Manchmal regen mich Diskussionen hier im kleinen Zimmer dazu an, mich ein wenig um ein Thema zu kümmern, das mich zuvor noch nicht interessiert gehabt hatte. Beispielsweise Tätowierung.
es tut mir ja leid Ihr Weltbild ein bißchen demontieren zu müssen, aber wenn Sie sich mal speziell die Herren ab Pos. 11 ansehen, dann gehören diese doch wohl nicht zur Unterschicht und sind auch nicht von einer aktuellen Modeentwicklung beeinflußt worden.
es tut mir ja leid Ihr Weltbild ein bißchen demontieren zu müssen, aber wenn Sie sich mal speziell die Herren ab Pos. 11 ansehen, dann gehören diese doch wohl nicht zur Unterschicht und sind auch nicht von einer aktuellen Modeentwicklung beeinflußt worden.
Daß diese Herrschaften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine Tätowierung trugen, hatte freilich andere Gründe als den, ihren Körper zu verschönern. Es gab - ich habe das in dem Artikel weggelassen - in der Tat eine Tradition in der britischen Oberschicht, kleine, meist auf die Familientradition bezogene Tätowierungen zu tragen. Man findet das in dem Wikipedia-Artikel, den ich in meinem Artikel verlinkt habe. Der Hintergrund war gewesen, daß Captain Cook den stark tätowierten Polynesier Omai mitgebracht hatte:
Zitat The British Royal Court must have been fascinated with Omai's tattoos, because the future King George V had himself inked with the 'Cross of Jerusalem' when he traveled to the Middle East in 1892. During a visit to Japan he also received a dragon on the forearm from the needles of Hori Chiyo, an acclaimed tattoo master. George's sons, the Dukes of Clarence and York were also tattooed in Japan while serving in the British Admiralty, solidifying what would become a family tradition.
Taking their sartorial lead from the British Court, where Edward VII followed George V's lead in getting tattooed; King Frederick IX of Denmark, the King of Romania, Kaiser Wilhelm II, King Alexander of Yugoslavia and even Tsar Nicholas II of Russia, all sported tattoos, many of them elaborate and ornate renditions of the Royal Coat of Arms or the Royal Family Crest. King Alfonso XIII of modern Spain also had a tattoo.
Tattooing spread among the upper classes all over Europe in the 19th century, but particularly in Britain where it was estimated in Harmsworth Magazine in 1898 that as many as one in five members of the gentry were tattooed. There, it was not uncommon for members of the social elite to gather in the drawing rooms and libraries of the great country estate homes after dinner and partially disrobe in order to show off their tattoos. Aside from her consort Prince Albert, there are persistent rumours that Queen Victoria had a small tattoo in an undisclosed 'intimate' location; Denmark's King Frederick was filmed showing his tattoos taken as a young sailor. Winston Churchill's mother, Lady Randolph Churchill, had a tattoo of a snake around her wrist, which she covered when the need arose with a specially crafted diamond bracelet. Carrying on the family tradition, Winston Churchill had an anchor tattooed on his forearm.
Wieso sollte dies die Argumentation unterlaufen? Bei den genannten Herrschaften handelt es sich um den Ausdruck, einem elitären Klub anzugehören, einem Elitekorps (und daß elitäre Initiationsriten durchaus einem Schlag ins Vulgäre und Derbe zu haben pflegen, davon kann einem jeder Ehemalige der amerikanischen fraternities ein Lied singen). Zudem haben sich die Herrschaften ja nicht als wandelnde Bildsäulen zur Schau gestellt: das ist alles sehr diskret: so um 1900 dürfte selbst einer treusorgenden Gattin verborgen geblieben sein, wenn der Gemahl ein nicht nur metaphorisches, sondern tatsächliches (Arsch-)Geweih trug. Bei George Orwell dürfte es dann aber wohl doch der Wunsch gewesen sein, der Proletarier zu werden, der er dann nie war. Der literarische locus classicus ist übrigens die Rahmenhandlung von Ray Bradburys The Illustrated Man http://de.wikipedia.org/wiki/Der_illustrierte_Mann wobei auch Kritiker, die Bradbury wohlgesonnen sind (doch, das kommt vor) sich einig sind, das diese spezielle "literalized metaphor" ein, nun ja, völliger Rohrkrepierer ist.
[edit] Zettel war vor mir im Ziel: das Photo-Finish zeigt es klar.
ende des 19. und zu beginn des 20. jahrhundert waren tätowierungen gerade in der oberschicht sehr beliebt. in einem text von egon erwin kisch (der auch tätowiert war) outet er zum beispiel miklós horthy, der kisch vor der versenkung der szent istván 1918 eine gewaltige tätowierung auf seiner brust präsentierte. die niederlage der kuk-marine führte horthy später darauf zurück, dass er die tätowierung vor dem gefecht offenbarte. frederik ix. von dänemark war auf brust und armen mit riesigen tätowierungen geschmückt, edward vii. war mit einem drachen tätowiert und george v. nutzte in jungen jahren eine reise nach japan, um sich am linken arm tätowieren zu lassen.
diese leute unterscheiden sich aber in einem wichtigen punkt von den meisten heute tätowierten: sie achteten peinlich darauf, dass die tätowierungen nicht zu sehen waren.
Neben den mannigfaltigen Formen von Tätowierung sind ja auch weitere Formen des Körperschmucks stark auf dem Vormarsch. Piercings an allen möglichen Gesichts- und Körperteilen, Ösen groß wie Ohrringe in den Ohrläppchen, künstliche Fingernägel, hair-extensions, eyelash-extensions und so weiter.
Dies alles ist Ausdruck einer starken kulturellen Veränderung. Ganz leicht zu fassen sind die Hintergründe dafür nicht. Auch die Frage, ob das nun "abscheulich" oder "echt geil" ist, wird sehr unterschiedlich betrachtet werden. Unter jungen Menschen gilt die Entscheidung für ein Tattoo jedenfalls als wichtiger, die Persönlichkeit bildender und aufwertender Entschluß. Ich konnte eine gewisse ehrfürchtige Bewunderung für tätowierte Mädchen in ihrem Umfeld beobachten (allerdings nur aus der gleichen Altersgruppe heraus). Zudem ist es eine beachtliche Investition, wenn 18-20-jährige sich ein etwas größeres Motiv stechen lassen, das kommt gut und gerne auf 200-500 Euro.
Bei der Bewertung der Phänomene müßte man sich wohl fragen, wo dieser Körperschmuck zuerst auftrat (bestimmte kulturelle Nischen, Szenen) - und warum diese Nischen (im Vergleich zu früher) nun den Mainstream prägen. Ich will das nicht weiter ausführen, mangels profunder Kenntnisse. Und in Befürchtung des Borniertheits-Vorwurfs.
Vom Naturvolk über die Tätowierungen katholischer Albaner bis zur franzözischen Unterwelt des 19. Jahrhunderts ist alles enthalten. Ich würde mich nie tätowieren lassen, aber das Buch ist wirklich sehr interessant.
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