannt). Diese sollten Sie nicht überbewerten. Die weitere Entwicklung ist noch völlig offen. Was die Islamisierung des libyschen Rechts angeht: Erstens hat Gaddhafi das Recht ab den 1970er Jahren stärker islamisiert als es vielen Libyern recht war. Islamischer wird es also sicher nicht, aber der Islam wird selbstverständlich weiter eine Rolle spielen. Zweitens wird, selbst wenn man die Scharia in einer permanenten Verfassung zur Hauptquelle der Gesetzgebung erhebt, damit nicht unbedingt die Rechtswirklichkeit grundlegend verändert. Beispiel Irak: Das Parlament keinesfalls ab 2005 begonnen, die Gesetzgebung religiös anzureichern (trotz entsprechender Verfassungsklausel). Beispiel Ägypten: hier sorgt v.a. der Oberste Verfassungsgericht für einen Berücksichtigung der Menschenrechte. lukas hat recht, dass dies nicht alles islamistische Staaten sind. Rechtsordnungen sind komplex und lassen sich nicht mit ein, zwei Zitaten erfassen. Zu einem Taliban-Staat oder mediterranen Saudi-Arabien wird Libyen sicher nicht.
Ja, in Ägypten wird die Auslegung der Menschenrechte mit der "Sharia" in Einklang gebracht: Religionsfreiheit umfasst zum Beispiel nicht das Recht aus dem Islam aus zu treten. Stattdessen habe man durch sein Bekenntnis zum Islam seine Religionsfreiheit schon ausgeübt. Religionsfreiheit ist hier nur das Recht sich zur sogenannten "wahren Religion" zu bekennen (oder es seien zu lassen, aber nur wenn man vorher noch nie Muslim war). Ein Recht den Islam abzulegen ergibt sich daraus nicht.
Zitat von Immanuel KantLieber Zettel, so ganz verstehe ich Ihren Punkt nicht. In dem Interview wird der Islam ganz allgemein als „eine Quelle“ der Gesetzgebung angekündigt, womit nicht gesagt wird, welche Position er in der Normenhierarchie haben wird. Derartige Zurückhaltung bei Vorhersagen erscheint mir vernünftig, da bislang nur die Verfassungscharta vom Übergangsrat vorliegt (übrigens schon seit Anfang August allgemein bekannt).
Die Aussage von Dr. Röder, die ich zitiert habe, lautete:
Zitat Der Islam wird eine Quelle der Gesetzgebung sein, aber eine Islamisierung des Justizwesens muss man nicht befürchten.
In der Verfassungserklärung heißt es:
Zitat Libya is a democratic, independent state with Tripoli its capital, Islam its religion, sharia, Islamic law as the main source of legislation and Arabic as its official language.
Mir scheinen diese Aussagen schon im Widerspruch zueinander zu stehen. Wie soll denn die Scharia als die Hauptquelle der Gesetzgebung praktiziert werden, wenn nicht durch eine islamisierte Justiz?
Zitat von Immanuel Kant Die weitere Entwicklung ist noch völlig offen.
Das stimmt leider. Soweit die Kräfteverhältnisse im neuen Libyen bisher sichtbar sind, kann man davon ausgehen, daß der teils aus bürgerlichen Liberalen, teils aus Überläufern des Gaddafi-Regimes gebildete NTC säkularer und aufgeklärter ist als die politischen Kräfte, die auf ihn folgen werden. Selbst im für einen arabischen Staat ungewöhnlich westlich orientierten Tunesien wird mit einem Sieg der Islamisten bei den bevorstehenden Wahlen gerechnet.
Zitat von Immanuel KantWas die Islamisierung des libyschen Rechts angeht: Erstens hat Gaddhafi das Recht ab den 1970er Jahren stärker islamisiert als es vielen Libyern recht war.
Hm, woher kennen Sie deren Meinung?
Richtig ist, daß die Gaddafi-Variante des Arabischen Sozialismus gegenüber dem Ba'ath-Sozialismus, dem an der UdSSR orientierten Sozialismus in Algerien und Tunesien, dem vom kommunistischen Aden übernommenem Sozialismus im vereinten Jemen und auch dem Nasserismus die Besonderheit aufwies, nie islamfeindlich gewesen zu sein. Das Grüne Buch - übrigens eine sehr lesenswerte Lektüre - war ja der Versuch, Marx und Mohammed zu vereinen und einen islamischen Sozialismus zu schaffen.
Zitat von Immanuel KantIslamischer wird es also sicher nicht
Diese Prognose, lieber Immanuel Kant, halte ich für außerordentlich kühn. In der Cyrenaika gab es schon vor dem Beginn des jetzigen Aufstands eine starke islamistische Bewegung. Welche dominierenden Kräfte aus freien Wahlen - sollte es sie denn geben - hervorgehen werden, weiß niemand. Wenn schon in einem Land wie Tunesien ein Sieg der Islamisten erwartet wird - wo sollen denn in Libyen bürgerlich-liberale oder andere nicht-islamistische politische Kräfte sein? Ich habe bisher von keinen erfahren, obwohl ich die Entwicklung einigermaßen sorgfältig verfolge.
Zitat von Immanuel KantZweitens wird, selbst wenn man die Scharia in einer permanenten Verfassung zur Hauptquelle der Gesetzgebung erhebt, damit nicht unbedingt die Rechtswirklichkeit grundlegend verändert. Beispiel Irak: Das Parlament keinesfalls ab 2005 begonnen, die Gesetzgebung religiös anzureichern (trotz entsprechender Verfassungsklausel). Beispiel Ägypten: hier sorgt v.a. der Oberste Verfassungsgericht für einen Berücksichtigung der Menschenrechte.
Sie haben Recht: Entscheidend wird die Verfassungswirklichkeit sein.
Ägypten war ja nicht die "Tyrannei", die uns viele Medien vorspiegeln, seit Mubarak in Verschiß geraten ist. Es war ein für arabische Verhältnisse leidlich freier Staat. Sogar die Moslembrüder durften vergleichsweise frei agieren und sich an den Wahlen beteiligen; manchmal mit beachtlichem Erfolg. Das herrschende Militär war westlich orientiert; viele hatten ihre Ausbildung in den USA erhalten. Es gab eine säkulare Justiz, noch aus der Zeit Faruks, Nagibs und Nassers. Eine Islamisierung war nicht zu befürchten,
Bereits jetzt, unter der Herrschaft des SCAF, beginnt das aber zu bröckeln. Was vom vergleichsweise säkularen Ägypten nach freien Wahlen übrig sein wird, kann niemand sagen. Gegenwärtig wäre ein Sieg der MB eine günstige Entwicklung angesichts des rasanten Aufstiegs der Salafiten.
Zitat von Immanuel KantZu einem Taliban-Staat oder mediterranen Saudi-Arabien wird Libyen sicher nicht.
Das wäre in der Tat unwahrscheinlich.
Man muß sehen, lieber Immanuel Kant, daß es bisher ja noch wenig Erfahrungen mit islamistischen Regierungen gibt. Saudi-Arabien ist ein Sonderfall; dort ist man zwar wahabitisch-konservativ, aber nicht als Folge der Welle des heutigen Islamismus. Diese hat es bisher nur in wenigen Staaten bis zur Machtergreifung gebracht - im Iran, vorübergehend in Afghanistan, im Sudan, im Gazastreifen.
Es gibt aber vielerorts islamistische Bewegungen, die einen starken Rückhalt in der Bevölkerung haben, bisher aber nicht an die Macht gelangt sind. In Algerien hatte die FIS die Wahlen gewonnen, war aber dennoch nicht an die Regierung gekommen; ebenso die Hamas auf der Westbank. In Tunesien, vielleicht bald in Ägypten werden die Islamisten ihre Stärke zeigen können.
Welche Systeme entstehen, wenn sie dort und in anderen Ländern - in Syrien, im Jemen, in Libyen - an die Macht kommen sollten, ist nicht abzusehen. Demokratien mit freien Wahlen, der Garantie der Menschenrechte, einer unabhängigen Justiz usw. werden es gewiß nicht sein.
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