Wie die meisten von George Friedmans Artikeln ist auch dieser ebenso scharfsinnig wie provokativ.
Er skizziert eine Geschichte Europas; mit wenigen wuchtigen Pinselstrichen, sozusagen. Der Kern seiner Aussage findet sich im letzten Teil: Europa hat keine gemeinsame Identität erreicht und ist deshalb als Folge der jetzigen Krise in Gefahr, wieder in nationalstaatliches Denken zurückzufallen.
Seit einiger Zeit schicke ich den Stratfor-Artikeln eine deutsche Zusammenfassung voraus. Ich mache das aufgrund von Rückmeldungen, die mir signalisierten, daß dies für ein leichteres Verständnis des englischen Texts von Nutzen sein könnte; vielleicht auch die Entscheidung begründen könnte, ob man sich die Zeit nimmt, ihn zu lesen.
Aber die Zusammenfassung will und kann die Lektüre des Textes selbst nicht ersetzten. Würdigen und begründet kritisieren kann man ihn aus meiner Sicht nur, wenn man ihn im Original gelesen hat.
seit der Lektüre des Artikels von George Friedmann geht mir nicht mehr aus dem Kopf was er zu Deutschland schreibt:
Zitat von StratforThere were two reasons for this thrust for unification. The first was the Cold War and collective defense. But the deeper reason was a hope for a European resurrection from the horrors of the 20th century. It was understood that German unification in 1871 created the conflicts and that the division of Germany in 1945 re-stabilized Europe. At the same time, Europe did not want to remain occupied or caught in an ongoing near-war situation. The Europeans were searching for a way to overcome their history.
Ist Deutschland zu gross? Hätte es Europa mit zwei Deutschländern (z.B. einer Aufteilung in Länderfinanzausgleichsgeber- und Nehmerländer) plus Österreich einfacher? Die Fragen sind eher theoretischer Natur. Im Zuge der Euro-Krise hat mein Glaube an die Begeisterung der deutschen Eliten für die Demokratie stark nachgelassen. Deshalb frage ich mich, ob bei einem stärkeren politischen Zusammenwachsen Europas der Einfluss Deutschland nicht auch negativ für die Demokratie in Europa sein könnte. Und damit komme ich zu der Diskussion die von ihnen, lieber Zettel, angemahnt wurde aber nicht stattfindet. Die über die nationalen Interessen Deutschlands Europa betreffend. Worin bestehen diese?
Zitat Germany is a massive economy by itself, exporting more per year than the gross domestic products of most of the world’s other nation-states. Does Greece or Portugal really want to give Germany a blank check to export what it wants with it, or would they prefer managed trade under their control? Play this forward past the euro crisis and the foundations of a unified Europe become questionable.
Wäre Deutschland denn ihrer Meinung nach oder der anderer hier im Forum bereit, seinen Export mit den europäischen Partnern abzustimmen, oder tun wir das bereits?
George Friedman sieht in den jüngsten Ereignissen einen Rückfall in nationalstaatliches Denken, aber Nationalismus ist längst nicht der einzige Grund, an der Weisheit der europäischen Eliten zu zweifeln. Unterschwellig spielt Nationalismus in solchen Debatten wohl immer eine Rolle, aber es gibt gute ordnungspolitische Gründe, die europäische Integration vorerst anzuhalten oder sogar in Teilen rückgängig zu machen.
Am gefährlichsten kann der Nationalismus werden, wenn die Regierungen alle Bedenken als antiquiertes nationalstaatliches Denken abtun und die Integration im Hauruckverfahren durchziehen, notfalls gegen den Willen der Bevölkerung. Da wird es eine üble Gegenreaktion geben.
Zitat von lukasGeorge Friedman sieht in den jüngsten Ereignissen einen Rückfall in nationalstaatliches Denken, aber Nationalismus ist längst nicht der einzige Grund, an der Weisheit der europäischen Eliten zu zweifeln. Unterschwellig spielt Nationalismus in solchen Debatten wohl immer eine Rolle, aber es gibt gute ordnungspolitische Gründe, die europäische Integration vorerst anzuhalten oder sogar in Teilen rückgängig zu machen.
In der Tat, lieber Lukas.
Ich habe zweimal auf Artikel des Autorenteams Roman Herzog/Lüder Gerken aufmerksam gemacht, die sich mit dem Kernproblem Europas befassen:
Aus meiner Sicht war der Kardinalfehler - die Ursünde, die alle weiteren nach sich zog - die erste Erweiterung der EWG um Dänemark, Irland, Norwegen und das UK zum 1. Januar 1973.
Das Europa der Sechs hätte ein Bundesstaat werden können; mit einer gemeinsamen Geschichte, die mit dem Reich Karls des Großen begann; mit nur vier Sprachen wie die Schweiz. Da fast alle Holländer und Flamen Deutsch sprechen, hätte man faktisch drei Verkehrssprachen gebraucht - jedem Deutschen hätte zugemutet werden können, Französisch und Italienisch zu lernen, entsprechend für Franzosen und Italiener.
Da hätte zusammenwachsen können, was zusammengehört; mit dem Ergebnis eines gemeinsamen Nationalgefühls wie in der Schweiz. Um diesen Bundesstaat herum hätte es einen Staatenbund geben können, dessen Kern in Gestalt der EFTA ja bereits existierte. Österreich, das kulturell dazugehört, hätte in Kerneuropa aufgenommen werden können, sobald der Neutralitätsstatus nicht mehr gelten würde.
Mit der ersten Erweiterung war der europäische Bundesstaat gescheitert; schon deshalb, weil das UK besondere Beziehungen zum Commonwealth hat und zu den USA; Dänemark zu Skandinavien.
Briten würden sich niemals Italien näher fühlen als Australien oder Canada; Dänen sich niemals Frankreich näher fühlen als Schweden. Im Jahr 1973 hätte man die Idee eines europäischen Bundesstaats begraben müssen.
Dann wucherte die Erweiteritis naturwüchsig. Heute wären Vereinigte Staaten von Europa ein Monstrum.
Zitat von ZettelDas Europa der Sechs hätte ein Bundesstaat werden können; mit einer gemeinsamen Geschichte, die mit dem Reich Karls des Großen begann; mit nur vier Sprachen wie die Schweiz. Da fast alle Holländer und Flamen Deutsch sprechen, hätte man faktisch drei Verkehrssprachen gebraucht - jedem Deutschen hätte zugemutet werden können, Französisch und Italienisch zu lernen, entsprechend für Franzosen und Italiener.
Ich gebe zu: Das klingt danach, als hätte das ein vernünftiger Weg sein können. Aber ich bin skeptisch. Aus verschiedenen Gründen habe ich einen ganz guten Einblick in die Entwicklung von Unternehmen, die aus einem deutschen und einem französischen Teil bestehen bzw. bestanden: Da wächst nichts zusammen, weil auch nichts zusammen gehört. Die Denke ist, sobald es wirklich drauf ankommt, schon signifikant unterschiedlich. Wenn ich mich mit einem französischen Kollegen gut verstanden habe, dann war das, weil wir beide in den USA die einzigen Europäer waren (und wegen meiner unerreichten interkulturellen Kompetenz natürlich). Aber in heimischen Gefilden sind die Schützengräben entlang derselben regionalen Linien gezogen wie 1914-1918...
Reicht es nicht, dass wir alle eh schon Zwangsmitglieder in einem Staat sind? Muss der dazu auch noch immer größer werden und sich immer mehr von der eigenen Gesellschaft entfernen?
-- L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)
Mit allem Respekt: Ich halte diese Analyse für schwach und sehr oberflächlich.
Friedman nimmt die begleitende Rhetorik z.T. zu ernst, und er ignoriert die handfesten Interessen insbesondere Frankreichs und Deutschlands, die hinter allen bisherigen Schritten auf dem angeblichen oder realen Weg zur "Europäischen Einheit" standen. Es ist oberflächlich, die Gründe für Spannungen auf dem Kontinent vor allem der Existenz Deutschlands zuzuschreiben (als habe es vor 1871 keine verheerenden Kriege in Europa gegeben). Und die Behauptung, Europa habe sich bewusst gegen eine militärische Vereinigung gesträubt, weil sich auf diesem Kontinent militärische Allianzen stets negativ ausgewirkt hätten (wie denn, wenn diesmal alle mitmachen?), entspricht nicht der Geschichte des Scheiterns der EVG. Mit der Einigung Europas sollte auch nicht "der Nationalismus" überwunden werden, und wenn doch, dann nur, weil man ihn auf Deutschland beschränkt sah. Welchen Grund hatten z.B. die Franzosen, von ihrer Identifikation mit der eigenen Nation Abstriche zu machen? Es bleibt doch selbstverständlich, dass Frankreich und England ihre Sitze mit Vetorecht im Weltsicherheitsrat behalten und nicht etwa zugunsten eines gesamteuropäischen Mandats abgeben. Ist das Nationalismus? Wenn ja, dann hat er auch nach 1945 nicht aufgehört zu exisitieren. Wenn nein, dann ist es auch keiner, wenn Deutsche und Griechen unterschiedliche Interessen haben.
Das Fatale ist doch gerade, wie schon lukas oben richtig bemerkte, dass die Spannungen jetzt eben gerade deswegen auftauchen, weil man zu unterschiedliche Volkswirtschaften in das Prokrustes-Bett des Euro hat zwingen wollen. Der Euro selbst ist eine Fehlgeburt, geboren aus dem Wunsch Frankreichs, die wirtschaftliche Macht Deutschlands, die man in Paris wegen der Wiedervereinigung als übergroß befürchtete, zu begrenzen, wobei man aber den Deutschen mit den Maastricht-Kriterien und der Rolle der EZB ihrerseits die Angst vor einer zu schwachen Währung nehmen musste. Da letzteres eh nur als Verkaufstrick zum Einstieg gedacht war, konnte man sich hinterher auch leichten Herzens de facto dieser lästigen Regeln entledigen, sobald sie hätten greifen müssen. Aber das mit der Beschränkung der wirtschaftlichen Macht hat eben auch nicht funktioniert, weil sich Deutschland zu einem ungeahnten Reformeifer aufraffen und durch eine reale Abwertung den anfänglichen Wettbewerbsnachteil durch den festgelegten Euro-DM-Wechselkurs wieder wettmachen konnte. Jetzt hat man das Problem: Einen wirtschaftlichen Riesen, der vor Kraft kaum gehen kann, seine kleineren, aber nicht minder properen Nachbarn (Niederlande, Österreich), eine sich mehr schlecht als recht dahinschleppende Dame und einige vorlaute Racker, die sich bei ihrem Versuch, möglichst schnell möglichst viel vom Kuchen abhaben zu wollen, kräftig den Magen verdorben haben. Mindestens einer davon müsste auch dringend in stationäre Behandlung. Und weil das alles jetzt schon nicht so richtig zusammenpasst, soll der Riese die Dame heiraten und die Racker adoptieren. Herzlichen Glückwunsch!
Was ist der Unterschied zwischen Familie und Freunden? Freunde kann man sich aussuchen. Also lasst uns Europäer doch Freunde bleiben.
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Zitat von Rayson Aus verschiedenen Gründen habe ich einen ganz guten Einblick in die Entwicklung von Unternehmen, die aus einem deutschen und einem französischen Teil bestehen bzw. bestanden: Da wächst nichts zusammen, weil auch nichts zusammen gehört. Die Denke ist, sobald es wirklich drauf ankommt, schon signifikant unterschiedlich. Wenn ich mich mit einem französischen Kollegen gut verstanden habe, dann war das, weil wir beide in den USA die einzigen Europäer waren (und wegen meiner unerreichten interkulturellen Kompetenz natürlich). Aber in heimischen Gefilden sind die Schützengräben entlang derselben regionalen Linien gezogen wie 1914-1918...
Da muß man aus meiner Sicht durch, lieber Rayson.
Es war doch nach der Reichsgründung 1871 nicht anders. Noch nach Jahrzehnten. Als es mit dem Film losging, war eines der beliebtesten Klamottenthemen "ein Preuße in Bayern" ("IA in Oberbayern" hieß einer dieser Filme); auch im "Schwarzwaldmädel" tritt der zackige Preuße noch gegen die gemütlichen Badenser an. Hubert von Meyerinck war auf die eine Seite dieser Konfrontation abonniert, Beppo Brem auf die andere.
Oder nehmen wir Rheinländer vs Ostfriesen. Oder von mir aus Ossis vs Wessis. - Ich habe zwar nie mit Franzosen dienstlich zusammengearbeitet (außer einzelnen Exemplaren in Forschungsgruppen), bin aber oft in Frankreich. Ich denke, die Mentalitätsunterschiede zwischen einem Bretonen und einem Provençalen sind viel größer als die zwischen einem Pariser und einem Berliner.
Aber laß mich das mal ins Positive wenden: In einem Europa der Sechs hätten - R.A. hat diesen Gedanken kürzlich entwickelt - die Nationalstaaten allmählich zugunsten der Regionen zurücktreten können.
Zum Teil haben sich solche Regionen ja schon gebildet; aber man hätte sie bei einer solchen kleinen EU ungemein aufwerten können. Also beispielsweise Südbaden und Elsaß, oder die Aachener Gegend mit den angrenzenden Teilen Hollands und Belgiens, oder der Niederrhein und die angrenzenden Provinzen Hollands, oder Ostfriesland und das holländische Friesland. Ebenso die Côte d'Azur und Ligurien; der Pas-de-Calais und die angrenzenden Teile Belgiens.
Ok, ich kann verstehen, dass man es nicht auf Anhieb erkennt, wenn man nicht die Thread-Ansicht eingeschaltet hat. Aber welchen Namen nenne ich denn in der Begründung meiner Behauptung? Man kann auch zu künstlich auf formale Bezüge achten, lieber Zettel
-- L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)
Wir täten uns Deutschen keinen Gefallen, wenn wir versuchen sollten, mittels ökonomischer Stärke und einem Stimmenanteil von 27% im ESM, in die Haushalte der europäischen Partner hinein zu regieren. Das würde die Ressentiments nur noch verstärken die sich zwischen Griechenland und Deutschland aufgebaut haben und auf andere Länder ausdehnen. Ich habe mich über das Thema "europäische Nationalität", vor allem ausserhalb Europas, mit vielen Europäern unterhalten und regelmäßig sehr negative Reaktionen bekommen, wenn ich zum Ausdruck brachte, eine Aufgabe von nationaler Souveränität zu Gunsten einer europäischen zu akzeptieren. Oft wurde mir dann genau das unterstellt, was in der Boulevardpresse ausserhalb Deutschlands die Runde macht: Eine Inbesitznahme Europas durch die Hintertür. Wir sind, würde ich behaupten, die einzigen in Europa die eine Abgabe von Souveränitätsrechten überhaupt ernsthaft in Erwägung ziehen. Unabhängig davon, was die Regierungsmitglieder der Euro-Länder so beschliessen. Würde über diese Frage in den einzelnen Ländern Volksabstimmungen abgehalten, wären sie höchstwahrscheinlich zum Scheitern verurteilt. Ein Europa der Freunde mit Betonung des Subsidiaritätsprinzips erhält unsere Gemeinsamkeiten und kann sie ausbauen. Ein europäischer Überstaat würde die Feindseligkeiten erzeugen die vorgegeben werden zu verhindern.
Zitat die Aachener Gegend mit den angrenzenden Teilen Hollands und Belgiens
Das ist ja ohnehin nichts als das alte Aachener Hinterland, zum Teil früher Territorium der Reichsstadt Aachen, auf jeden Fall mit historisch engsten Beziehungen bis in die Familien - mutwillig abgetrennt und abgeschnitten 1919.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Niederlande im Bereich Aachen kräftig annektieren - Maximalforderungen gingen bis nach Köln.
Zitat von ZettelDa muß man aus meiner Sicht durch, lieber Rayson.
Warum "muss man", lieber Zettel? Ich sehe keinen Grund dafür.
Zitat von ZettelEs war doch nach der Reichsgründung 1871 nicht anders. Noch nach Jahrzehnten. Als es mit dem Film losging, war eines der beliebtesten Klamottenthemen "ein Preuße in Bayern" ("IA in Oberbayern" hieß einer dieser Filme); auch im "Schwarzwaldmädel" tritt der zackige Preuße noch gegen die gemütlichen Badenser an. Hubert von Meyerinck war auf die eine Seite dieser Konfrontation abonniert, Beppo Brem auf die andere.
Diese Art von Unterschieden wird auch heute noch gepflegt. Aber es gibt einen Unterschied, und der betrifft das Zusammengehörigkeitsgefühl jenseits dieser Differenzen. 1871 kam zwar über preußische Bajonette zustande, wäre aber ohne 1848 nicht möglich gewesen. Es gibt, diese Behauptung wage ich, in diesem Forum nicht mal eine Hand voll Leute, die an so vielen Orten Deutschlands und Europas gewohnt haben wie ich, und die gleichzeitig so viele verschiedene Regionen dieser Welt besucht haben wie ich. All das hat mir ein feines Gespür für die interkulturellen Unterschiede verschafft (diesmal ironiefrei gemeint...), das ich auch beruflich erfolgreich einsetzen konnte. Und das Ergebnis ist: Klar können sich der Pariser und der Berliner auf einer Ebene treffen, aber diese Ebene wird nie eine so vertraute sein wie die zwischen einem Berliner und einem Bayern, um mal das größte Extrem heranzuziehen. Der Pariser kennt weder Loriot, noch Heinz Erhardt oder Otto, und der Berliner wahrscheinlich nicht Jacques Tati oder andere große französische Humoristen. Da klaffen schon beim Lachen, das meiner Erfahrung nach der beste Weg zur Verständigung ist, ob zwischen Mann und Frau oder Menschen unterschiedlicher Kulturen, Welten. Ich selbst wohne mittlerweile an einem Ort, der über 700 km, mindestens vier Dialekte und etliche historische deutsche Kleinstaaten von dem entfernt liegt, in dem ich aufwuchs, und ich komme hier viel problemloser zurecht, als ein Karlsruher im 85 km entfernten Straßburg, einer alten deutschen Stadt (jedenfalls bis zu Louis XIV.), was, auf deutsch-französische kulturelle Nähe bezogen, eigentlich auch ein positives Extrem darstellen sollte.
Zitat von ZettelAber laß mich das mal ins Positive wenden: In einem Europa der Sechs hätten - R.A. hat diesen Gedanken kürzlich entwickelt - die Nationalstaaten allmählich zugunsten der Regionen zurücktreten können.
Ja, wenn es denn so käme, lieber Zettel, aber wie oben beschrieben stehen da Jahrhunderte Geschichte dazwischen. Außerdem erscheint mir als Nichthegelianer und Nichtmarxist dieser Gedanke etwas zu dialektisch: Mehr Zentralgewalt, um mehr Dezentralität zu erlangen? Alle Erfahrung spricht dagegen. Die unteren Einheiten müssen ihre Rechte immer erkämpfen, der normale Gang führt zu immer größeren bürokratischen Monstern. Das ist bei Staaten nicht anders als bei Unternehmen. Aber letztere können immerhin noch am Markt scheitern, was bei ersteren ja auf Deibel komm raus vermieden werden soll.
Zitat von ZettelZum Teil haben sich solche Regionen ja schon gebildet
Mal hinter die Kulissen schauen. Da bleibt nicht viel. Schavan hat sich in Baden-Württemberg ja sogar mal erkühnt, an der sogenannten "Rheinschiene" Französisch in den Grundschulen unterrichten zu lassen. Weil über die US-Kultur aber bei uns mittlerweile auch Hispanics als cool gelten, will das dortige Volk lieber Spanisch lernen. So weit zu den Regionen.
-- L\'État, c\'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s\'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)
Zitat von RaysonOk, ich kann verstehen, dass man es nicht auf Anhieb erkennt, wenn man nicht die Thread-Ansicht eingeschaltet hat. Aber welchen Namen nenne ich denn in der Begründung meiner Behauptung? Man kann auch zu künstlich auf formale Bezüge achten, lieber Zettel
Nee, lieber Rayson. Es ist wirklich so: Ich fange an, einen solchen Beitrag zu lesen, und weiß nicht, worauf er sich bezieht. In diesem Fall gab es ja nun einmal drei mögliche Bezüge.
Nun hätte ich das rauskriegen können, klar. Indem ich auf threaded umschalte, deinen Beitrag dort suche, dann den übergeordneten öffne. Ich hätte es vielleicht auch rauskriegen können, wenn ich den Beitrag weiter gelesen und nach Bezügen geforscht hätte.
Aber ich mache das nicht. Ich ärgere mich über die Unhöflichkeit, mindestens die Nachlässigkeit dem Leser gegenüber und mache den Beitrag meist einfach zu.
Ganz ernst gemeinte Frage: Ist es wirklich so schlimm, den Bezug erst am Beginn des zweiten Absatzes, als 13. Wort insgesamt, lesen zu können? Vielleicht unterscheiden sich da auch unsere Lesestile.
Zitat von ZettelAber ich mache das nicht. Ich ärgere mich über die Unhöflichkeit, mindestens die Nachlässigkeit dem Leser gegenüber und mache den Beitrag meist einfach zu.
Aber wenn du es bist, ...
Danke, ich weiß das zu schätzen Und ich nehme im Hinterkopf mit, nicht auf die Information zu vertrauen, die einem die Threaded-Sicht (die ich ausschließlich verwende) liefert. Aber eine Antwort auf meine obige Frage würde mich trotzdem interessieren.
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.. umso mehr bleibt alles beim Alten, scheint mir. Bleiben wir zunächst beim ganz breiten Pinsel: Die große Kontinuitätislinie Europas scheint mir aus dem auf das Römische Reich folgenden Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation hervorzugehen, der Rest ist Peripherie (Balkan, Skandinavien, Spanien/Portugal) oder ein ganz eigenes Ding (Russland incl. jeweilige Satelliten) und England. Und natürlich Frankreich. So lief das im Großen und ganzen über 1000 Jahre, von episodischen Ausreißern wie den spanischen, schwedischen, polnischen oder niederländischen Kurz-Hochphasen mal abgesehen.
Ich sehe, anders als Zettel, der eine deutsch-französische Nähe sieht, vielmehr vier entscheidende Bruchlinien in Europa: Den Kanal (das sieht Friedmann richtig), die Westgrenze des russischen Einflußgebietes (im Augenblick also die EU-Ostgrenze), die Balkansüdgrenze (die im Augenblick wohl quer durch Jugoslawien verläuft, mit Sicherheit aber südlich von Ungarn und nördlich von Istanbul) und die inzwischen uralte Trennlinie zwischen ost- und westfränkischem Reich.
Historisch ehemals unglaublich relevante, weitere Bruchlinien sind hingegen quasi ausgelöscht, so die Nordgrenze des RR/HRR zu den Barbaren/Sachsen/Slawen im Nordosten, die immerhin quer durch Deutschland ging. Daß davon nicht mehr geblieben ist als alberne Ostfriesen-, Bayern- und Preußenwitzchen, ist ein Wunder.
Man kann das alles historisch-politisch aufdröseln um den staus quo zu ermitteln. Man kann aber auch mit Jugendlichen sprechen, die viel und gern reisen, an Geschichte und Politik aber überwiegend uninteressiert sind, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wo die sich verschiebenden Grenzlinien im Augenblick angesiedelt sind. Und man kann die Ergebnisse mit den eigenen Jugenderfahrungen vergleichen; man wird starke Grenzverschiebungen in den letzten 30 Jahren feststellen.
"Wir", das waren um 1980 tatsächlich die EU-6 und Großbritannien, das waren die Leute mit denen man im Interrail abhing und mit denen man reiste. Das lag ganz klar am verherrschenden Ost-West-Paradigma, das sich als ebenso kurzlebig erwiesen hat wie der schwedische Imperialismus beispielsweise. Heute ist wieder historischer Normalzustand: "Wir", das sind heute die EU minus Frankreich und minus England (aber mit Irland und evtl. Schottland) und minus Bulgarien/Rumänien/Griechenland, letzeres eher mangels Gelegenheit und Masse. Aber es gibt eine ganz entschiedene und gegenseitige Antipathie zwischen Frankreich und dem Rest, die neu ist. Es gibt offenbar jede Menge Reise-, Uni-, WG und Liebesbeziehungen zwischen Deutschen, Holländern, Spaniern, Italienern, Slowenen, Iren und Polen, Ukrainern usw., aber die Franzosen bleiben, wie die Engländer, unter sich. Bei den Engländern bedauert man das, bei den Franzosen nicht.
Das sind affektive Muster, die sich anscheinend großflächig zeigen und unbewusst entstehen, ja gegen die primären schulvermittelten Zwangsschüleraustauschlinien laufen. Woher kommt das? Ich weiß es nicht. Aber wenn eine europäischer Staatenbund zukünftig emotionale Akzeptanz finden soll, dann scheint mir, das wären die machbaren Grenzen.
Die vielgepriesene Westbindung scheint mir ähnlich unbeliebt zu sein wie die Sowjetfreundschaft. 1946 ist vorbei und irgendwie ist wieder ein bischen 1872.
Zitat Das Europa der Sechs hätte ein Bundesstaat werden können; mit einer gemeinsamen Geschichte, die mit dem Reich Karls des Großen begann; mit nur vier Sprachen wie die Schweiz. Da fast alle Holländer und Flamen Deutsch sprechen, hätte man faktisch drei Verkehrssprachen gebraucht - jedem Deutschen hätte zugemutet werden können, Französisch und Italienisch zu lernen, entsprechend für Franzosen und Italiener.
Warum lese ich nie vom Beispiel Belgien? Laut wikipedia ist Belgien schon seit 1830 ein Land, aber Flamen und Walonen sind im Konflikt, permanente Regierungskrise, eine Auflösung Belgiens wird von einigen Parteien gefordert...
Dabei sind sich doch Flamen und Walonen sicher ähnlicher als Deutsche und Griechen ?
Ähnlicheres Pro-Kopf-Einkommen, mehr gemeinsame Geschichte, ...
Ich denke, dass ohne eine gemeinsame Sprache immer eine klare Sollbruchstelle bleibt und deshalb sollte es immer beim Staatenbund (statt Bundesstaat) bleiben.
Zitat von refferentWarum ist die Schweiz da eine Ausnahme?
Es gibt, lieber refferent, ja viele andere Staaten, in denen verschiedene Sprachen gesprochen werden. Canada beispielsweise, China, Indien. Allerdings gibt es in solchen Ländern oft eine Verkehrssprache, die mehr oder weniger alle beherrschen - Mandarin, Englisch zum Beispiel.
Ich glaube nicht, daß die Sprache das kritische Moment ist. Entscheidend ist, ob es eine gemeinsame Identität gibt. Dabei spielt die Kultur sicher die zentrale Rolle.
Wallonien ist teil der französischen Kultur. Simenon war ein französischer Schriftsteller, auch wenn er Belgier war; Jacques Brel ein großer französischer Chansonnier. Ebenso sind die Flamen nach den Niederlanden hin orientiert.
Das Problem Belgiens ist aus meiner Sicht, daß es ein überflüssiger Kunststaat ist; entstanden dadurch, daß zu den Habsburger Niederlanden auch französischsprachige Landesteile gehörten.
Es ist übrigens ähnlich mit Österreich und Deutschland. Kulturell sind wir eine Einheit. Ich nehme Musil, Handke und Thomas Bernhard ebenso als deutsche Autoren wahr, wie Kafka ein deutscher Autor war, und weder ein tschechischer noch ein österreichischer. Bei den Klagenfurter Tagen der deutschsprachigen Literatur interessiert es niemanden, ob ein Autor die deutsche oder die österreichische Staatsangehörigkeit hat.
Österreich und Deutschland gehören kulturell zusammen. Daß die Österreicher aufgrund der historischen Gegebenheiten einen eigenen Staat haben, stört mich nicht; aber aus meiner Sicht sind es eben Deutsche, die in - sozusagen - dem zweiten deutschen Staat leben.
Von den Zimmerleuten weiß ich meist gar nicht, ob sie Deutsche oder Österreicher sind. Vor der Zeit von ZR habe ich im Forum eines Österreichers geschrieben, der Physik und Wissenschaftstheorie studierte. Daß er Österreicher war, habe ich erst nach Monaten gemerkt.
Zitat von ZettelÖsterreich und Deutschland gehören kulturell zusammen. Daß die Österreicher aufgrund der historischen Gegebenheiten einen eigenen Staat haben, stört mich nicht; aber aus meiner Sicht sind es eben Deutsche, die in - sozusagen - dem zweiten deutschen Staat leben.
Wenn sie allerdings das in Österreich sagen, wird man Sie als Nazi mit Anschlussphantasien bezeichnen. Die wenigsten Österreicher würde sich heute als Deutsche bezeichnen. (behaupte ich mal ohne Quelle aus meinem Bauchgefühl heraus) Ich denke, die Identität Österreichs als eigener Staat definiert sich zu einem nicht unwesentlichen Teil aus der Abgrenzung von Deutschland; wohl auch als Resultat der Nachkriegszeit, als man sich möglichst von den Nationalsozialisten distanzieren wollte. (Ich habe einmal gehört, dass in den Fünfzigern die Schüler nicht "Deutsch", sondern "Unterrichtssprache" im Zeugnis stehen hatten) Noch in der Zwischenkriegszeit waren alle großen Parteien Befürworter des Anschlusses an Deutschland, der lediglich von den Siegermächten des 1. WK untersagt wurde.
Zu Deutschland haben wir Österreicher heute eine Art "Großer-Bruder-Rivalität": Man freut sich, wenn in einem Sportbewerb zwar kein guter Platz erreicht wurde, aber wir immerhin besser als die Deutschen waren
Bei Kafka wird es schwierig: Die Deutschen sehen ihn als deutschen Schriftsteller, die Österreicher als einen österreichischen, und die Tschechen als einen Prager.
Ich persönlich finde (obwohl ich Österreicher bin ), dass Sie vollkommen recht haben. In der Schule lesen wir genauso Goethe und Schiller, sehen deutsche Filme und Serien und so weiter. Meine Urgroßmutter, die im Kaiserreich aufwuchs, bezeichnete sich selbstverständlich als "Deutsche", als Abgrenzung etwa zu den Ungarn oder Kroaten. (Natürlich war sie auch Österreicherin, aber das war ein Kroate oder ein Böhme auch.)
Zitat von PirxIch persönlich finde (obwohl ich Österreicher bin ), dass Sie vollkommen recht haben. In der Schule lesen wir genauso Goethe und Schiller, sehen deutsche Filme und Serien und so weiter. Meine Urgroßmutter, die im Kaiserreich aufwuchs, bezeichnete sich selbstverständlich als "Deutsche", als Abgrenzung etwa zu den Ungarn oder Kroaten. (Natürlich war sie auch Österreicherin, aber das war ein Kroate oder ein Böhme auch.)
Ja, so war es; und zwar auch ganz offiziell. In der k.u.k. Amtssprache gab es die Deutschen so wie die von Ihnen Genannten, die Polen, die Italiener usw. Ich habe das übrigens erstmals in Brigitte Hamanns "Hitlers Wien" gelesen; davor hatte ich es nicht gewußt.
Deshalb wurde ja auch das Verbot im Versailler Diktat, Deutschland beizutreten, von der großen Mehrheit der Deutschen aus dem untergegangenen k.u.k. Reich als ein sie benachteiligender Willkürakt wahrgenommen. Die Italiener aus dem Trentino durften Italien beitreten, die galizischen Polen dem polnischen Staat usw.; nur die Deutschen nicht Deutschland.
Aber das ist nun Geschichte. Man kann es den Österreichern gewiß nicht übelnehmen, daß sie 1945 froh waren, einen eigenen Staat zu haben und sich damit von Nazi-Deutschland distanzieren zu können. Erst 1945 begann sich, soweit ich das beurteilen kann, ein eigenes österreichisches Nationalbewußtsein zu entwickeln.
Lange verteilte sich die Kulturnation Deutschland auf drei Staaten - die Bundesrepublik, die DDR und Österreich. Jetzt sind es noch zwei; und das ist gut so. Deutschland ist eh groß genug; ein erneuter "Anschluß" wäre ein Unfug und wird ja auch nur von Ultranationalen verlangt.
Andererseits empfinde ich es schon als einen Krampf, wenn beispielsweise die Klagenfurter Veranstaltung "Tage der deutschsprachigen Literatur" heißt, statt der "deutschen Literatur". Gehört denn Adalbert Stifter nicht zur deutschen Literatur?
Danke, lieber Michael B., für diesen interessanten und kenntnisreichen Beitrag!
Zitat von Michael B.Ich sehe, anders als Zettel, der eine deutsch-französische Nähe sieht, vielmehr vier entscheidende Bruchlinien in Europa: Den Kanal (das sieht Friedmann richtig), die Westgrenze des russischen Einflußgebietes (im Augenblick also die EU-Ostgrenze), die Balkansüdgrenze (die im Augenblick wohl quer durch Jugoslawien verläuft, mit Sicherheit aber südlich von Ungarn und nördlich von Istanbul) und die inzwischen uralte Trennlinie zwischen ost- und westfränkischem Reich.
Bis 1945 war das so. Aber sofort nach dem Krieg setzte ja auf beiden Seiten ein intensives Bemühen ein, diese letztere Trennlinie zu überwinden. Adenauer und Maurice Schuman (Monnet war mehr eine Gallionsfigur), dann Adenauer und de Gaulle, Schmidt und Giscard, Kohl und Mitterand - diese Freundschaften waren ja nicht nur gespielt.
Mag sein, daß ich das ein wenig einseitig sehe, weil ich von dieser Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich von Jugend an geprägt bin. Ich habe noch als Schüler angefangen, regelmäßig nach Frankreich zu fahren; hatte auch das Glück, in Paris einen "Stützpunkt" bei meinem Onkel zu haben.
Ich habe die Ferne zwischen Deutschen und Franzosen, die Rayson konstantiert, nie wahrgenommen. Anfang 1962 war ich längere Zeit in Paris in einer Familie, die ich durch eine gemeinsame Bekannte kenngelernt hatte. Wir Studenten zogen und blödelten gemeinsam herum, so wie es Chabrol in Les cousins darstellt (mit dem idiotischen deutschen Titel "Schrei, wenn du kannst" ). Ob einer in dieser Clique Deutscher oder Franzose war, spielte nicht die geringste Rolle. Wir haben gemeinsam "I wanna be in America" gesungen; das war damals aktuell.
Zitat von Michael B."Wir", das waren um 1980 tatsächlich die EU-6 und Großbritannien, das waren die Leute mit denen man im Interrail abhing und mit denen man reiste. Das lag ganz klar am verherrschenden Ost-West-Paradigma, das sich als ebenso kurzlebig erwiesen hat wie der schwedische Imperialismus beispielsweise. Heute ist wieder historischer Normalzustand: "Wir", das sind heute die EU minus Frankreich und minus England (aber mit Irland und evtl. Schottland) und minus Bulgarien/Rumänien/Griechenland, letzeres eher mangels Gelegenheit und Masse. Aber es gibt eine ganz entschiedene und gegenseitige Antipathie zwischen Frankreich und dem Rest, die neu ist. Es gibt offenbar jede Menge Reise-, Uni-, WG und Liebesbeziehungen zwischen Deutschen, Holländern, Spaniern, Italienern, Slowenen, Iren und Polen, Ukrainern usw., aber die Franzosen bleiben, wie die Engländer, unter sich. Bei den Engländern bedauert man das, bei den Franzosen nicht.
Interessant. Ich kann das aus meinen Erfahrungen - s.o. - überhaupt nicht bestätigen; auch wenn ich jetzt nach Paris oder ins Roussillon fahre, fühle ich mich "zu Hause". Tja, das scheinen unterschiedliche Generationserfahrungen zu sein.
Zitat von Michael B.Das sind affektive Muster, die sich anscheinend großflächig zeigen und unbewusst entstehen, ja gegen die primären schulvermittelten Zwangsschüleraustauschlinien laufen. Woher kommt das? Ich weiß es nicht. Aber wenn eine europäischer Staatenbund zukünftig emotionale Akzeptanz finden soll, dann scheint mir, das wären die machbaren Grenzen.
Die vielgepriesene Westbindung scheint mir ähnlich unbeliebt zu sein wie die Sowjetfreundschaft. 1946 ist vorbei und irgendwie ist wieder ein bischen 1872.
Vielleicht hat dieser Eindruck wirklich etwas damit zu tun, daß die deutsch-französische Freundschaft zu sehr von oben verordnet wurde. So etwas ist immer kontraproduktiv.
Es mag die etatistische Verkrustung in Frankreich hinzukommen. In Deutschland gibt es ja immer noch das Klischee vom liberalen, intellektuell produktiven Frankreich, dem Land der Individualisten. Es stammt aus der Zeit, als es bei deutschen Intellektuellen chic war, Gauloises zu rauchen, einen "trockenen Rotwein" aus Frankreich zu trinken und mit der Citroen-Ente oder dem Renault R4 durch die Gegend zu fahren.
Zitat von Rayson Außerdem erscheint mir als Nichthegelianer und Nichtmarxist dieser Gedanke etwas zu dialektisch: Mehr Zentralgewalt, um mehr Dezentralität zu erlangen? Alle Erfahrung spricht dagegen. Die unteren Einheiten müssen ihre Rechte immer erkämpfen, der normale Gang führt zu immer größeren bürokratischen Monstern.
Es ist in der Tat ein immerwährender Kampf. Man kann ihn gegenwärtig in den USA beobachten.
Vor der Verabschiedung der amerikanischen Verfassung gab es ja heftige Auseinandersetzungen, die ihren Niederschlag in den Federalist Papers gefunden haben. Da wurden alle Argumente für und gegen eine Zentralgewalt gewälzt. Herausgekommen ist eine Verfassung, die eine aus meiner Sicht optimale Balance zwischen den Rechten der Staaten und denen des Federal Government festlegte: Dieses ist für Außen- und Sicherheitspolitik zuständig; ansonsten nur für das, was die Grenzen zwischen den Staaten überschreitenden Probleme betrifft.
Aber über die Definition dieser Letzteren gab und gibt es natürlich einen immerwährnden Streit. Die Tea Party ist nicht nur eine Bewegung gegen Obamas Versuch, die USA zu sozialdemokratisieren, sondern vor allem auch gegen den Versuch Washingtons, immer weiter in die Rechte der Staaten einzugreifen.
Aber im Prinzip funktioniert die Balance. In manchen Bereichen haben inzwischen bereits die US-Staaten gegenüber Washington mehr Rechte als die Staaten der EU gegenüber Brüssel.
Zitat von ZettelIch glaube nicht, daß die Sprache das kritische Moment ist. Entscheidend ist, ob es eine gemeinsame Identität gibt.
Das ist richtig. Wobei die Sprache halt enorm hilft, eine gemeinsame Identität zu entwickeln.
Zitat Wallonien ist teil der französischen Kultur. Simenon war ein französischer Schriftsteller, auch wenn er Belgier war; Jacques Brel ein großer französischer Chansonnier.
Etwa so, wie die (Deutsch-)Schweizer Künstler Teil der deutschen Kultur sind. Was bekanntlich dem Schweizer Nationalgefühl nicht abträglich ist.
Zitat Ebenso sind die Flamen nach den Niederlanden hin orientiert.
Da bin ich mir nicht so sicher. Das kulturelle Leben Flanderns spielte sich lange Zeit (bin in die 50er Jahre?) weitgehend auf französisch ab. Daneben hat sich wohl eine sehr regional orientierte flämische Kulturszene entwickelt. Ob die viel mit den Niederlanden machen?
Zitat Das Problem Belgiens ist aus meiner Sicht, daß es ein überflüssiger Kunststaat ist; entstanden dadurch, daß zu den Habsburger Niederlanden auch französischsprachige Landesteile gehörten.
Eigentlich nicht. Eher entstanden dadurch, daß die Spanier den Südteil ihrer Besitzungen halten konnten und dieser dadurch katholisch blieb. M. W. spielte es dabei nie eine Rolle, daß ein Teil dieses Bereichs eine andere Sprache benutzte - solche Aspekte waren ja seinerzeit noch ziemlich nebensächlich.
Wesentlich ist aber, daß Belgien sehr wohl eine eigenständige Identität hat. Die ist über viele Jahrhunderte gewachsen, und Belgien hat in all dieser Zeit nie zu Frankreich gehört (nur wenige unwichtige Jahre unter Napoleon, wie auch Köln oder Bremen). Träger dieser nationalen Identität waren aber im wesentlichen die Wallonen bzw. die französisch sprechende Oberschicht Flanderns. Die Flamen hatten mit Belgien wenig am Hut (aber auch mit Holland nicht), ihnen geht es in erster Linie um flämische Eigenständigkeit.
Wir haben also der gelungene Beispiel Schweiz. M. E. gelungen, weil die Deutsch-Schweizer stark dominieren und das eigentliche Nationalgefühl ausgebildet haben, aber rechtzeitig noch die Kurve bekommen haben und den vorher unterdrückten sprachlichen Minderheiten genug Rechte zugestanden haben, daß diese sich am gemeinsamen Staat beteiligten. Und wir haben andererseits das mißlungene Beispiel, wo die Minderheit das Nationalgefühl entwickelte und mit der vorher unterdrückten sprachlichen Mehrheit nicht rechtzeitig einen Ausgleich hinbekommen hat.
Der interessante Punkt ist nun, daß wir in der vergleichsweise jungen Geschichte der Nationalstaaten gar nicht viele vernünftige Beispiele finden. Es gibt einige wenige Staaten, wo die Staatsgrenze sich halbwegs entlang nationaler/sprachlicher Trennlinien entwickelte (Portugal, Holland, einige skandinavische Staaten). Die Regel ist eine Staatsbildung durch eine vorherrschende Bevölkerungsgruppe (meist einer Sprache), die alle Minderheiten mehr oder weniger brutal auf Linie zwingt. So ist das in Frankreich gelaufen, in Spanien, in Großbritannien - Italiens Einheit wird immer stärker in Frage gestellt. In Mittel-/Ost-Europa hat man die Minderheiten ebenfalls unterdrückt (bis heute, siehe Roma-Problematik) oder vertrieben. Umgekehrt sind Deutschland oder Ungarn halbwegs national einheitlich, weil sie alle gemischten Randgebiete weggenommen bekamen.
Halbwegs gelungene "MultiKulti"-Staaten haben sich nur dort zeitweise entwickelt, so föderalistisch gedacht wurde: Das alte Reich oder die Habsburger-Monarchie. Die Schweiz ist letztlich das letzte Überbleibsel dieser Tradition, die ansonsten vom Nationalstaatsprinzip liquidiert wurde.
Um jetzt die Kurve zur Originalfrage zu kriegen: Ich glaube nicht, daß die Ausgangs-EU der 6 sich je zu einem "Nationalstaat" hätte entwickeln können. Alleine schon, weil sie von Anfang an vom Mentalitätsunterschied der germanischen vs. der romanischen Zone dominiert worden wäre. Ab einer gewissen Integrationsstufe hätte das mindestens so geknallt wie in Belgien.
Eine lebensfähige EU-Völkergemeinschaft kann überhaupt nur föderal funktionieren. Und m. E. überhaupt nur, wenn der germanisch-romanische Gegensatz durch weitere Beimischungen aufgelockert wird. Ich bin also der Meinung, daß überhaupt erst die Erweiterung um weitere Staaten die Basis dafür geschaffen hat, einige Bereiche mehr gemeinschaftlich zu regeln.
Zitat von ZettelAndererseits empfinde ich es schon als einen Krampf, wenn beispielsweise die Klagenfurter Veranstaltung "Tage der deutschsprachigen Literatur" heißt, statt der "deutschen Literatur". Gehört denn Adalbert Stifter nicht zur deutschen Literatur?
Ich vermute, dass dies daran liegt, dass man (zumindest hierzulande) das Wort "deutsch" in der Regel auf Deutschland bezieht (sofern man nicht von der deutschen Sprache redet). Sind Heinz Fischer und Werner Faymann "deutsche Politiker", ist Hermann Maier ein "deutscher Skifahrer"? Natürlich nicht. "Deutsche Literatur" würde man verstehen als "Literatur aus Deutschland". Leider gibt es kein Adjektiv, dass sich eindeutig auf das Land Deutschland bezieht, dann hätten wir wohl dieses Problem nicht ...
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