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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 12 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

15.10.2011 16:54
Literarische Randnotizen (4): Lewis Carroll Antworten

Es ist Wochenende. In der Politik ist nicht viel los. ZR wird heute kaum mehr als vielleicht 2500 Pageviews haben. Kurz, es ist die Gelegenheit, endlich einen Artikel zu Ende zu schreiben, den ich schon im Somst angefangen hatte.

Frank Böhmert Offline




Beiträge: 927

15.10.2011 17:17
#2 RE: Literarische Randnotizen (4): Lewis Carroll Antworten

Dieses schöne Buch gibt es übrigens in identischer Aufmachung auch auf Deutsch. Es heißt "Alles über Alice" und ist 2002 erschienen. Inzwischen allerdings vergriffen und von Antiquaren anscheinend, wie ich gerade mit einem Blick zu Amazon feststellen musste, als Sammlerstück behandelt.

http://www.amazon.de/Alles-%C3%BCber-Ali.../dp/3203759500/

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.560

15.10.2011 18:03
#3 RE: Literarische Randnotizen (4): Lewis Carroll Antworten

Daß die deutsche Ausgabe nur noch aus zweiter Hand erhältlich und entsprechend teuer ist, dürften Carroll-Leser leicht verschnerzen können. Da die Alice-Bücher zu gefühlten 75 Prozent von den Sprachspielen und den Assoziationen leben, hat man mit der deutschen Version des Textes sowieso nur eine arg eingeschränkte Sicht auf den Witz des Originals. Am interessantesten ist dann der Blick darauf, wie sich der Übel/r/setzer ("Traduttore, traditore") aus der Klemme gezogen hat; es gibt dazu ein kleines opusculum von Warren Weaver: Alice in Many Tongues (1964). Der erste Übersetzer ins Russische - Anja v strane chudes (1922) - war übrigens Vladimir Nabokov.
Das restliche Viertel bilden die logischen Paradoxien, die philosophische Köpfe glatt in einer reductio ad absurdum stillstellen können. In der klassischen Science Fiction wurden gerne Elektronengehirne mit Weltbeherrschungsgelüsten durch solche "Logikbomben" ausgeschaltet (Rauch und explodierende Schalttafeln waren stets die Folge) Gardner führt auch einiges aus diesem Bereich an.
Hinzu kommt, daß die Auslöser der Anspielungen, die für den heutigen Leser ja erst durch Gardner sichtbar werden (der sie ausführlich gleich neben dem Text zitiert), im Deutschen ja auch erst übersetzt und erläutert werden müss(t)en. Bei den meisten Gedichten handelt es sich um Parodien auf die frömmlerische, um nicht zu sagen bigotte (und unerträgliche) viktorianische Kinderliteratur (Mark Twain nimmt mit Huck und Tom ja eine ähnliche Frontstellung ein).

Frank Böhmert Offline




Beiträge: 927

15.10.2011 18:29
#4 RE: Literarische Randnotizen (4): Lewis Carroll Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann
Daß die deutsche Ausgabe nur noch aus zweiter Hand erhältlich und entsprechend teuer ist, dürften Carroll-Leser leicht verschnerzen können.


Hübsches Wortspiel. Bei Carroll können Übersetzer natürlich nur Umscherzer sein. Aber verschmerzen können dürften den Nichterwerb dieser deutschen Ausgabe letztlich nur Leser, die ein sehr anständiges Englisch beherrschen. Da fallen in den Kriegsjahren Geborene fast komplett weg, so sie später nicht studiert haben, und die meisten DDR-Bürger auch. Die möchten aber vielleicht auch gern Carroll lesen.


EDIT
P.S. Übersetzer ist übrigens dieser Herr hier:
http://www.guenther-flemming.de/html/lewis_carroll.html
Ich glaube, er macht das ganz gut.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

15.10.2011 21:48
#5 RE: Literarische Randnotizen (4): Lewis Carroll Antworten

Zitat von Frank Böhmert
Aber verschmerzen können dürften den Nichterwerb dieser deutschen Ausgabe letztlich nur Leser, die ein sehr anständiges Englisch beherrschen. Da fallen in den Kriegsjahren Geborene fast komplett weg, so sie später nicht studiert haben, und die meisten DDR-Bürger auch. Die möchten aber vielleicht auch gern Carroll lesen.

Meine Meinung dazu habe ich ja immer einmal wieder zu erläutern versucht, lieber Frank Böhmert: Was man nicht lesen kann, das sollte man nicht zu lesen versuchen. Um es etwas brutal zu formulieren.

Ich kann Dostojewski und Puschkin nicht lesen und lese sie also nicht. Wer in der DDR Russisch lernen mußte, der kann sich diese Freude machen (die vermutlich erheblich ist).

Ich kann in der verbleibenden Lebensspanne nur einen Bruchteil der Bücher lesen, die ich gern lesen würde (und von denen viele ungelesen in meiner Bibliothek stehen). Warum soll ich versuchen, Bücher zu lesen, die ich nun einmal nicht lesen kann?

Arno Schmidt hat lange Zeit wesentlich vom Übersetzen gelebt. Stolz ist er meines Wissens darauf nicht gewesen; das gehörte zu den "Brotarbeiten". Stolz konnte er allerdings auf die schiere physische Leistung sein, beispielsweise die Wälzer von Cooper übersetzt zu haben (Alice hat dabei sehr geholfen).



Dort, wo es nicht um Sprache geht, sondern allein um den Inhalt, kann man übersetzen - Fachliteratur, Sachbücher, Zeitungsartikel. Ich übersetze ja selbst ständig kleine Passagen in diese blauen Textblöcke.

Aber jetzt verrate ich Ihnen ein Geheimnis : Ich zitiere oft Passagen nicht, weil ich sie nicht übersetzen kann. Natürlich verstehe ich sie; aber ich finde nicht den richtigen deutschen Ausdruck.

Ich kann selbst bei einem solchen Trivialtext einfach nicht das wiedergeben, was er dem englisch- oder französischsprachigen Leser sagt. Ich probiere es dann mit dieser und jener Übersetzung; und wenn es nicht geht, dann kommt diese Passage eben nicht vor.

Ich kann das in ZR. Der arme Übersetzer von Belletristik, der mit solcher Arbeit sein Brot verdient, kann es nicht. Er muß sich jeden Abend den Pfusch ansehen, den er zustandegebracht hat. Er muß, wenn er Sprachgefühl hat, erkennen, wie weit er vom Original weg ist.

Ich habe kürzlich die Übersetzungen Wielands und Schlegels von Shakespeares Twelfth Night; or, What You Will mit dem Original verglichen. Ein burleskes, derbes Stück voll fauler Witze, oft obszön. Man kann sich vorstellen, wie Shakespeares Publikum gejohlt und gewiehert hat. "Was ihr wollt" halt. Schlegel hat daraus ein braves Stück gemacht; die meisten Witze sind verlorengegangen. Wieland hat ganze Passagen einfach unübersetzt gelassen, was ehrlicher war.



Zitat von Frank Böhmert
EDIT
P.S. Übersetzer ist übrigens dieser Herr hier:
http://www.guenther-flemming.de/html/lewis_carroll.html
Ich glaube, er macht das ganz gut.

Ja, Flemming gehört wie auch Rathjen, der Gardners Anmerkungen übersetzt und durch eigene ergänzt hat, zum Kreis der Autoren, die sich in jungen Jahren beim "Bargfelder Boten" zusammenfanden.

Er hat sich viel Mühe gegeben; aber es ist eben ein neuer Text herausgekommen, der mehr oder weniger starke Anklänge an Carroll enthält.

Rathjen hat auch die Lewis-und-Clarke-Tagebücher ins Deutsche zu übersetzen versucht; Dieter Stündel, auch er aus dem Kreis der Malteser und ein Carroll-Experte, gar Finnegan's Wake. Heroische Versuche; aus meiner Sicht vertane Liebesmüh.

Herzlich, Zettel

wflamme Offline



Beiträge: 187

15.10.2011 23:12
#6 RE: Literarische Randnotizen (4): Lewis Carroll Antworten

Zitat
Zitat:Hinein in ein Welt, in der manches invertiert ist (rechts und links zum Beispiel); anderes wiederum nicht (oben und unten zum Beispiel - woher eigentlich dieser Unterschied?).



Der Spiegel 'vertauscht' weder rechts/links noch oben/unten ... er 'vertauscht' vorne und hinten (bzw spiegelnah und -fern). Es ist nicht möglich, einen Körper durch Drehen und Wenden so in dieses/sein Spiegelbild zu überführen, daß nicht eine Koordinate vertauscht wird.

Uns erscheint es wie eine Links-Rechts-Vertauschung, weil wir beim Hineinschlüpfen in unser Spiegelbild unwillkürlich versuchen, Lage und Symmetrie unserer Hauptwahrnehmungsorgane mit geringsten Abweichungen mit unserem Spiegelbild zur Deckung zu bringen. Da unsere linke und rechte Seite einander viel ähnlicher sind als unsere obere und untere, schlüpfen wir eben sorum hinein.

Wären wir würfelförmige Wesen mit einem zentralen Auge auf jeder Fläche, so hätten wir wahrscheinlich schon erbitterte Kriege darüber ausgefochten, ob ein Spiegel eher links/rechts, oben/unten oder vorne/hinten vertauscht (immer vorausgesetzt natürlich, daß es bei den großen Krawattentrageordnungs-Auseinandersetzungen noch Überlebende gegeben hätte).

Grüße,

Wolfgang Flamme

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

15.10.2011 23:27
#7 Spiegelwelt Antworten

Zitat von wflamme
Uns erscheint es wie eine Links-Rechts-Vertauschung, weil wir beim Hineinschlüpfen in unser Spiegelbild unwillkürlich versuchen, Lage und Symmetrie unserer Hauptwahrnehmungsorgane mit geringsten Abweichungen mit unserem Spiegelbild zur Deckung zu bringen. Da unsere linke und rechte Seite einander viel ähnlicher sind als unsere obere und untere, schlüpfen wir eben sorum hinein.

Hm, und wie wird diese psychologische Erklärung damit fertig, daß horizontale Texte in Spiegelschrift erscheinen, daß aber beispielsweise das von oben nach unten geschriebene Wort ATOM auch im Spiegel ganz normal zu lesen ist?

Da scheint doch mehr im Spiel zu sein als Hineinschlüpfen, oder?

Und wie ist es eigentlich bei Astronauten in der ISS, für die es kein oben und unten gibt?

Herzlich, Zettel

Loki Offline



Beiträge: 128

16.10.2011 02:50
#8 RE: Spiegelwelt Antworten

Zitat von Zettel
Hm, und wie wird diese psychologische Erklärung damit fertig, daß horizontale Texte in Spiegelschrift erscheinen, daß aber beispielsweise das von oben nach unten geschriebene Wort ATOM auch im Spiegel ganz normal zu lesen ist?



Zudem wird wohl auch etwa Mr Kilmister feststellen müssen, daß sein Spiegelbild die Warzen rechts trägt.

Nachtrag: Ich halte das inzwischen nicht mehr für eine geeignete Entgegnung auf Wolfgang Flammes Erklärung.

Loki Offline



Beiträge: 128

16.10.2011 18:38
#9 RE: Spiegelwelt Antworten

Zitat von Zettel
Hm, und wie wird diese psychologische Erklärung damit fertig, daß horizontale Texte in Spiegelschrift erscheinen, daß aber beispielsweise das von oben nach unten geschriebene Wort ATOM auch im Spiegel ganz normal zu lesen ist?



Allerdings nur, wenn Sie es um eine vertikale Achse drehen. Drehen Sie es um eine horizontale Achse, so stellt sich die Sache anders dar.

Zitat von Zettel
Und wie ist es eigentlich bei Astronauten in der ISS, für die es kein oben und unten gibt?



Da paßt Wolfgang Flammes Erklärung doch hervorragend: Die Astronauten können im Prinzip frei entscheiden, ob sie beim "Hineinschlüpfen" ins Spiegelbild lieber Links und Rechts oder Kopf und Füße vertauschen möchten.

Mein hauptsächlicher Einwand gegen Flammes Erklärung wäre, daß er der Symmetrie des menschlichen Körpers eine zu große Rolle beimißt. Der Grund für die Bevorzugung vertikaler Rotationsachsen dürfte woanders liegen.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.560

17.10.2011 00:31
#10 RE: Spiegelwelt Antworten

Die einfache Antwort, betreffend die Astronauten der ISS, lautet natürlich: der Mangel an lokaler Schwerkraft hat keine Auswirkungen. Freilich zeigt eine Inaugenscheinnahme der Verhältnisse auf der Internationalen Raumstation, wie hier der Blick ins "Badezimmer"
http://esamultimedia.esa.int/docs/issedu.../t030405r1.html

oder in diesem Rundgang
http://www.youtube.com/watch?v=Uk9ptueTDwY

...daß es dort nirgendwo Spiegel zu geben scheint. Wer weiß, ob sich dahinter ein höchst sinistrer Grund verbirgt...
http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/MirrorMonster

Allerdings dürfte diese Vorsichtsmaßnahme nicht weit tragen. Anders als es in vielen SF-Fernsehserien scheint, sieht man nämlich aus den Fenstern der ISS nicht resplendente Sternenpanoramen (der Mond und vor allem die Erde sind allerdings hell genug, um dies mehr als wettzumachen), sondern wie in nächtlichen irdischen Fenstern nur das Spiegelbild der eigenen Umgebung, wenn auch dunkel und schemenhaft.

Beim Hubble-Weltraumteleskop kommt hinzu, daß dessen Spiegel (auch die Primär- und Sekundärspiegel anderer Satellitenteleskope) kreisförmig sind und somit eher Punkt- als Flächensymmetrie zeigen dürften. Zudem sind dies seelenlose Maschinen - ein Betrachter, der "die Wellenfunktion kollabieren" läßt. kommt erst mit den irdischen Betrachtern ins Spiel. Martin Gardner hat dem Komplex ein eigenes Buch gewidmet: The Ambidextrous Universe (in späteren Erweiterungen: The New Ambidextrous Universe).

Frank Böhmert Offline




Beiträge: 927

21.10.2011 11:06
#11 RE: Literarische Randnotizen (4): Lewis Carroll Antworten

Zitat von Zettel
Was man nicht lesen kann, das sollte man nicht zu lesen versuchen. Um es etwas brutal zu formulieren.


Ach, so ein dickes Fass hatte ich gar nicht aufmachen wollen, werter Zettel. Ich wollte eigentlich nur bestätigen, was für ein feines Buch das ist, das Sie da empfohlen haben.

Und wenn alle interessierten Zimmerleute aufgrund ihrer Sprachkenntnisse in der Lage sind, das Buch im Original lesen können, ist das doch schick. Selbst ich als Belletristik-Übersetzer empfehle den Leuten immer, Bücher im Original zu lesen, soweit sie es können.

Ansonsten ist es beim Übersetzen so wie bei jedem anderen Beruf: Man erreicht keine Perfektion, sondern muss sich mit Annäherungen zufrieden geben. Und wer arbeitet, macht sich die Hände schmutzig, sprich Fehler.

Perfektion erreicht bestenfalls, wer sich Utopien ausdenkt. Wir hier im Zimmer wissen ja, was die wert sind.

Besten Gruß,
Bö.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

21.10.2011 11:49
#12 Übersetzungen Antworten

Zitat von Frank Böhmert
Und wenn alle interessierten Zimmerleute aufgrund ihrer Sprachkenntnisse in der Lage sind, das Buch im Original lesen können, ist das doch schick. Selbst ich als Belletristik-Übersetzer empfehle den Leuten immer, Bücher im Original zu lesen, soweit sie es können.

Ansonsten ist es beim Übersetzen so wie bei jedem anderen Beruf: Man erreicht keine Perfektion, sondern muss sich mit Annäherungen zufrieden geben. Und wer arbeitet, macht sich die Hände schmutzig, sprich Fehler.

Perfektion erreicht bestenfalls, wer sich Utopien ausdenkt. Wir hier im Zimmer wissen ja, was die wert sind.

Sie haben recht. Ich hatte das vielleicht zu apodiktisch formuliert. Deshalb zwei Ergänzungen:

Erstens kann (und wollte) ich nur für mich selbst sprechen. Für mich ist Belletristik vor allem Sprache; die "Handlung" interessiert mich weniger (die Handlung der "Madame Bovary" kann man in ein paar Sätzen zusammenfassen, oder die von "Romeo und Julia auf dem Lande" oder von "Seelandschaft mit Pocahontas").

Und zweitens gilt deshalb das, was ich sage, auch nur für solche Texte, bei denen die Sprachkunst eine zentrale Rolle spielt - also eben beispielsweise bei Flaubert, Gottfried Keller und Arno Schmidt.

Es gibt andere große Autoren, die eine eher dröge Sprache schreiben; Fontane und Kafka, Zola und Dickens zum Beispiel. Sie gehören auch zu meinen Lieblingsautoren, und bei ihnen kann ich mir gute Übersetzungen durchaus vorstellen.

Erst recht gilt das für, sagen wir, Kriminalromane, Science Fiction usw.

Jedenfalls zeitgenössische. Bei Conan Doyle wird es schon wieder kritisch, den viktorisnischen Ton zu treffen.

Herzlich, Zettel

Frank Böhmert Offline




Beiträge: 927

21.10.2011 18:02
#13 RE: Übersetzungen Antworten

Da sind wir uns einig, werter Zettel. Übrigens sehen auch die meisten meiner Kollegen das so, dass man als Übersetzer ab einem gewissen Maß an Sprachkunst des Originals bestenfalls noch "auf hohem Niveau scheitern" kann. Was unsereins dann allerdings sportlich nimmt. Mit solchen Aufträgen verdient man ja kein Geld, die macht man aus Spaß an der Freud.

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