Die Diskussion zur Einwanderung nach Deutschland litt lange daran, daß sie durch das Gegenüber von zwei Positionen beherrscht wurde: Die einen wollten am liebsten gar keine Einwanderung; ja leugneten lange Zeit, daß es sie überhaupt gibt. Die anderen akzeptierten sie, bestritten und verdrängten aber die mit jeder Einwanderung einhergehenden Probleme. In welchem Maß, das hat die Sarrazin-Diskussion gezeigt.
Vielleicht hilft zur Auflockerung der deurtschen Diskussion das, was der Amerikaner George Friedman zu diesem Thema meint.
Er ist dafür kompetent nicht nur als Bürger des Einwanderungslandes USA, sondern als jemand, der selbst aus einer Familie von Einwanderern stammt; seine Familie, die in Ungarn den Holocaust überlebt hatte, floh vor den Kommunisten erst nach Österreich und dann in die USA. Den Einbürgerungseid, den er zitiert, leistete er selbst im Alter von 17 Jahren.
Zitat Aus der Sicht Friedmans sind Geopolitik und Nationalstaat kein Gegensatz, sondern die Geopolitik vollzieht sich zwischen Nationalstaaten.
Mein Lieblingsfeindbild "Nationalstaat" wieder. Und dann behauptet Friedman so etwas ähnliches wie "zwischen Obstsalat und Äpfeln gibt es keinen Gegensatz, sondern Obstsalat vollzieht sich zwischen Äpfeln".
Will sagen, ich kann nicht ansatzweise nachvollziehen, was Friedman hier sagen will. Natürlich vollzieht sich Geopolitik zwischen Staaten - zwischen was denn sonst? Ich wüßte nicht, wer da einen Gegensatz behauptet. Und was nun die "Nationalstaaten" für Friedman speziell kennzeichnet, und warum sie damit geopolitisch anders zu betrachten wären als Nicht-Nationalstaaten, das bleibt offen.
Zitat von R.A.Und was nun die "Nationalstaaten" für Friedman speziell kennzeichnet, und warum sie damit geopolitisch anders zu betrachten wären als Nicht-Nationalstaaten, das bleibt offen.
Vielleicht habe ich Friedman nicht gut referiert, lieber R.A. (Ich weiß nicht, ob der Artikel noch frei zugänglich ist; inzwischen wird ja Stratfor schrittweise neu aufgebaut, und damit auch die Beschränkung des Zugangs für Abonnenten).
Was er meint, ist simpel: Der Nationalstaat ist dadurch gekennzeichnet, daß seine Mitglieder sich als Angehörige einer gemeinsamen Nation fühlen, der sie ihre Loyalität entgegenbringen; das, was er "love of one's own" nennt, die Liebe zum Eigenen.
Es ist eine formale Bindung, die sich aus den Rechten und Pflichten eines Staatsbürgers ergibt; aber es ist eben auch eine affektive Bindung, was Friedman (dem ich völlig zustimme) mit "love" ausdrückt.
Warum eigentlich waren wir Westdeutschen, ohne zu mucken, bereit, hunderte von Milliarden in den Aufbau Ost zu stecken? Warum wären wir - vermutlich - nicht bereit gewesen, entsprechende Summen für, sagen wir, einen "Aufbau Ukraine" zu transferieren?
Nicht-Nationalstaaten sind nur mit Zwang aufrechtzuerhalten. Sie zerfallen, sobald der Zwang wegfällt; wie die UdSSR. Auch die USA wären längst zerfallen, wenn sich die Einwanderer aus England und ihre Nachfahren noch immer als Briten, die Nachfahren der deutschen Einwanderer als Deutsche fühlen würden. Und wenn sie nicht, wie der in Ungarn geborene George Friedman, mit der Einwanderung auch eine neue nationale Identität annehmen würden.
Man kann das ja alles an der Geschichte Osteuropas nach 1990 studieren. Es ist doch bemerkenswert, wie alle die supranationalen Einheiten zerfallen sind und Nationalstaaten entstanden.
Es gibt dazu ja eine Debatte zwischen R.A. und mir hier im "Kleinen Zimmer". Aber die entscheidende Frage ist auch für mich noch unbeantwortet: Was, wenn nicht die Nation, soll genug Bindungswirkung für einen Staat entfalten?
Als Teilzeit-Libertärer, dem ähnlich wie R.A. der Nationalgedanke etwas suspekt ist, verfolge ich mit dieser Frage natürlich jede Menge Hintergedanken. Sie ist enorm wichtig.
-- L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)
Zitat Zettel "Warum eigentlich waren wir Westdeutschen, ohne zu mucken, bereit, hunderte von Milliarden in den Aufbau Ost zu stecken? Warum wären wir - vermutlich - nicht bereit gewesen, entsprechende Summen für, sagen wir, einen "Aufbau Ukraine" zu transferieren?"
Das bedeutete, daß das wenige bis garnicht Mucken bei Eurorettungsmilliarden, wir Deutschen sind schon im europäischen Gedanken aufgegangen und sehen Europa als unsere Nation? Wir Portugiesen, Griechen, Iren, Deutsche ein Volk?
Zitat von ZettelIst das Thema Nationalstaat überhaupt noch aktuell?
Viele Deutsche würden das vermutlich verneinen, wenn man sie danach fragte: Der Nationalstaat, das ist doch, so sehen sie es, tiefstes neunzehntes Jahrhundert. Außerdem, gerade wir mit unserer Geschichte ...
Um sich selbst von den Annehmlichkeiten eines Nationalstaats zu überzeugen, muss man nicht staatenlos werden. Obwohl dies eine kaum zu überbietende Überzeugungskraft in sich trägt. Einer der berühmtesten deutschen Staatenlosen ist Karl Marx, dem es weder an Internationalismus mangelte noch an Reue, die preussische Staatsbürgerschaft abgegeben zu haben. All sein betteln half nichts, er erhielt sie nie zurück. Es reicht eigentlich schon sich auf Reisen zu begeben, und man stellt fest: Staatsbürgerschaft ist nicht gleich Staatsbürgerschaft. Als Deutscher durchquert man Mittel- und Südamerika ohne ein Visum zu benötigen. In jedem Land kann man sich mit einem Stempel einer Grenzstation drei Monate lang aufhalten, ohne irgendwelche Formalitäten. Das gilt auch heute noch für nicht jedes EU Land. Die meist erste Frage bei einem oberflächlichen Kennenlernen ist jene nach der Herkunft. Hier wird die erste Schublade geöffnet. Man sagt: "Ich bin aus Deutschland" und bekommt ein wohlwollendes Lächeln. Der Gegenüber weiß nichts über einen, man könnte alles mögliche sein, abgrundtiefe Charakterschwächen mit sich rumschleppen, aber stattdessen - wird einem ein Vertrauensvorschuss gewährt. Weil man Deutscher ist. Aus keinem anderen Grund. Dies muss einen nicht stolz machen, aber zu schätzen wissen sollte man es schon. Ich werde die mitleidigen Blicke nie vergessen, die ich erntete als ich vor vielen Jahren zwischen Tschechoslowakei und Bulgarien unterwegs war und antwortete: "Ich bin aus der DDR".
Ich denke, die Frage nach dem Nationalstaat wird in den kommenden Jahren zentrale Bedeutung bekommen. Der größte Hemmschuh für eine weitergehende europäische Integration (und damit einhergehende Ausweitung deutscher Haftung z.B. durch Eurobonds) ist Artikel 20 des Grundgesetzes (Deutschland ist ein ... Staat). Diesen wird man nur durch ein Referendum nach Artikel 146GG los (Schäuble hat das schon mehrfach in Interviews angedeutet). Die Frage wird also lauten, wofür die Deutschen ihren Nationalstaat aufzugeben bereit sein werden. Zuviel Identifikation mit dem eigenen Staat ist daher unerwünscht.
Zitat Warum eigentlich waren wir Westdeutschen, ohne zu mucken, bereit, hunderte von Milliarden in den Aufbau Ost zu stecken? Warum wären wir - vermutlich - nicht bereit gewesen, entsprechende Summen für, sagen wir, einen "Aufbau Ukraine" zu transferieren?
Sicher, lieber Zettel! Was aber, wenn wir es gar nicht merken? Haben wir nicht in den letzten fünf Jahren über 500 Milliarden an TARGET-Krediten an die PIIGS-Länder, naja, vergeben ist wohl das falsche Wort. Ist nicht die Fiskalunion der letzte Versuch, dafür wenigstens ein bischen Stabilität zu erhalten, ohne sie noch fordern zu können, denn bei uns wird ja eigentlich bald nichts mehr zu holen sein? Wer hofft, daß ihn der Nationalstaat vor diesem Raub noch schützen kann, der kommt ganz simpel zu spät. Vielleicht wird ja die Nation in Zukunft wieder ein Gefäß für den Zorn und das Ressentiment, sicher ganz anders, als es sich die Väter Europas gedacht haben; aber an diejenigen, die uns den Euro aufgeschwatzt haben, wird kein guter Gedanke mehr bleiben.
Zitat Warum eigentlich waren wir Westdeutschen, ohne zu mucken, bereit, hunderte von Milliarden in den Aufbau Ost zu stecken? Warum wären wir - vermutlich - nicht bereit gewesen, entsprechende Summen für, sagen wir, einen "Aufbau Ukraine" zu transferieren?
Sicher, lieber Zettel! Was aber, wenn wir es gar nicht merken?
Wir merken es ganz sicher nicht. Und wer es denn doch merkt, der kann nichts tun und erkennt staunend (oder resignierend) seine Ohnmacht.
OT: Ich las gestern im SPIEGEL, daß Herr Westerwelle anläßlich eines Gesprächs mit "Ministern" eben mal so wieder 70+ Millionen Euro an den nichtexistenten Palästinenserstaat transferieren wird.
Zitat von Zettel Warum eigentlich waren wir Westdeutschen, ohne zu mucken, bereit, hunderte von Milliarden in den Aufbau Ost zu stecken?
Das hatte ja nur die Spaßbremse Oskar Lafontaine verraten, ansonsten gab es keine Alternative. Außerdem wurde das meiste Geld gar nicht von Westdeutschen in den Osten gepumpt, sondern es wurde über Kredite finanziert. (Dazu gehörte unter anderem auch ein Wohnungsbauprogramm in der Ukraine zur Unterstützung des Abzuges der Roten Armee.)
Zitat von ZettelWas er meint, ist simpel: Der Nationalstaat ist dadurch gekennzeichnet, daß seine Mitglieder sich als Angehörige einer gemeinsamen Nation fühlen, der sie ihre Loyalität entgegenbringen; das, was er "love of one's own" nennt, die Liebe zum Eigenen.
Das ist in meinen Augen die Definition eines funktionierenden und von den Bürgern getragenen Staates. Es ist aber m. E. nicht die Beschreibung des Konzepts "Nationalstaat". Dieses Konzept ist auch recht modern, Friedmans Beschreibung paßt auch auf viele Staaten vorher.
Und auf die Geopolitik bezogen: Die läuft eben weitgehend zwischen Staaten ab. Und zwar recht unabhängig davon, ob diese Staaten nun auf Zwang oder Loyalität beruhen, ob sie als moderne Nationalstaaten konzipiert sind oder nach irgendeinem anderen Schema. Auch die UdSSR war zu Zeit ihres Bestehens ein wesentlicher Akteur der Geopolitik.
Zitat von ZettelWas er meint, ist simpel: Der Nationalstaat ist dadurch gekennzeichnet, daß seine Mitglieder sich als Angehörige einer gemeinsamen Nation fühlen, der sie ihre Loyalität entgegenbringen; das, was er "love of one's own" nennt, die Liebe zum Eigenen.
Das ist in meinen Augen die Definition eines funktionierenden und von den Bürgern getragenen Staates. Es ist aber m. E. nicht die Beschreibung des Konzepts "Nationalstaat". Dieses Konzept ist auch recht modern, Friedmans Beschreibung paßt auch auf viele Staaten vorher.
Es gab vorher, soweit ich sehe, kleinere und größere Einheiten als den heutigen Nationalstaat: Einerseits die Polis, andererseits das Imperium.
Die Polis war aber im Grunde ein Nationalstaat; nur eben in (bedingt durch die damalige Bevölkerungszahl, die Verkehrswege usw.) kleinerer Größenordnung. Aber mit allem, was zu einem Nationalstaat gehört - einer gemeinsamen Identität; der Bereitschaft des Einzelnen, für Sparta, Athen usw. einzustehen. Dic, hospes, Spartae, nos te hic vidisse iacentes, dum sanctis Patriae legibus obsequimur (aus dem Kopf zitiert; ich hoffe, es stimmt ungefähr; Griechisch beginnt es mit O xen' angelle tois Lakedaimonieus 'oti tede ...).
Die Imperien sind aus Nationalstaaten hervorgegangen; oft sogar zuerst Stadtstaaten wie in Babylonien, wenn ich mich recht erinnere. Auch Rom war ja zuerst nur ein Stadtstaat, auch Karthago.
Natürlich, lieber R.A., unterscheidet sich der moderne Nationalstaat von diesen älteren Nationalstaaten. Aber der Nationalstaat ist etwas sehr Altes.
Zitat von ZettelDie Polis war aber im Grunde ein Nationalstaat ...
Das wäre jetzt eine sehr unübliche Definition, um es vorsichtig zu sagen. Die griechischen Poleis waren Gemeinschaften mit starkem Identitätsgefühl - aber wenn es den Begriff "Nation" schon gegeben hätte, dann hätten sich die Polis-Bürger national als Griechen gesehen. Und einen griechischen Nationalstaat hat es ja nicht gegeben.
Nun brauchen wir uns aber nicht um Definitionen zu streiten. Wenn Sie "Nationalstaat" so allgemein benutzen wollen wie Friedman, dann solls mir recht sein. Dann ist halt alles "Nationalstaat", was nicht direkt mit der Knute zusammengetrieben wurde.
Und dieses Konzept ist modern, danach sind die Schweiz oder die USA eben keine Nationalstaaten. Und nur dieses Konzept von Nationalstaat kritisiere ich so vehement. Daß irgendwelche Leute gleicher Sprache und Kultur bevorzugt zusammenglucken und auch Staaten bilden, das halte ich dagegen für normal und harmlos. Aber das ist eben noch nicht "Nationalstaat".
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