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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 21 Antworten
und wurde 1.973 mal aufgerufen
 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

19.04.2012 06:18
Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Nicht nur mir, sondern wahrscheinlich vielen von denen, die den Stammheimer Prozeß miterlebt haben, wird der Unterschied zum Breivik-Prozeß aufgefallen sein.

Tischler ( gelöscht )
Beiträge:

19.04.2012 10:15
#2 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Vor allem der Unterschied bei dieser aufgesetzten Entrüstung. Die gleichen, die sich über die Breivik
eingeräumte Bühne empören, haben nicht eiligeres zu tun als immerfort darüber zu berichten.
Kurbeln also die Produktion von schlechtem "Futter" an, um sich im Nachgang über Qualitäten
zu empören. Ob nun bei den Geiselnehmern von Gladbeck, Günni Grass oder Breivik immer die
gleichen dämlichen Mechanismen. Erst richtig die "Welle" machen und ab Zeitpunkt X parallel dazu
die moralinsaure Keule schwingen. Nee, was sind wir doch für wache, reflektierte, moralisch
vorbildliche Schmierenkomödianten.

Frank Böhmert Offline




Beiträge: 927

19.04.2012 10:57
#3 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Zitat von Zettel
Nicht nur mir, sondern wahrscheinlich vielen von denen, die den Stammheimer Prozeß miterlebt haben, wird der Unterschied zum Breivik-Prozeß aufgefallen sein.


Ich finde, die Norweger können stolz sein auf ihre Gesellschaft. Auch der Großteil der Reaktionen gleich nach den Morden damals war souverän und, wie soll ich sagen, selbstbewusst-demokratisch. Ich bin beeindruckt.

Tischler ( gelöscht )
Beiträge:

19.04.2012 11:42
#4 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Mag sein, daß die Norweger stolz sein können. Ich habe allerdings von einem norwegischen sozialwissenschaftler
gehört, der im Vorfeld von Breivik, vor einer Tat von solcher Brutalität gewarnt hat.
Dieser Mann bekleidet einen staatlichen Posten und ist von der norwegischen Regierung bestellt, Prognosen
Tendenzen über die norw. Gesellschaft abzugeben.
Wenn nun also Stolz angezeigt ist, ist dieser erst durch vorherige Ignoranz ermöglicht worden.

Krischan Offline




Beiträge: 641

19.04.2012 11:47
#5 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Interessant finde ich vor allem die Haltung der Verteidigung, als quasi "objektivste Behörde der Welt" an der Erkundung der Wahrheit (und damit einer möglichen Entlastung des Angeklagten) mitzuarbeiten. Bezeichnend für das in Europa vorherrschende Prozessrecht, bei der die "Wahrheit" ans Licht kommen soll. Ich denke, vor allem vor diesem Hintergrund ist die Frage des amerikanischen Reporters zu sehen. In den common-law-Ländern gibt es ja das adversale Prozessrecht, wo jede Seite ihren Standpunkt beweisen muss, eine Staatsanwaltschaft also per se parteiisch ist. Sind eben zwei grundverschiedene Prozessprinzipien, die hier eben zur Verwirrung führen.

Und es ist eben auch nicht allgemein bekannt, dass ein Prozess, zumindest in Kontinentaleuropa, nicht dazu dient, Angeklagte zu bestrafen, sondern die "Wahrheit" herauszufinden und darauf basierend dann Strafen zu verhängen - oder eben nicht (siehe Kachelmann).

Gegenwärtig ists noch bewundernswert, wie wenig sich die norwegische Justiz instrumentalisieren lässt.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

19.04.2012 14:14
#6 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Zitat von Krischan
Interessant finde ich vor allem die Haltung der Verteidigung, als quasi "objektivste Behörde der Welt" an der Erkundung der Wahrheit (und damit einer möglichen Entlastung des Angeklagten) mitzuarbeiten. Bezeichnend für das in Europa vorherrschende Prozessrecht, bei der die "Wahrheit" ans Licht kommen soll. Ich denke, vor allem vor diesem Hintergrund ist die Frage des amerikanischen Reporters zu sehen. In den common-law-Ländern gibt es ja das adversale Prozessrecht, wo jede Seite ihren Standpunkt beweisen muss, eine Staatsanwaltschaft also per se parteiisch ist. Sind eben zwei grundverschiedene Prozessprinzipien, die hier eben zur Verwirrung führen.

Exakt. Deshalb habe ich den Reporter der NYT auch zitiert, und die Antwort der Staatsanwältin.

Allerdings würden Befürworter des angelsächsischen Prozeßrechts wahrscheinlich argumentieren, daß auch dieses darauf angelegt sei, die Wahrheit herauszufinden. Die Wahrscheinlichkeit dafür sei am besten, wenn Anklage und Verteidiger ihre Positionen darstellten und Richter und Geschworene sich dann ein Bild machten, wessen Argumente sie mehr überzeugten.

Die Schwäche unseres kontinentaleuropäischen Prozeßrechts wurde meines Erachtens gerade im von Ihnen erwähnten Kachelmann-Prozeß deutlich, in dem die Staatsanwaltschaft überhaupt keinen Blick für das Entlastende zu haben schien und die Verteidigung - bis Kachelmann in letzter Minute den Verteidiger auswechselte - schwach war. Auch das Gericht schien lange Zeit von der Schuld Kachelmanns überzeugt zu sein. Was am Ende den Ausschlag für seinen Freispruch gab, weiß man wohl nicht; ich jedenfalls kenne darüber keine Informationen.

Zitat von Krischan
Gegenwärtig ists noch bewundernswert, wie wenig sich die norwegische Justiz instrumentalisieren lässt.

Ja, das finde ich auch. Wobei aber eben auch die Bedingungen für sie ungleich günstiger sind als für die deutsche Justiz damals bei den RAF-Tätern.

Herzlich, Zettel

Krischan Offline




Beiträge: 641

19.04.2012 14:48
#7 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Zitat
Allerdings würden Befürworter des angelsächsischen Prozeßrechts wahrscheinlich argumentieren, daß auch dieses darauf angelegt sei, die Wahrheit herauszufinden. Die Wahrscheinlichkeit dafür sei am besten, wenn Anklage und Verteidiger ihre Positionen darstellten und Richter und Geschworene sich dann ein Bild machten, wessen Argumente sie mehr überzeugten.



Nun, da bin ich geteilter Meinung. Ein adversales Prozessrecht dient eher dazu, einem Richter, viel eher aber noch einer Jury (auch etwas, was das kontinentaleuropäische Recht nicht mehr kennt) genügend Anhaltspunkte für eine Urteilsfindung zu geben. Das mag meistens einer Wahrheit nahekommen, muss es aber nicht, siehe dazu das Konzept des "reasonable doubt". Wichtig hier ist, welche Seite (!) ihren Standpunkt so plausibel wie möglich belegen kann. Indizien, Geständnisse, können da helfen, eine Wahrheitsfindung durch das Gericht findet nicht statt.

Deswegen eignet sich Common Law auch gut fürs Fernsehen, Rede und Gegenrede

Zum Thema Stammheim: Wenn man sich Mitschriften ansieht, aber auch die Bänder anhört, merkt man deutlich, dass der Richter Prinzing klassisch "die Wahrheit" herausfinden will und vor allem am ordnungsgemäßen Prozess interessiert ist, Anwälte und Angeklagte nehmen jedoch nicht die ihnen zugewiesenen Rolle ein, sondern stellen sich eher nach common law als Kontrahenten auf. Das auch mit durchaus komischem Effekt, aber im Resultat führt das dann zur Vermischung von Prozessprinzipien und damit zur Undurchführbarkeit. Fast so wie Männer vom Mars und Frauen von der Venus

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

19.04.2012 21:18
#8 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Zitat von Krischan
einer Jury (auch etwas, was das kontinentaleuropäische Recht nicht mehr kennt)


Das ist nicht ganz richtig. In Österreich ist der Geschworenenprozess für schwere Straftaten und alle politischen Delikte bundesverfassungsgesetzlich vorgesehen (siehe Art 91 Abs 2 B-VG, einfachgesetzlich in §§ 31 Abs 2, 301 ff StPO umgesetzt). Das Problematische am Geschworenenprozess ist, dass sich der von den Laien getroffene Schuldspruch nicht immer juristisch sauber begründen lässt. Dies steht natürlich im Konflikt mit der Gesetzesbindung der Justiz und dem Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren.

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

19.04.2012 22:23
#9 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Zitat von Noricus

Zitat von Krischan
einer Jury (auch etwas, was das kontinentaleuropäische Recht nicht mehr kennt)


Das ist nicht ganz richtig. In Österreich ist der Geschworenenprozess für schwere Straftaten und alle politischen Delikte bundesverfassungsgesetzlich vorgesehen (siehe Art 91 Abs 2 B-VG, einfachgesetzlich in §§ 31 Abs 2, 301 ff StPO umgesetzt). Das Problematische am Geschworenenprozess ist, dass sich der von den Laien getroffene Schuldspruch nicht immer juristisch sauber begründen lässt. Dies steht natürlich im Konflikt mit der Gesetzesbindung der Justiz und dem Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren.



Lieber Noricus,

nehmen Sie es mir bitte nicht übel wenn ich als Laie hier mal nachfrage:
Ein Geschworenenprozess ist für den Angeklagten kein faires Verfahren?
Im Gegensatz zum kontinentalen Prozessrecht, weil sich in diesem der Schuldspruch sauber begründen lässt?
Ist der Maßstab für ein faires Verfahren für den Angeklagten, die saubere Begründung des Schuldspruchs?
Mit Verlaub, da könnte man ja, als Laie natürlich nur, auf die Idee kommen, bei einer blitzsauberen Begründung der Anklage, diese auch gleich als Schuldspruch zu verwenden.

Viele Grüße, Erling Plaethe

vivendi Offline



Beiträge: 663

20.04.2012 01:25
#10 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Zitat von Erling Plaethe
... nehmen Sie es mir bitte nicht übel wenn ich als Laie hier mal nachfrage:
Ein Geschworenenprozess ist für den Angeklagten kein faires Verfahren?


Sowohl Richter als auch Geschworene sind Menschen. Richter müssen manchmal auch gegen ihre eigenen Gefühle entscheiden, wenn z.B. die Wahrheit nicht eindeutig zu finden ist. Geschworene dürfen ihre Gefühle als einzige Rechtfertigung gelten lassen. Gefühle lassen sich allzu leicht manipulieren ...

Was glauben Sie, wie ein Geschworenengericht im Fall Kachelmann entschieden hätte?
Wie urteilen weisse Geschworene in Fall eines vermuteten Mörders schwarzer Hautfarbe? In den USA wurden und werden immer noch Angeklagte aufgrund von Geschworenenurteilen zum Tode verurteilt, obwohl sie in Wahrheit nicht schuldig sind (wie in Wiederaufnahmeverfahren mehrfach bewiesen). Weil es einfacher ist, Geschworene emotional zu beeinflussen als Richter.

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

20.04.2012 13:31
#11 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Zitat von vivendi

Sowohl Richter als auch Geschworene sind Menschen. Richter müssen manchmal auch gegen ihre eigenen Gefühle entscheiden, wenn z.B. die Wahrheit nicht eindeutig zu finden ist. Geschworene dürfen ihre Gefühle als einzige Rechtfertigung gelten lassen. Gefühle lassen sich allzu leicht manipulieren ...


Dass Geschworene nach ihren Gefühlen urteilen würden ist eine Behauptung, die ebensogut den Richter treffen kann. Gerade die Tatsache, dass es sich bei ihnen um eine ganze Anzahl von Personen handelt, macht eine gefühlsgeleitete Entscheidung eher unwahrscheinlich.
Geschworene urteilen nach Sachlage, Richter nach Rechtslage.

Zitat von vivendi
Was glauben Sie, wie ein Geschworenengericht im Fall Kachelmann entschieden hätte?


Kann ich nicht sagen, aber bei einer ungefähren Querschnittsauswahl bei der Besetzung der Jury, wäre "im Zweifel für den Angeklagten" nicht gerade unwahrscheinlich gewesen. Also unschuldig. Die Sachlage in diesem Fall war gekennzeichnet durch eine sehr dünne und fragwürdige Beweislage.

Auch in unserem Rechtssystem kommt es zu Verurteilungen Unschuldiger, Erfahrungen in Österreich zeigen eher zu milde Entscheidungen der Laienrichter. Ich nenne dieses Beispiel nur wegen des Vergleichs Laie/Professioneller.
http://journal.juridicum.at/?c=155&a=2218
Geschworenengerichte repräsentieren die Gesellschaft, den Souverän. Ihre Entscheidung besitzt ein hohes Maß an Akzeptanz in der Bevölkerung und erschwert der Judikative sich durch übertriebende Komplexität und schlechte Nachvollziehbarkeit sich vom Rechtsverständnis des Souveräns zu entfernen.
Und, ohne irgendetwas unterstellen zu wollen, die Jury lässt sich schwieriger korrumpieren.
Mir liegt es fern einer der beiden Rechtsformen die Fairness des Verfahrens abzusprechen, weder der einen noch der anderen. Aber wie gesagt, ich bin Laie und zu einer Beurteilung nicht im Stande. Aber die Feststellung das angelsächsische Rechtssystem biete keine faire Verhandlung für den Angeklagten, ist m.E. nicht haltbar.

Viele Grüße, Erling Plaethe

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

20.04.2012 14:40
#12 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Zitat von Erling Plaethe

Ein Geschworenenprozess ist für den Angeklagten kein faires Verfahren?
Im Gegensatz zum kontinentalen Prozessrecht, weil sich in diesem der Schuldspruch sauber begründen lässt?
Ist der Maßstab für ein faires Verfahren für den Angeklagten, die saubere Begründung des Schuldspruchs?
Mit Verlaub, da könnte man ja, als Laie natürlich nur, auf die Idee kommen, bei einer blitzsauberen Begründung der Anklage, diese auch gleich als Schuldspruch zu verwenden.



Lieber Erling Plaethe,
zum fairen Verfahren gehört natürlich viel mehr als nur eine juristisch saubere Begründung des Schuldspruchs. Zentral ist eine mündliche, unmittelbare, kontradiktorische, öffentliche Verhandlung, d.h. der Angeklagte muss die Möglichkeit haben, die Vorwürfe und die belastenden Beweise vor dem Richter (dem Spruchkörper) zu entkräften und eigene Beweisanträge zu stellen. Das Schwierige an der richterlichen Tätigkeit ist nicht so sehr die rechtliche Beurteilung eines Sachverhalts als vielmehr dessen Feststellung. Und dabei gilt als Beweisregel sehr wohl "In dubio pro reo": Wenn der Richter also nicht voll davon überzeugt ist, dass ein vom Staatsanwalt geltend gemachter, belastender Umstand den Tatsachen entspricht, darf er diesen Umstand dem entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht zugrunde legen. Und diesen entscheidungserheblichen Sachverhalt muss der Richter dann darauf prüfen, ob er im Sinne der in der Anklage genannten Vorwürfe tatbestandsmäßig, rechtswidrig, schuldhaft (im engeren Sinn) und strafwürdig ist. Die die Sachverhaltsfeststellung tragende Beweiswürdigung und die rechtliche Beurteilung sind (juristisch sauber) zu begründen. All das kann man von Laien nicht erwarten. Vielmehr können die Geschworenen die Bestrafung eines Angeklagten vereiteln, der zwar aufgrund der Ergebnisse der Hauptverhandlung zu verurteilen gewesen wäre, der oder dessen Straftat den Geschworenen aber sympathisch ist (was bei politischen Delikten ja bisweilen vorkommen soll). Gegen einen derart unterbliebenen Schuldspruch bzw (in der Terminologie der österreichischen StPO) Wahrspruch kann der Staatsanwalt zwar Nichtigkeitsbeschwerde an den Obersten Gerichtshof erheben. Dieser hebt dann das freisprechende Urteil auf und verweist die Sache an ein anderes Landesgericht. Wenn die "neuen" Geschworenen die Schuld des Angeklagten wiederum verneinen (weil auch sie den Volkshelden schonen wollen), gibt es kein Rechtsmittel mehr. Eine derartige Willkür nimmt das Geschworenensystem in Kauf. Für den anderen Angeklagten, dem die Geschworenen keine Sympathie entgegenbringen, ist es nur ein schwacher Trost, dass die Willkür, von der er nicht, sein Schicksalsgenosse aber sehr wohl profitiert hat, von acht Mitgliedern des Souveräns ausgeht.
LG Noricus

ERP ( gelöscht )
Beiträge:

20.04.2012 16:05
#13 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Hallo lieber Noricus,

halten Sie es für völlig ausgeschlossen, daß Sympathie und Antipathie auch bei der Entscheidung eines Richters eine Rolle spielen? Anders gefragt, läßt sich argumentativ sauber nicht auch Unrecht belegen? Notfalls wäre ein Blick auf Radbruch und die rechtspositivistischen Implikationen des Nazi-Unrechts hilfreich.

Mit freundlichem Gruß

Ernst R.

Wenn alle Experten sich einig sind, ist Vorsicht geboten.
Bertrand Russell (1872-1970)

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

20.04.2012 17:20
#14 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Lieber Noricus,
vielen Dank für Ihre Antwort die ich mit großem Interesse gelesen habe. Auf ein paar Punkte die mir noch "im Magen liegen" will ich noch eingehen:

Zitat von Noricus

Wenn der Richter also nicht voll davon überzeugt ist, dass ein vom Staatsanwalt geltend gemachter, belastender Umstand den Tatsachen entspricht, darf er diesen Umstand dem entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht zugrunde legen.


Dies tut er auch in einem Geschworenenprozeß, auf Antrag der Anklage oder der Verteidigung.

Zitat von Noricus
Und diesen entscheidungserheblichen Sachverhalt muss der Richter dann darauf prüfen, ob er im Sinne der in der Anklage genannten Vorwürfe tatbestandsmäßig, rechtswidrig, schuldhaft (im engeren Sinn) und strafwürdig ist. Die die Sachverhaltsfeststellung tragende Beweiswürdigung und die rechtliche Beurteilung sind (juristisch sauber) zu begründen. All das kann man von Laien nicht erwarten.


Nein, und genau deswegen ist m.E. ein Geschworenenprozess wohl langwieriger, teurer und verständlicher, damit die Geschworenen folgen können. Ich möchte an dieser Stelle aus der von mir verlinkte Seite in der Antwort an vivendi zitieren:

Zitat von Juridicum Journal
Auch für Richard Soyer, Professor am Institut für Strafrecht der Karl-Franzens Universität Graz und Sprecher der Vereinigung österreichischer StrafverteidigerInnen, liegt die überragende Qualität der Geschworenengerichtsbarkeit in der Unmittelbarkeit des Verfahrens.


Die juristischen Begründungen erfolgten ja bereits während des Verfahrens, unter ständiger Aufsicht und - im Antragsfall - auch Beurteilung durch den Richter. Die Entscheidung der Geschworenen ist keine gerechte Entscheidung, sondern ein Urteil nach der von Anklage und Verteidigung dargelegten, vom Richter geprüft und beurteilten, Sachlage. Ein Rechtssystem welches die Geschworenen nicht durchblicken, muss sich fragen lassen, für wen es geschaffen wurde.

Zitat von Noricus
Vielmehr können die Geschworenen die Bestrafung eines Angeklagten vereiteln, der zwar aufgrund der Ergebnisse der Hauptverhandlung zu verurteilen gewesen wäre, der oder dessen Straftat den Geschworenen aber sympathisch ist (was bei politischen Delikten ja bisweilen vorkommen soll). Gegen einen derart unterbliebenen Schuldspruch bzw (in der Terminologie der österreichischen StPO) Wahrspruch kann der Staatsanwalt zwar Nichtigkeitsbeschwerde an den Obersten Gerichtshof erheben. Dieser hebt dann das freisprechende Urteil auf und verweist die Sache an ein anderes Landesgericht. Wenn die "neuen" Geschworenen die Schuld des Angeklagten wiederum verneinen (weil auch sie den Volkshelden schonen wollen), gibt es kein Rechtsmittel mehr. Eine derartige Willkür nimmt das Geschworenensystem in Kauf. Für den anderen Angeklagten, dem die Geschworenen keine Sympathie entgegenbringen, ist es nur ein schwacher Trost, dass die Willkür, von der er nicht, sein Schicksalsgenosse aber sehr wohl profitiert hat, von acht Mitgliedern des Souveräns ausgeht.


Die Geschworenen vereiteln nicht, es sei denn Sie gehen von einem Vorsatz aus. Davon gehe ich wiederum nicht aus. Und ich kann auch keine Willkür sehen.

Viele Grüße, Erling Plaethe

Llarian Offline



Beiträge: 7.117

20.04.2012 19:57
#15 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Zitat von Noricus
Dies steht natürlich im Konflikt mit der Gesetzesbindung der Justiz und dem Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren.


Nach meiner bescheidenen Gerichtserfahrungen ist es nicht unbedingt mein Eindruck, dass ein Verfahren dadurch fairer wird, dass ein Richter eine komplexe Begründung aufschreibt, wie er zu seiner Meinung gekommen ist. Es bleibt im Endeffekt auch eine Meinung, nur das sie mit juristischen Begründungen unterfüttert wird. Es ist mein Eindruck, dass sich eine gegenteilige Entscheidung durchaus und gerade bei Fällen, die nicht glasklar liegen, ebenso formulieren liesse. Wo das nun fairer sein soll wüsste ich nicht.

Dazu kommt, dass gerade in Deutschland sich Justiz und Bevölkerung immer weiter voneinander entfernen. 2 Jahre und Bewährungsstrafe für einen Totschläger und mehrere Jahre ohne Bewährung für jemanden, der Schwarzkopien verteilt hat, mag den deutschen Juristen vermittelbar sein, den meisten Laien ist es das nicht. Jetzt kann man natürlich argumentieren, dass das deutsche Recht (das auch von deutschen Juristen stammt) dies so vorsiegt. Mag sein, aber die Diskrepanz bleibt bestehen. Recht soll auch zur Gerechtigkeit führen meine ich. Wenn es vermehrt Ergebnisse produziert, die nicht vermittelbar sind, dann ist das Recht offensichtlich schwer verbesserungsbedürftig.

ERP ( gelöscht )
Beiträge:

20.04.2012 20:13
#16 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Zitat
Recht soll auch zur Gerechtigkeit führen meine ich.



Hallo Llarian,

Ihre Meinung dürfen Sie freilich haben und auch gerne behalten, zeigt sie doch, daß Sie noch Ideale haben. Die Realität aber ist leider eine völlig andere. Vor Gericht bekommen Sie ein Urteil. Gerechtigkeit gibt es entweder im Jenseits oder gar nicht. Das Einzige, was ein Gericht bieten kann, ist ein Verfahren. Am Ende des Verfahrens steht dann das, was allgemein als "Recht" anerkannt werden soll. Aus dieser Erkenntnis heraus findet man für den im Strafprozess früher im Vordergrund stehenden Gedanken der Sühne eigentlich keine guten Argumente mehr. Vielmehr ist der Resozialisierungsgedanke als Ausprägung des Opferschutzes das zentrale Moment des Strafrechts.

Freundliche Grüße

Ernst R.

Wenn alle Experten sich einig sind, ist Vorsicht geboten.
Bertrand Russell (1872-1970)

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

20.04.2012 21:13
#17 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Zitat von Erling Plaethe
Lieber Noricus,
vielen Dank für Ihre Antwort die ich mit großem Interesse gelesen habe. Auf ein paar Punkte die mir noch "im Magen liegen" will ich noch eingehen:



Lieber Erling Plaethe,
ich danke gleichfalls für Ihre Antwort und möchte auch noch auf einige Punkte eingehen:

Zitat von Erling Plaethe

Zitat von Noricus

Wenn der Richter also nicht voll davon überzeugt ist, dass ein vom Staatsanwalt geltend gemachter, belastender Umstand den Tatsachen entspricht, darf er diesen Umstand dem entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht zugrunde legen.


Dies tut er auch in einem Geschworenenprozeß, auf Antrag der Anklage oder der Verteidigung.




Zumindest für das österreichische System trifft das nicht zu. Im Wahrspruch der Geschworenen werden Tat- und Rechtsfragen beurteilt, d.h. die Geschworenen sprechen über den entscheidungserheblichen Sachverhalt und die diesbezüglichen Rechtsfragen ab. Sollte Sie das näher interessieren, können Sie folgende Entscheidungen des OGH mit Gewinn lesen: 11Os100/92 und 11Os112/98 (diese Geschäftszahlen einfach auf folgender Maske in die Zeile "Geschäftszahl" eingeben: http://www.ris.bka.gv.at/Jus/).

Zitat von Erling Plaethe

Ein Rechtssystem welches die Geschworenen nicht durchblicken, muss sich fragen lassen, für wen es geschaffen wurde.



Ich könnte jetzt natürlich damit antworten, dass auch diejenigen, für die die wissenschaftliche Medizin oder ein Auto geschaffen wurde, diese(s) nicht durchblicken. Damit würde ich Ihrem Einwand aber nicht gerecht: Denn diesem kann ich durchaus etwas abgewinnen, wenn es um das Privatrecht geht. Da würde ich mir manchmal nicht nur vom Gesetzgeber, sondern auch von der Höchstgerichtsbarkeit etwas mehr Klarheit und Verständlichkeit für den Laien wünschen. Aber das Privatrecht regelt nun einmal (in der Regel freiwillig eingegangene) Rechtsbeziehungen zwischen gleichgeordneten Rechtssubjekten. Im Strafrecht steht hingegen der Staat mit seinem Strafanspruch dem Einzelnen gegenüber. Vereinfachungen würden da zweifelsohne auf Kosten eines gerechten Urteils gehen.

Zitat von Erling Plaethe

Die Geschworenen vereiteln nicht, es sei denn Sie gehen von einem Vorsatz aus. Davon gehe ich wiederum nicht aus. Und ich kann auch keine Willkür sehen.



Den Ausführungen in meinem letzten Kommentar liegt ein Fall zugrunde, in dem zwei verschiedene Geschworenenbänke einen "Volkshelden" trotz erdrückender Beweisergebnisse für nicht schuldig erklärt haben. Es fällt schwer, da nicht eine willkürliche Entscheidung zu vermuten.
Darf ich an dieser Stelle vielleicht hinzufügen, dass ich gegenüber der immer wieder geforderten (und z.B. in der österreichischen Umweltverträglichkeitsprüfung schon realisierten) Bürgerbeteiligung an Verwaltungsverfahren noch größere Bedenken habe als gegenüber der Geschworenenbeteiligung im Strafprozess? Sie mögen das anders sehen, aber meiner Ansicht nach birgt Volksbeteiligung an der Vollziehung immer ein Konfliktpotenzial zur rule of law in sich.

LG Noricus

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

20.04.2012 21:31
#18 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Zitat von Llarian

Es bleibt im Endeffekt auch eine Meinung, nur das sie mit juristischen Begründungen unterfüttert wird. Es ist mein Eindruck, dass sich eine gegenteilige Entscheidung durchaus und gerade bei Fällen, die nicht glasklar liegen, ebenso formulieren liesse. Wo das nun fairer sein soll wüsste ich nicht.



Lieber Llarian,
zu fast allen juristischen Fragen gibt es eine herrschende und mindestens eine abweichende Meinung, d.h. das Meiste ist in der Juristerei strittig. Allerdings bilden die Höchstgerichte zu den Rechtsfragen, mit denen sie immer wieder befasst werden, eine ständige Rechtsprechung aus, von der sie allenfalls nach heftiger, fortgesetzter Kritik aus der Lehre abgehen. Die Unterinstanzen halten sich an diese ständige Rechtsprechung, weil ihr Urteil ja sonst im Rechtsmittelverfahren aufgehoben würde. Insofern ist für denjenigen, der den verfahrensgegenständlichen Sachverhalt und die Spruchpraxis der Höchstgerichte kennt, das Urteil vorhersehbar. (Bei noch nicht höchstgerichtlich entschiedenen Rechtsfragen ist das freilich anders.) Diese Vorhersehbarkeit der Vollziehung ist ein wesentliches rechtsstaatliches Element. Vor Gericht soll anders als auf hoher See eben nicht alles möglich sein.

Zitat von Llarian

Dazu kommt, dass gerade in Deutschland sich Justiz und Bevölkerung immer weiter voneinander entfernen. 2 Jahre und Bewährungsstrafe für einen Totschläger und mehrere Jahre ohne Bewährung für jemanden, der Schwarzkopien verteilt hat, mag den deutschen Juristen vermittelbar sein, den meisten Laien ist es das nicht. Jetzt kann man natürlich argumentieren, dass das deutsche Recht (das auch von deutschen Juristen stammt) dies so vorsiegt. Mag sein, aber die Diskrepanz bleibt bestehen. Recht soll auch zur Gerechtigkeit führen meine ich. Wenn es vermehrt Ergebnisse produziert, die nicht vermittelbar sind, dann ist das Recht offensichtlich schwer verbesserungsbedürftig.



Ich bin immer vorsichtig, mich zu solchen, sagen wir mal, Extremurteilen zu äußern, wenn ich den Sachverhalt nicht kenne. Aber wie Sie ja schon sagen: Eine solche Spruchpraxis könnte am wirksamsten der Gesetzgeber verhindern, indem er andere Strafrahmen vorschreibt. Natürlich kann und soll unser Rechtssystem verbessert werden; gleichwohl bin ich der Meinung, dass es besser ist als sein Ruf.

LG Noricus

ERP ( gelöscht )
Beiträge:

20.04.2012 21:38
#19 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Zitat
... unser Rechtssystem ...; gleichwohl bin ich der Meinung, dass es besser ist als sein Ruf.



Guten Abend Noricus,

na, sind Sie da sicher? ;-)
Ich bin es nicht und ein wenig Erfahrung mit unserem Rechtssystem habe ich auch.

Mit freundlichem Gruß

Ernst R.

Wenn alle Experten sich einig sind, ist Vorsicht geboten.
Bertrand Russell (1872-1970)

Llarian Offline



Beiträge: 7.117

20.04.2012 22:56
#20 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Zitat von Noricus
zu fast allen juristischen Fragen gibt es eine herrschende und mindestens eine abweichende Meinung, d.h. das Meiste ist in der Juristerei strittig. Allerdings bilden die Höchstgerichte zu den Rechtsfragen, mit denen sie immer wieder befasst werden, eine ständige Rechtsprechung aus, von der sie allenfalls nach heftiger, fortgesetzter Kritik aus der Lehre abgehen. Die Unterinstanzen halten sich an diese ständige Rechtsprechung, weil ihr Urteil ja sonst im Rechtsmittelverfahren aufgehoben würde. Insofern ist für denjenigen, der den verfahrensgegenständlichen Sachverhalt und die Spruchpraxis der Höchstgerichte kennt, das Urteil vorhersehbar.


Dem würde ich widersprechen, lieber Noricus. Und zwar weil im Endeffekt jeder Fall einzigartig ist. Die Fallkonstellation eines jeden Rechtsstreites oder auch jeder Straftat ist in ihrer Zusammensetzung spezfisch, sonst würden wir die Gerichte ja nahezu nicht brauchen. Und in dem Moment bildet sich der Richter eine Meinung. Und gerade aufgrund der Fülle unterschiedlicher Entscheidungen wird ein belesener Jurist oftmals in der Lage sein, auch einen Transfer aus diesen Fällen zu finden. Welche er dafür heranzieht und wie gewichtet ist ihm überlassen. Und da sind wir dann wieder im Rahmen der persönlichen Einschätzung. Und die unterscheidet einen Richter nicht von einem Laienrichter. Auch ein Richter wird immer versuchen seine Meinung aus der Literatur bestätigt zu sehen. Und bei allen nicht glasklaren Fällen wird ihm das auch gelingen.

Zitat
Vor Gericht soll anders als auf hoher See eben nicht alles möglich sein.


Wenn wir nicht allzu atheistisch sein wollen, war das glaube ich Gottes Hand.

Zitat
Eine solche Spruchpraxis könnte am wirksamsten der Gesetzgeber verhindern, indem er andere Strafrahmen vorschreibt.


Hat der Gesetzgeber es wirklich vorgesehen, dass nahezu jeder, der noch nicht 21 ist vor Gericht ein Jugendlicher ist ? Hat der Gesetzgeber es vorgesehen, dass nahezu jede strittige Sorgerechtsentscheidung zugunster der Mutter ausgeht ? Hat es der Gesetzgeber wirklich vorgesehen, dass jugendliche Intensivtäter Dutzende von Straftaten begehen müssen, bevor sie das erste mal wirksame Sanktionen spüren ? Es gibt eben nicht nur Gesetze, es gibt auch Richter, die diese auslegen. Es war auch mal Gesetzes Wille, dass Abmahnen für Filesharing im privaten Rahmen nicht mehr als 100 Euro kosten sollten. Was die Richter des berüchtigten Landgerichtes Köln nicht daran hindert schon für ein einziges Lied (!) einen gewerblichen Rahmen zu unterstellen (Es verbleibt des Geheimnis jenen Gerichtes was dann privates Filesharing sein soll). Von Rechtskonstrukten wie dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (schönen Gruss aus Hamburg) noch nicht einmal angefangen. Richter schaffen erheblich mehr Recht als eigentlich sein sollte. Und da Richter gegenüber niemandem Rechenschaft ablegen müssen, tun sie das recht selbstherrlich. Wie gesagt, mein Emfinden.

Zitat
Natürlich kann und soll unser Rechtssystem verbessert werden; gleichwohl bin ich der Meinung, dass es besser ist als sein Ruf.


Das kann ich weder aus persönlicher Erfahrung noch aus dem, was ich so lese, bestätigen.

ERP ( gelöscht )
Beiträge:

20.04.2012 23:30
#21 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Lieber Llarian,

mit Ihnen bin ich der Meinung, daß unser Rechtssystem nicht besser ist als sein Ruf. Aber unsere Beweggründe unterscheiden sich doch erheblich. Anders als Sie bin ich davon überzeugt, daß der Ausgang eines Verfahrens sehr wohl anhand der höchstrichterlichen Spruchpraxis vorausgesagt werden kann. Dies ist tägliche Arbeitspraxis jedes guten Anwalts. Könnte er dies nicht, würde er sich permanent hohen Haftungsrisiken aussetzen. Die Unwägbarkeiten ergeben sich meist weniger aus den rechtlich zu ziehenden Folgen eines konkreten Lebenssachverhaltes als vielmehr daraus, daß ein Geschehensablauf auch bewiesen werden muß und zwar sowohl im Zivilprozeß als auch im Strafprozeß oder anderen Verfahren vor Verwaltungsgerichten, Sozialgerichten etc.

Was den Ruf unserer Gerichte belastet, ist weniger der populistische Aufschrei, wenn wieder einmal ein böser Junge milde davon kommt. Diese Plärrer finden sich überall und kennzeichnend für sie ist das Fehlen jeglicher Sachkenntnis.

Belastend für den Ruf der Gerichtsbarkeit sind meist sehr praktische Defizite, lange Verfahrensdauern, Gutachterlastigkeit von Verfahren, damit zusammenhängende Verfahrenskosten etc. etc. etc.

Darüber beklagen sich freilich weniger die typischen Rezipienten der Boulevardpresse als eher jene, die zumindest hin und wieder mit Gerichten zu tun haben, sei es als Teile der Rechtspflege oder als Unternehmer mit säumigen Kunden.

Freundliche Grüße

Ernst R.

Wenn alle Experten sich einig sind, ist Vorsicht geboten.
Bertrand Russell (1872-1970)

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

21.04.2012 20:20
#22 RE: Marginalie: Breivik-Prozeß und Stammheimer Prozeß Antworten

Zitat von Llarian

Dem würde ich widersprechen, lieber Noricus. Und zwar weil im Endeffekt jeder Fall einzigartig ist. Die Fallkonstellation eines jeden Rechtsstreites oder auch jeder Straftat ist in ihrer Zusammensetzung spezfisch, sonst würden wir die Gerichte ja nahezu nicht brauchen. Und in dem Moment bildet sich der Richter eine Meinung. Und gerade aufgrund der Fülle unterschiedlicher Entscheidungen wird ein belesener Jurist oftmals in der Lage sein, auch einen Transfer aus diesen Fällen zu finden. Welche er dafür heranzieht und wie gewichtet ist ihm überlassen. Und da sind wir dann wieder im Rahmen der persönlichen Einschätzung. Und die unterscheidet einen Richter nicht von einem Laienrichter. Auch ein Richter wird immer versuchen seine Meinung aus der Literatur bestätigt zu sehen. Und bei allen nicht glasklaren Fällen wird ihm das auch gelingen.


Lieber Llarian, natürlich entscheiden Richter immer im Einzelfall, auch Höchstrichter. Doch alle orientieren sich dabei an den (über den Einzelfall hinausweisenden) Rechtssätzen der Höchstgerichte. Diese Rechtssätze sind manchmal sehr lang, manchmal sehr kurz wie z.B. der folgende Rechtssatz des Obersten Gerichtshofs (RS0018326): "Die Erklärung des Rücktrittes vom Vertrage beinhaltet eine Annahmeverweigerung." Wenn unser erstinstanzlicher Richter nun beurteilen muss, ob der beklagte Käufer K, der eine unwirksame Rücktrittserklärung abgegeben hat, in Annahmeverzug geraten ist, wird er sich an diesen Rechtssatz halten und nicht an die abweichende Meinung, die der bekannte Jura-Professor J in einem Artikel publiziert hat. Warum? Die Berufungsinstanz wird ein auf die Meinung von J gestütztes Urteil mit Verweis auf den genannten Rechtssatz wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung aufheben. Tut dies das Berufungsgericht nicht, so macht es der OGH in der Revision selbst. Für den Richter ist die Aufhebung seines Urteils eine fachliche Demütigung. Häufen sich solche Ohrfeigen in den Rechtsmittelinstanzen, wird dies seinen Karrierechancen nicht gerade förderlich sein.
Das unvorhersehbare Element in einem Urteil ist die Beweiswürdigung bei nicht ganz klarer Sachlage. Denn hier hat der Richter einen großen Spielraum.

Zitat
Hat der Gesetzgeber es wirklich vorgesehen, dass nahezu jeder, der noch nicht 21 ist vor Gericht ein Jugendlicher ist ? Hat der Gesetzgeber es vorgesehen, dass nahezu jede strittige Sorgerechtsentscheidung zugunster der Mutter ausgeht ? Hat es der Gesetzgeber wirklich vorgesehen, dass jugendliche Intensivtäter Dutzende von Straftaten begehen müssen, bevor sie das erste mal wirksame Sanktionen spüren ?


Ich würde gern einmal Statistiken sehen, die belegen, dass Gerichte nahezu jedes Mal wie von Ihnen geschildert entscheiden. Und wenn dem so sein sollte: Zumindest den Fällen 1 und 3 könnte der Gesetzgeber völlig problemlos abhelfen.

Zitat
Es war auch mal Gesetzes Wille, dass Abmahnen für Filesharing im privaten Rahmen nicht mehr als 100 Euro kosten sollten. Was die Richter des berüchtigten Landgerichtes Köln nicht daran hindert schon für ein einziges Lied (!) einen gewerblichen Rahmen zu unterstellen (Es verbleibt des Geheimnis jenen Gerichtes was dann privates Filesharing sein soll).


Was man in der Juristerei unter Gewerbsmäßigkeit versteht, ist in § 70 öStGB anschaulich definiert (im dStGB fehlt meines Wissens eine Legaldefinition): Gewerbsmäßig begeht eine strafbare Handlung, wer sie in der Absicht vornimmt, sich durch ihre wiederkehrende Begehung eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen.
D.h. es kommt auf die Absicht an; die kann freilich schon bei der ersten Begehung vorliegen. Sie können dem LG Köln also nicht vorwerfen, dass es bei einem Ersttäter gewerbsmäßiges Handeln feststellt. Sie könnten dem LG Köln vorwerfen, dass es bei diesem Ersttäter gewerbsmäßiges Handeln feststellte, obwohl Ihrer Meinung nach die Voraussetzungen dafür nicht gegeben waren.

Zitat
Richter schaffen erheblich mehr Recht als eigentlich sein sollte.


Da kann ich Ihnen nicht ganz widersprechen. Die Grenze zwischen Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung wird leider manchmal überschritten. Einer unerwünschten Rechtsfortbildung könnte der Gesetzgeber aber wiederum abhelfen.

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