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ZETTELS KLEINES ZIMMER

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Dieses Thema hat 12 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.07.2012 15:48
Zitate des Tages:Wahlen in Libyen Antworten

Als ich gestern und heute die Berichte von den jubelnden Libyern hörte und sah, mußte ich an Bagdad, Dezember 2005, denken. Daraus ist dieser Artikel hervorgegangen.

AldiOn Offline




Beiträge: 983

08.07.2012 18:35
#2 RE: Zitate des Tages:Wahlen in Libyen Antworten

Interessant wäre ja mal die Frage wo das Geld aus den Erdölexporten hingeht (bekommt Al-Kaida auch was ab). Natürlich verschwindet das Geld selbst bei zentraler Einnahmeverwaltung nach den dortigen Bedingungen in alle möglichen Kanäle. Aber wenn die Regierung - soweit diese überhaupt existiert - zumindest die Kontrolle darüber hätte, wäre schon eine Perspektive da.
Sagt Stratfor was dazu?

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.07.2012 18:55
#3 RE: Zitate des Tages:Wahlen in Libyen Antworten

Zitat von AldiOn im Beitrag #2
Interessant wäre ja mal die Frage wo das Geld aus den Erdölexporten hingeht (bekommt Al-Kaida auch was ab). Natürlich verschwindet das Geld selbst bei zentraler Einnahmeverwaltung nach den dortigen Bedingungen in alle möglichen Kanäle. Aber wenn die Regierung - soweit diese überhaupt existiert - zumindest die Kontrolle darüber hätte, wäre schon eine Perspektive da.
Sagt Stratfor was dazu?
Ja. Diesem Thema ist der Artikel sogar hauptsächlich gewidmet.

Gegenwärtig gehen die Zahlungen von ENI noch an den Nationalen Übergangsrat, was zu heftigen Protesten geführt hat: Dessen Mitglieder würden sich von dem Geld persönlich bereichern.

Wegen der unsicheren Lage hat Shell seit Mai dieses Jahres seine Aktivitäten in Libyen eingestellt. BP konzentriert sich auf die Offshore-Förderung, die nicht von lokalen Machthabern abhängig ist.

Stratfor erwartet, daß diejenigen, die weiter im Libyen-Geschäft sein wollen, keine Wahl haben, als ihre Zahlungen (auch) an die jeweiligen "regional oil authorities, regional political bodies, militia commanders and possibly tribesmen" zu leisten.

An die Kaida hoffentlich nicht. Diese kontrolliert ja keine Gebiete, sondern ist nur in Ostlibyen in Form bewaffneter Gruppen aktiv.

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

13.07.2012 02:19
#4 Die Lage knapp eine Woche nach den Wahlen Antworten

Zitat von Zettel im Beitrag #1
Als ich gestern und heute die Berichte von den jubelnden Libyern hörte und sah, mußte ich an Bagdad, Dezember 2005, denken. Daraus ist dieser Artikel hervorgegangen.

Seither gab es ausgesprochen positive Meldungen über diese Wahlen in den deutschen Medien. Allerdings nur Anfang der Woche; dann kam kaum noch etwas. Deshalb hier ein, sagen wir, Sachstandsbericht.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

14.07.2012 03:29
#5 RE: Die Lage knapp eine Woche nach den Wahlen Antworten

Zitat von Zettel im Beitrag #4
Zitat von Zettel im Beitrag #1
Als ich gestern und heute die Berichte von den jubelnden Libyern hörte und sah, mußte ich an Bagdad, Dezember 2005, denken. Daraus ist dieser Artikel hervorgegangen.

Seither gab es ausgesprochen positive Meldungen über diese Wahlen in den deutschen Medien. Allerdings nur Anfang der Woche; dann kam kaum noch etwas. Deshalb hier ein, sagen wir, Sachstandsbericht.
Inzwischen wurde zwar noch nicht ein Endergebnis, aber eine wahrscheinliche Sitzverteilung bekanntgegeben. Ich habe das zum Anlaß genommen, den Artikel zu aktualisieren; auch wegen eines Intervies mit Dschibril, das CNN gestern brachte.

Die Einschätzung in meinen bisherigen Berichten zu Libyen wird dadurch bestätigt: Wer das Land künftig regiert, ist derzeit völlig offen; und wer immer es regiert, wird wenig Macht gegenüber den lokalen Kräften haben.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

17.07.2012 02:31
#6 Dschibrils Chancen schwinden Antworten

Was im ersten in diesem Thread verlinkten Artikel zu lesen war, scheint sich immer mehr zu bestätigen: Dschibrils als liberal geltende Partei NFA hat zwar überraschend gut abgeschnitten; aber an die Macht wird sie wohl dennoch nicht kommen.

Diese dürfte, wie in Tunesien und Ägypten, auch in Libyen Islamisten zufallen.

Krischan Offline




Beiträge: 641

17.07.2012 07:52
#7 RE: Dschibrils Chancen schwinden Antworten

Interessant ist, und das haben wir mit unserer westlich-nationalen Sichtweise eher nicht auf dem Bewusstseinsradar, dass die sozialen Strukturen im Orient sich sehr stark an Stämmen orientieren. Ein Nationalbewusstsein als Syrer, Jordanier, Iraki oder auch Libyer existiert nur äußerst rudimentär (als Ägypter noch eher) - viel wichtiger sind die traditionellen Stämme (hier wiederum ist Karl May hilfreich ).
Und so werden Wahlen auch nicht anhand eines Wahlprogramms, ob islamistisch oder freiheitlich, entschieden, sondern anhand der Zugehörigkeit zum eigenen Stamm (heute heisst das ja gerne Clan). Und nach dem Machtzugewinn, der mit einer Position im Parlament oder in einer sonstigen Behörde oder Organisation verbunden ist. Machtzugewinn bedeutet Zugriff auf Ressourcen oder Konten, um den eigenen Stamm zu fördern. Und genau das passiert in allen diesen Ländern. Eine ganz dünne Schicht Demokratie, darunter lauert die Stammesgesellschaft.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

17.07.2012 18:19
#8 Heute wird das Wahlergebnis verkündet Antworten

Zitat von Zettel im Beitrag #6
Was im ersten in diesem Thread verlinkten Artikel zu lesen war, scheint sich immer mehr zu bestätigen: Dschibrils als liberal geltende Partei NFA hat zwar überraschend gut abgeschnitten; aber an die Macht wird sie wohl dennoch nicht kommen.
Jetzt meldet der Libya Herald, daß das vorläufige amtliche Endergebnis heute Abend um 20 Uhr bekanntgegeben werden soll.

Die Verzögerung erklärt die zentrale Wahlkommission damit, daß bei 74 Wahllokalen in 8 Stimmbezirken Unstimmigkeiten aufgetreten waren, so daß eine neue Auszählung erforderlich wurde. Es ging nicht um den Vorwurf des Wahlbetrugs, sondern es fehlten Ergebnislisten oder Teile von Listen.



Ich wundere mich ein wenig über das geringe Interesse an diesen Wahlen; in den deutschen Medien und auch hier im kleinen Zimmer.

Wenn es irgendwo knallt, dann ist das Interesse groß. Libyen war wochenlang in den Schlagzeilen, solange gekämpft wurde, obwohl doch das Ergebnis - der Sturz Gaddafis - angesichts der militärischen Übermacht der Nato überhaupt nicht in Zweifel stand.

Jetzt findet das statt, was für die Zukunft Libyens genauso wichtig ist, und das Ergebnis ist, anders als während der Kämpfe, völlig offen: Eine Regierungsbildung nach Wahlen.

Wird Libyen als einziges Land, in dem der "Arabische Frühling" zu einem Umsturz geführt hat, von der Herrschaft der Islamisten verschont bleiben, wie es unsere Medien gemeldet haben? Oder geht es (was ich nach ein wenig gründlicherem Nahsehen befürchte) auch dort in Richtung Scharia?

Das sollte doch eigentlich interessieren. Aber ich würde mich sehr wundern, wenn heute Abend die Bekanntgabe des Wahlergebnisses Schlagzeilen machen oder in den TV-Nachrichten an vorderster Stelle gemeldet werden würde.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

17.07.2012 18:31
#9 Stämme Antworten

Zitat von Krischan im Beitrag #7
Machtzugewinn bedeutet Zugriff auf Ressourcen oder Konten, um den eigenen Stamm zu fördern. Und genau das passiert in allen diesen Ländern. Eine ganz dünne Schicht Demokratie, darunter lauert die Stammesgesellschaft.

Grundsätzlich stimme ich zu; würde es allerdings, lieber Krischan, für die einzelnen Länder etwas differenzieren.

Sie weisen zu Recht darauf hin, daß es für Äypten kaum gilt. Die Stämme sind im wesentlichen Nomadenstämme, und Nomaden spielen im Land des Nils kaum eine Rolle.

Für Libyen gilt es uneingeschränkt; hier ist die einzige gewachsene politische Einheit der Stamm; überlagert nur durch die regionale Trennung in Tripolitanien und die Cyrenaika sowie das Hinterland Fezzan aufgrund der Geschichte; zurückreichend bis in die Antike.

Im Irak ist es von Provinz zu Provinz verschieden. Im städtischen Süden (der alten osmanischen Provinz Basra) spielen Stämme kaum eine Rolle, wohl aber im Nordwesten (der alten Provinz Bagdad), wo die Kaida teilweise erfolgreich mit sunnitischen Nomaden paktierte. Im Norden (der alten Provinz Mossul) gibt es bei den Kurden nicht eigentlich Stämme, aber Herrschaftsclans.

In Syrien mit seiner alten städtischen Kultur spielen Stämme, soweit ich sehe, kaum eine Rolle. Es ist ja, neben dem Libanon, der modernste Staat der Region. Hier geht es vorrangig um die Religion und vor allem um Familienclans, wie auch im Libanon.

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

18.07.2012 01:45
#10 Das Ergebnis Antworten

Zitat von Zettel im Beitrag #8
Jetzt meldet der Libya Herald, daß das vorläufige amtliche Endergebnis heute Abend um 20 Uhr bekanntgegeben werden soll.
Es ist so, wie nach den Zwischenergebnissen zu erwarten gewesen war:

Von den 200 Sitzen gingen gemäß dem Wahlgesetz 80 an Parteien. Davon erhielt Dschibrils NFA 39, die der Moslem-Bruderschaft nahestehende J&C 17 und sonst keine Partei mehr als 3 Sitze. Ingesamt teilen sich 21 (!) Parteien diese 80 Sitze; wobei die NFA selbst eine Allianz aus mehr als 50 Parteien ist.

Wohin die 120 als Einzelbewerber gewählten Abgeordneten, die über die Regierung entscheiden werden, tendieren, ist noch nicht bekannt.

Krischan Offline




Beiträge: 641

18.07.2012 09:40
#11 RE: Stämme Antworten

Zitat von Zettel im Beitrag #9
In Syrien mit seiner alten städtischen Kultur spielen Stämme, soweit ich sehe, kaum eine Rolle. Es ist ja, neben dem Libanon, der modernste Staat der Region. Hier geht es vorrangig um die Religion und vor allem um Familienclans, wie auch im Libanon.



Lieber Zettel,

was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Stamm und einem Herrschaftsclan? Aus meiner Sicht ist das fast bedeutungsgleich, es spielt bei einem Clan die familiäre Beziehung vielleicht eine größere Rolle, aber die Grenze zwischen Großfamilie und kleinem Stamm ist da fließend. Für mich ist hier entscheidend, dass der Westen offenbar keine Strategie hat, mit dieser kleinteiligen Interessenkultur umzugehen außer durch das Prinzip "Teile und herrsche". Und wieder einmal erweist sich Demokratie als Trugbild - eine funktionierende Demokratie setzt voraus, dass Entscheidungen anhand von Sachfragen getroffen werden (jedenfalls größtenteils und als allgemeines Ziel akzeptiert) und eben nicht als Entscheidungsinstrument für Machtverteilung. Genau das passiert aber in allen Ländern, in denenen Stamm- oder Clan-Strukturen nationale Identitäten überlagern.

Siehe Afghanistan. Siehe Irak. Siehe Libanon (dort etwas abgemildert durch die religiösen Differenzen zwischen Sunniten, Schiiten und Drusen/Maroniten). Siehe Libyen. Siehe Jemen. Und für Tunesien, Algerien, Marokko etc. erwarte ich auch, dass sich der dünne Lack der Nationalstruktur zugunsten der älteren, wesentlich robusteren Stammestrukturen verändert. Die Demokratie schafft dafür paradoxerweise die besten Voraussetzungen.

LD Offline



Beiträge: 13

18.07.2012 13:08
#12 RE: Stämme Antworten

Lieber Krischan,

ich sehe nicht die Demokratie an sich als eine an sich schlechte Wahl für derart zersplitterte Staaten an. Dass die Wähler sich eher an Hand von Stammesloyalitäten als Interessenskonflikten orientieren ist in einer repräsentativen Demokratie noch kein Problem für sich, so lange das System insgesamt hinreichende Anreize für die Repräsentanten setzt, an der Bearbeitung von Sachfragen mitzuwirken statt lediglich die eigene Machtbasis zu stärken. (Ganz vermeiden lässt sich letzteres natürlich nie.)

Das Problem liegt in meinen Augen eher daran, dass wir beim Wort Demokratie zu engstirnig sofort an eine klassische Konkurrenzdemokratie mit Regierung und Opposition denken, das von vielen neuen Demokratien leider meiner Meinung nach viel zu unreflektiert übernommen wird. In dem Fall ist tatsächlich die Gefahr sehr hoch, dass ethnische oder religiöse Minderheiten marginalisiert werden, was letzten Endes nicht nur aus liberal-idealistischer Perspektive nicht wünschenswert ist, sondern häufig auch durch fehlende Akzeptanz zu einer Destabilisierung des gesamten Staatswesens führt.

Das ist aber nicht der einzige Weg, nach dem ein demokratischer Staat funktionieren kann. Ein prominentes und gut funktionierendes Beispiel dafür ist (oh, Wunder!) mal wieder die Schweiz mit der „Zauberformel“, wodurch alle großen Parteien auch an der Bundesregierung beteiligt sind. Ähnliche Ansätze gibt es auch in Bosnien-Herzegowina mit dem dreiköpfigen Präsidium, das aus einem Serben, einem Kroaten und einem Bosniaken besteht, oder im Libanon wo gewisse Staatsämter bestimmten religiösen Gruppierungen vorbehalten sind.

Tischler ( gelöscht )
Beiträge:

18.07.2012 21:15
#13 RE: Stämme Antworten

Ich hörte im Radio die Ergebnisse einer Untersuchung über Grundbedingungen zur Etablierung demokratischer Strukturen in Staaten.
Leider sehr verkürzt und einen seriösen Link kann ich ebenfall( leider ) nicht bieten. Das Ergebnis lautete.
Allgemeiner Wohlstand, ich nahm an das allgemeiner Zugang zu Bildung implizit war. Der Vortrag war in sich schlüssig.
Wenn ich mir allerdings Stammes- oder Clangesellschaften ansehe fehlt meiner Ansicht nach noch die Akzeptanz von
Recht.
Wenn ich mir eine Struktur vorstelle in der die Familie vor allem kommt und über allem steht und so stellen sich mir
arabische Gesellschaften dar, steht doch das allg. Recht sofort zur Disposition wenn es sich gegen die Interessen
eines Familienmitgliedes richtet.
Beispiel: Wird der eine Cousin dem anderen Cousin den Bauantrag ablehnen, nach gültigem Recht natürlich, wenn er weiß,
dass er familienintern nichts mehr zu lachen hat, oder sogar selbst das "neue" Wertegefüge nicht als selbstverständlich
erachtet?

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