Den am Schluß meines Beitrags verlinkten Artikel vom Juli 2007 "Warum ich Agnostiker bin, aber kein Atheist" hatte ich in Erinnerung gehabt; aber nicht, daß er stilistisch so mißglückt gewesen war. Ich habe ihn jetzt gründlich überarbeitet.
ein guter Freund von mir ist Kunsthistoriker und erzählt immer mit Grauen darüber, wie junge Studenten dieses Faches an sehr einfachen Bildinterpretationen scheitern, da sie nicht in der Lage sind, biblische Referenzen zu erkennen.
Ich denke, dass außerhalb des einschlägig gläubigen Bereiches die Bibel und das Christentum oft nicht mehr als wert betrachtet wird, sich mit ihr zu beschäftigen. Vulgäratheismus und Antiklerikalismus mögen dazu eine Menge beigetragen haben.
Andererseits: Gibt es noch weitere Traditionen, die - abgesehen von gewissen Enthusiasten - auf breiter Basis gepflegt werden? Oder leben wir in einer Phase, die uns nur eingebläut hat, "aus der Geschichte zu lernen", in dem wir alles anders machen?
Gruß Petz
"The problem with quotes from the Internet is that it is difficult to determine whether or not they are genuine" - Abraham Lincoln
Unlängst habe ich Manfred Fuhrmanns "Bildung" gelesen, der schon vor zehn Jahren auf genau dieses Problem hingewiesen hat.
Dazu führt er noch aus, was er im Lehrplan für evangelische Religion in Württemberg in der Fassung von 1993 findet.
Zitat von Manfred FuhrmannDieses [das württembergische Beispiel] enthält für die beiden oberen Klassen des Gymnasiums sechs Pflichtkurse. Hiervon hat allein der letzte - "Jesus Christus" - ein massives biblisches Fundament; er stützt sich vor allem auf die Synoptiker. Die übrigen Pflichtkurse bieten Sachgebiete an, die durch moderne Begriffe umschrieben sind: "Glaube und Naturwissenschaft", "Kirche in der Welt von heute - der Öffentlichkeitsauftrag der Christen", "Soziale Gerechtigkeit - Einführung in die Sozialethik", "Gottesglaube - Atheismus" und "Was ist der Mensch?". Die Beschreibungen dieser Kurse begnügen sich in vier Fällen damit, auf Konglomerate von Bibelstellen, buntgemischt aus verschiedenen Teilen des Alten und Neuen Testaments, zu verweisen; der fünfte verzichtet auch hierauf. Wenn man sich nun von den beiden Oberklassen nach rückwärts wendet, dann trifft man überall ähnliche Verhältnisse an: Die Sachthemen, auch "problemorientierter Unterricht" genannt, herrschen vor, und die biblischen Themen bilden eine kleine Minderheit. In Klasse 11 steht ein lapidar "Die Bibel" benannter Kurs obenan; für die Jahrgänge der Mittelstufe ist nur ein einziges Bibelpensum verzeichnet: das Theodizeeproblem, das an Hand von Hiob behandelt werden soll.
-- Defender la civilización consiste, ante todo, en protegerla del entusiasmo del hombre. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
Zitat von Meister Petz im Beitrag #2Oder leben wir in einer Phase, die uns nur eingebläut hat, "aus der Geschichte zu lernen", in dem wir alles anders machen?
Ja, natürlich tun wir das. Wobei es für das "alles anders machen" natürlich gut wäre, wenn man ein Verständnis für die Geschichte hätte, das über blosse Parolen hinausgeht.
-- Defender la civilización consiste, ante todo, en protegerla del entusiasmo del hombre. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
was halten Sie von folgender These: Das Wissen um die Bibel als (literarische) Grundlage vieler sozialer Zusammenhänge und Einrichtungen geht also allmählich verschütt. Dies ist aber weder verwunderlich noch außergewöhnlich.
In einer säkulare(re)n oder zumindest sich von unserer religiösen Tradition entfernenden Gesellschaft ändert sich nun einmal der soziale Code; Erkennungs- und Zugehörigkeitesmerkmale verschieben sich. Die Bibel gehört einfach nicht mehr zum Repertoire, über das man verfügen muss, wenn man nach außen hin als formal gebildet erscheinen möchte. Sie wird (bezogen auf Nicht-Christen) damit nur noch zur Domäne der ohnehin kulturell Interessierten. So, wie zum Beispiel ab der Mitte des 19. Jahrhunderts von Schopenhauer über Thoreau bis zu Hesse Themen der indischen Philosophie aufgriffen werden. Eine esoterische Beschäftigung eben.
Sie könnten einwenden, der Unterschied zwischen Bibel und Sanskrit-Literatur sei aber, dass erstere uns eigen sei, während z.B. die Bhagavad Gita einen Fremdimport darstelle. Freilich, die Bibel war dies auch einmal. Das "Abendland" war ursprünglich kein christliches, sondern ein griechisch-römisches (oder ein heidnisch-germanisches), dessen antike Wurzeln zeitweise ebenso verschütt gegangen waren und gleich mehrfach wiederentdeckt wurden, nachdem sie zwischenzeitlich von einer orientalisch-christlichen Erzählwelt nahezu komplett überlagert worden waren.
Was ich sagen möchte: Diese Dinge sind in der Tat veränderlich. Es ist peinlich, wenn ein Student der Kunstgeschichte seine Fresken nicht mehr versteht, aber ebenso peinlich ist es, wenn Cicero unter Lateinschülern der Epoche zwischen Gregor dem Großen und Petrarca nahezu unbekannt ist. Vermutlich ist das alles ganz normal (was nicht heißt, dass es immer gut ist).
(Mir ist bewusst, dass mein Vergleich mit der indischen Philosophie hinkt und es sich mit dem Einzug des Christentums im Westen nicht ganz so holzschnittartig verhält, wie ich andeute, zumal dieses auch in gewisser Weise auf antikem Denken fußt, aber dies sei mir um des Arguments willen bitte geschenkt.)
Zitat Hinweis auf einen wirklich lesenswertem Artikel.
Sind die Heerscharen dezidierter Atheisten, die sich im Kommentarbereich der 'Zeit' zum Artikel austoben, wohl repräsentativ? Die Art und Weise, wie hier auf das christliche kulturelle Erbe des Abendlandes eingeprügelt wird, ist bemerkenswert und lässt kein Stück des missionarischen Eifers vermissen, den man eigentlich bei religiösem Hardlinern verortet hätte. Fast scheint es, als meldeten sich hier Wächter zu Wort, die die ehemals vorherrschenden religiösen Überzeugungen unter allen Umständen unter Verschluss halten wollen, um zu verhindern, dass die Menschen wieder in ihre einstige Unaufgeklärtheit abrutschen. Irre ich, wenn ich gar eine leichte Remineszenz an den Umgang mit allem Religiösen in der Sowjetunion und vielen anderen Staaten des Ostblocks bei den Diskutanten der 'Zeit' konstatiere?
Zitat von Meister Petz im Beitrag #2ein guter Freund von mir ist Kunsthistoriker und erzählt immer mit Grauen darüber, wie junge Studenten dieses Faches an sehr einfachen Bildinterpretationen scheitern, da sie nicht in der Lage sind, biblische Referenzen zu erkennen.
Ein Studienanfänger hat 12 bzw. 13 Schuljahre hinter sich, mit 12 bzw. 13 Jahren zweistündigen Religionsunterricht. Unkenntnisse der Bibel beweisen vor Allem Eines: Der Religionsunterricht ist unter aller Sau.
Ein bißchen verständlich, die Ansicht von Frau Brinck, allerdings möchte ich einwenden: "Vor Gott sind nicht gerecht, die das Gesetz hören, sondern die das Gesetz tun, werden gerecht sein." (Röm. 2,13)
Die Feiertage und ihre Bedeutung, Redewendungen und ihre Quelle, sowie sprachliche Bilder kann man getrost als nachrangige Folklorekenntnisse einordnen. Unter christlicher Kultur dieses zu verstehen, ist eine arge Verkürzung. Viel wichtiger ist die Gottesverehrung (="Kultur") mit den von Gott selbst gebotenen Mitteln und nicht mit den menschengemachten. Da hat ein Analphabet, der die Ehefreiheit zwischen Mann und Frau tatsächlich als göttliches Geheimnis versteht mehr Kultur als ein Univ. Prof. Dr. theol., dessen Moral sich aus einem Allerlei von Bibelfragmenten, konservativen Gefühlen, Standesdünkeln und Gruppendenken speist.
Zitat von Emulgator im Beitrag #8Ein bißchen verständlich, die Ansicht von Frau Brinck, allerdings möchte ich einwenden: "Vor Gott sind nicht gerecht, die das Gesetz hören, sondern die das Gesetz tun, werden gerecht sein." (Röm. 2,13)
Die Feiertage und ihre Bedeutung, Redewendungen und ihre Quelle, sowie sprachliche Bilder kann man getrost als nachrangige Folklorekenntnisse einordnen. Unter christlicher Kultur dieses zu verstehen, ist eine arge Verkürzung. Viel wichtiger ist die Gottesverehrung (="Kultur") mit den von Gott selbst gebotenen Mitteln und nicht mit den menschengemachten. Da hat ein Analphabet, der die Ehefreiheit zwischen Mann und Frau tatsächlich als göttliches Geheimnis versteht mehr Kultur als ein Univ. Prof. Dr. theol., dessen Moral sich aus einem Allerlei von Bibelfragmenten, konservativen Gefühlen, Standesdünkeln und Gruppendenken speist.
Hui - Turbocalvinismus. Funktioniert aber, wenn man der historischen Erfahrung trauen kann (auch so ein unabdingbarer Aspekt dieses Gebiets) nur bei kleinen Gruppen & trägt nicht über die Grenzen der jeweiligen Glaubensgemeinschaft hinaus, sh. Shaker, Pietisten, u.a. Als Fundament flächendeckender kultureller Rückendeckung dürfte das wenig geeignet sein, weil "das Gewissen", die "innere Stimme" zu einem Passepartout für jeglichen Dissens gebraucht werden kann. Natürlich ist das Dogma (jedenfalls ein Großteil) "menschengemacht"; das Meiste läßt sich (wenn wir uns auf die katholische Seite beziehen) auch nicht "aus der Schrift herleiten" (so sah das wohl auch der Doktor Martinus). Trotzdem hat es auch dann Gültigkeit: Es ist so etwas wie die Hausordnung: Wenn man sich dafür entschieden hat, sollte man sich auch daran halten.
P.S. "Ehefreiheit...göttliches Geheimnis": 1 gutes Beispiel. Wenn Sie ein brauchbares zivilrechtliches Scheidungsrecht wollen, ist das die denkbar ungünstigste Grundlage; in praxi folgt daraus i.d.R. die Unauflöslichkeit der Ehe - und wo "die Gesellschaft" "juristisch analphabetisch" ist, findet man bedenklich oft Institutionen wie Brautkauf & Blutrache.
Zitat von Flaccus im Beitrag #5was halten Sie von folgender These: Das Wissen um die Bibel als (literarische) Grundlage vieler sozialer Zusammenhänge und Einrichtungen geht also allmählich verschütt. Dies ist aber weder verwunderlich noch außergewöhnlich.
Vielen Dank, lieber Flaccus, für diesen Beitrag. Das zu lesen war ein wirklicher Erkenntnisgewinn für mich.
Ich möchte jetzt nur eine Frage ansprechen:
Zitat von Flaccus im Beitrag #5Was ich sagen möchte: Diese Dinge sind in der Tat veränderlich. Es ist peinlich, wenn ein Student der Kunstgeschichte seine Fresken nicht mehr versteht, aber ebenso peinlich ist es, wenn Cicero unter Lateinschülern der Epoche zwischen Gregor dem Großen und Petrarca nahezu unbekannt ist. Vermutlich ist das alles ganz normal (was nicht heißt, dass es immer gut ist).
Als weiteres, jüngeres Beispiel könnte man die klassische Bildung nennen, die noch bis ins 20. Jahrhundert hinein selbstverständlich war. Gebildet war, wer das Humanistische Gymnasium absolviert hatte. Mein Großvater, ein Ingenieur, konnte stundenlang Homer im Original rezitieren. Die Berufssprache des Arztes war das Latein. Wer sich nicht in der Antike auskannte, der war ungebildet.
Wenn solche kulturellen Inhalte verschwinden oder bedeutungslos werden, dann tritt aber in einer intakten Kultur etwas Anderes an ihre Stelle.
Was aber in der Gegenwart? Die humanistische Tradition spielt keine Rolle mehr, die christliche eine immer geringere. Was füllt das Vakuum? Der Klimakult?
Zitat von Meister PetzOder leben wir in einer Phase, die uns nur eingebläut hat, "aus der Geschichte zu lernen", in dem wir alles anders machen?
Ja, schon, aber dann müßte man natürlich erstmal wissen, wie's unsere Vorfahren denn überhaupt gemacht haben! Das setzt doch eine erhebliche Geschichtskenntnis voraus, und wenn die nicht gegeben ist (was ich ganz getrost annehme), dann kommt's auf ein "Ich mache, was mir gerade paßt" hinaus. Dieses "Aus der Geschichte lernen" ist doch weitgehend ein Feigenblatt.
Zitat von Zettel im Beitrag #10Was aber in der Gegenwart? Die humanistische Tradition spielt keine Rolle mehr, die christliche eine immer geringere. Was füllt das Vakuum? Der Klimakult?
Noch vor zehn Jahren konnte Schwanitz schreiben, dass man über physikalische Dinge kaum was wissen muss. Ich habe nicht das Gefühl, das sich seither etwas geändert hat. Ein Wissen über den Klimawandel ist, abgesehen von einer kleinen Minderheit, kaum vorhanden.
Zitat von Zettel im Beitrag #10Als weiteres, jüngeres Beispiel könnte man die klassische Bildung nennen, die noch bis ins 20. Jahrhundert hinein selbstverständlich war. Gebildet war, wer das Humanistische Gymnasium absolviert hatte.
Und das war nur ein ganz kleiner Bruchteil der Bevölkerung. Ich habe leider keine Zahlen dazu gefunden, aber wir reden hier von einer ganz kleinen Schicht, wahrscheinlich nur wenige Prozent. Selbst bei den zum Studium führenden Oberschulen machten die humanistischen Gymnasien nur ein Drittel aus.
Ich würde vermuten, daß der Anteil derer, die sich sehr für humanistische Themen, abendländische Kultur und klassische Bildung interessieren, heute sogar größer ist als damals (wobei das teilweise Leute sind, die das nicht in der Schule vermittelt bekamen, sondern erst im Laufe des Lebens diese Interessen entwickelten). Aber die sind nicht mehr als geschlossene Gruppe greifbar wie damals, sie sind Teil der viel größer gewordenen akademischen Schicht und sie sind nicht mehr tonangebend.
Zitat Mein Großvater, ein Ingenieur, konnte stundenlang Homer im Original rezitieren.
Und war dafür nach heutigen Begriffen in vielen anderen Bereichen peinlich ungebildet ;-)
Man müßte mal die Stundenpläne von damals mit den heutigen vergleichen. Meine Vermutung wäre: Die alten Sprachen (vor allem natürlich Latein) waren damals ein Schwerpunkt. Neue Sprachen dagegen ganz schwach, meist nur etwas Französisch. Die in der Schule vermittelte Mathematik war (auch für einen angehenden Ingenieur) gerade mal ausreichend (nur in sphärischer Trigonometrie besser als heute). Kunst und Musik wurden intensiver vermittelt, aber die Naturwissenschaften deutlich weniger, Geographie nur rudimentär. Und Politik, Wirtschaft und Sozialkunde gab es nicht.
Man könnte auch sagen: Die Abiturienten damals hatten eine bessere klassiche Bildung, hatten aber fast nichts gelernt, was irgendwie praktisch brauchbar war.
Zitat Wenn solche kulturellen Inhalte verschwinden oder bedeutungslos werden, dann tritt aber in einer intakten Kultur etwas Anderes an ihre Stelle.
Wie oben gesagt: Ich gehe nicht davon aus, daß sie verschwinden. Sie sind nur nicht mehr verbindlicher Kanon, sondern Hobby eines gewissen Teils der Elite. Es ist fraglich, ob eine Gesellschaft noch einen verbindlichen Kanon durchhalten kann, wenn bald ein Drittel der Bevölkerung aus Akademikern besteht. Ich sehe auch keinen besonderen Sinn eines solchen Kanons.
Zitat Die humanistische Tradition spielt keine Rolle mehr, die christliche eine immer geringere. Was füllt das Vakuum? Der Klimakult?
Der Klimakult ist Religionsersatz und hat mit dem Bildungsaspekt kaum etwas zu tun. Und es gibt m. E. auch kein Vakuum. Sondern neben der humanistischen Bildung gibt es eben noch weitere kulturelle Interessen. Wenn z. B. jemand ein wirklich interessierter Cineast ist, dann muß er ähnlich viel Zeit und Energie investieren wie fürs Homer-Lernen nötig. Die Musik- und Literaturszene ist viel umfangreicher geworden. Bei historischem Interesse muß man sich nicht nur ein sehr umfangreiches Jahrhundert mehr aneignen - auch für die Zeiten vorher gibt es viel mehr relevantes Wissen als vor 100 Jahren verfügbar.
Und ich traue mich mal zu sagen: Wenn jemand heute Loriot nicht kennt, ist er ähnlich ungebildet wie jemand, der früher seinen Cicero nicht gelesen hatte.
Zitat von xanopos im Beitrag #7Ein Studienanfänger hat 12 bzw. 13 Schuljahre hinter sich, mit 12 bzw. 13 Jahren zweistündigen Religionsunterricht. Unkenntnisse der Bibel beweisen vor Allem Eines: Der Religionsunterricht ist unter aller Sau.
In manchen Bundesländern gibt es keinen verpflichtenden Religionsunterricht.
Zitat von Zettel im Beitrag #10Wenn solche kulturellen Inhalte verschwinden oder bedeutungslos werden, dann tritt aber in einer intakten Kultur etwas Anderes an ihre Stelle.
Wann ist eine Kultur intakt? Eigentlich kreisen alle Kulturen nur um sich selber. Das Christentum ist da wohl die einzige Ausnahme, weil die Kirchengeschichte auf dem Boden des Juden- und römisch-griechischen Heidentums wuchs und den maßgeblichen Christen diese Tatsache klar war. Daß nun alle Kulturen außer dem Christentum nicht intakt seien, mag man wohl kaum behaupten.
Zitat von R.A. im Beitrag #13 Und ich traue mich mal zu sagen: Wenn jemand heute Loriot nicht kennt, ist er ähnlich ungebildet wie jemand, der früher seinen Cicero nicht gelesen hatte.
Ja: für "Biodeutsche", sozialisiert zwischen 1965-80 durchs Westfernsehen. Gilt ab Mitte Juni 2032 nicht mehr. Schon wenn Sie sich den frühen Loriot (vor der TV-Zeit) oder den von "Wim-Wum-&-Wendelin" antun: das ist schon heute so tot wie Gulbranssons Simpl-Karikaturen.
Cicero ist ja nicht ganz umsonst seit gut 2 Millennien ein Klassiker. Aus ihm wird man auch in 2000 Jahren in Indien & China noch einiges lernen können: über das römische Rechtssystem, über den Zeithintergrund, und: was einem unabhängigen Geist auch zu jener Zeit möglich war. Man darf ihn nur nicht auf Grammatik-Klippschule für Gymnasiasten verkürzen.
P.S. Mit der Praxisuntauglichkeit der Gymnasialbildung 1800-1920 haben Sie natürlich vollkommen recht. Die Einrichtung der Technischen Hochschulen & der Ingenieursausbildung ab 1840 ist ja diesem Fakt geschuldet.
Zitat von Thomas Pauli im Beitrag #11Ja, schon, aber dann müßte man natürlich erstmal wissen, wie's unsere Vorfahren denn überhaupt gemacht haben!
Ich glaube, Meister Petz meinte mit "alles anders machen" ehr, das Gefühl zu haben, alles anders zu machen. Denn es gibt bekanntlich nichts neues unter der Sonne, wie man vom Prediger weiß.
Zitat von Gorgasal im Beitrag #3Dazu führt er noch aus, was er im Lehrplan für evangelische Religion in Württemberg in der Fassung von 1993 findet.
Zitat von Manfred FuhrmannDie übrigen Pflichtkurse bieten Sachgebiete an, die durch moderne Begriffe umschrieben sind: […] "Soziale Gerechtigkeit - Einführung in die Sozialethik" […]
Interessant, wie hier suggeriert wird, die recht moderne, linke Ideologie der sozialen Gerechtigkeit hätte etwas mit dem christlichen Glauben zu tun. Zu „sozial gerechtem Christentum“ siehe auch meinen heute veröffentlichten Blogartikel Der linke Chef der linken Kirche.
Zitat von R.A. im Beitrag #13Und ich traue mich mal zu sagen: Wenn jemand heute Loriot nicht kennt, ist er ähnlich ungebildet wie jemand, der früher seinen Cicero nicht gelesen hatte.
Ja: für "Biodeutsche", sozialisiert zwischen 1965-80 durchs Westfernsehen. Gilt ab Mitte Juni 2032 nicht mehr.
Schon heute kennen viele Studenten Loriot nicht mehr. Dafür aber Mario Barth.
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #16Ja: für "Biodeutsche", sozialisiert zwischen 1965-80 durchs Westfernsehen.
Da unterschätzen sie Loriots Bekanntheitsgrad in der heutigen Jugend!
Aber richtig ist, daß Loriot am Auslaufen ist. Wie das normal ist - wir hätten schon mal über Karl May geredet, Wilhelm Busch könnte man hier auch nennen. Die Namen bleiben noch präsent, die konkrete Kenntnis reduziert sich aber auf einige wenige Werke oder Zitate. Dafür kommen dann neue Namen, das ist halt so in einer lebendigen Kultur.
Zitat Cicero ist ja nicht ganz umsonst seit gut 2 Millennien ein Klassiker.
Aber doch eigentlich nur wegen seiner hochgestochenen grammatikalischen Konstruktionen und deren Verwendung im Lateinunterricht. Was wahrscheinlich viel Unheil angerichtet hat. Ich selber kann das nicht beurteilen, aber Leute mit viel Ahnung von der Sache haben mir gesagt, daß die Reanimierung von Cicero und verwandter Originalquellen durch die Humanisten den Niedergang des Latein eingeleitet und weitgehend verursacht hätte.
Zitat Aus ihm wird man auch in 2000 Jahren in Indien & China noch einiges lernen können:
So wie man umgekehrt in Europa aus Konfuzius oder der Bhagavad Gita einiges lernen kann: Wenn man sehr viel Ahnung vom historischen Kontext hat. Also ein Nischenthema für wenige Spezialisten.
Zitat von R.A. im Beitrag #13 Die in der Schule vermittelte Mathematik war (auch für einen angehenden Ingenieur) gerade mal ausreichend (nur in sphärischer Trigonometrie besser als heute).
Das würde mich mal etwas genauer interessieren. Als einzige Information habe ich hier eine winzige (Spicker-) Formelsammlung für Abiturienten von 1905, und die macht auf den ersten Blick einen etwas anderen Eindruck. Stichworte: Komplexe Zahlen, Arithmetische Reihen höherer Ordnung, goniometrische und zyklometrische Reihen, kubische Gleichungen.
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #9Funktioniert aber, wenn man der historischen Erfahrung trauen kann (auch so ein unabdingbarer Aspekt dieses Gebiets) nur bei kleinen Gruppen & trägt nicht über die Grenzen der jeweiligen Glaubensgemeinschaft hinaus, sh. Shaker, Pietisten, u.a.
Inwieweit soll es denn funktionieren? Jesus ist am Kreuz gestorben, nicht damit wir Ostern feiern und Menschen unfähig verunftbasierter Argumentationen über Moral sich die Normen für ihr Lieblingsstaatswesen ausdenken können, sondern damit wir selig werden. Das ist der Zeck von Kultur: Gottesdienst (vgl. lat. incolere).
Es war mal vor einigen Jahren in der Gartengestaltung modisch, Mühlsteine oder alte Grenzsteine aus Sandstein im Garten zu placieren. Das sieht hübsch traditionell aus, ist es aber nicht. Mühlsteine, deren Loch keine Welle sondern Blümchen aufnimmt, sind keine Mühlsteine mehr und Grenzsteine, die nicht auf eine Grenze gestellt sind, sind keine Grenzsteine mehr. Es ist nur Dekoration.
Auch "christliche Kultur", die Gott allenfalls agnostisch gegenübertritt, ist keine Kultur mehr, weil sie ja nichts mehr zu verehren hat, sondern allenfalls Dekoration. Das ist nicht schlimm. Aber es ist auch nicht schlimm, wenn man eine andere Dekoration wählt.
Zitat von Zettel im Beitrag #10Wenn solche kulturellen Inhalte verschwinden oder bedeutungslos werden, dann tritt aber in einer intakten Kultur etwas Anderes an ihre Stelle.
Was aber in der Gegenwart? Die humanistische Tradition spielt keine Rolle mehr, die christliche eine immer geringere. Was füllt das Vakuum? Der Klimakult?
Andere Foristen haben ja schon die Frage aufgeworfen, woran man eine "intakte" Kultur erkennt. Ich würde sagen, aus dem Bauch heraus, wenn es einen gruppenübergreifenden Konsens des Erstrebenswerten gibt. also beispielsweise: Es ist erstrebendwert, Kenntnisse über X zu haben.
Der Klimakult hat m. E. sein Potenzial eingebüßt, weil er einfach zu abstrakt ist, und sich nur dehr schwer ritualisieren lässt. Ich denke, es ist eher so ein recht diffuser "Ökogesundheitshedonismus", dessen Kirchen die Fitness- und Wellnessoasen sind, die Ketzer die Raucher und die Firma Wiesenhof.
Allerdings hat diese "Kultur" wahrscheinlich auch keine Standfestigkeit, und je mehr ich es mir überlege, so komme ich auf Ratzingers Satz der "Diktatur des Relativismus". Denn ich stimme ja zu, dass es eine linksgrüne Meinungsführerschaft gibt, die auch bisweilen an der "Basis" Spuren hinterlässt. Aber deren Heilsversprechen sind verblasst, kaum ein aufrechter Linker glaubt noch an die Revolution, sondern man arbeitet sich kulturpessimistisch an der Gesellschaft ab, begnügt sich mit dem aufdecken von empfundenen Missständen und grenzt sich ab. Eine negativ definierte Kultur.
Gruß Petz
"The problem with quotes from the Internet is that it is difficult to determine whether or not they are genuine" - Abraham Lincoln
Zitat von Hausmann im Beitrag #21Das würde mich mal etwas genauer interessieren. Als einzige Information habe ich hier eine winzige (Spicker-) Formelsammlung für Abiturienten von 1905, und die macht auf den ersten Blick einen etwas anderen Eindruck. Stichworte: Komplexe Zahlen, Arithmetische Reihen höherer Ordnung, goniometrische und zyklometrische Reihen, kubische Gleichungen.
Ein Abiturabschluss war 1905 etwas Selteneres als heute. Vielleicht waren die Ansprüche damals einfach etwas höher. Zumindest die Lektüre des Schüler Gerber, Unterm Rad, des Zöglings Törleß und der Zwille erwecken den Eindruck.
Zitat von emulgatorIch glaube, Meister Petz meinte mit "alles anders machen" ehr, das Gefühl zu haben, alles anders zu machen. Denn es gibt bekanntlich nichts neues unter der Sonne, wie man vom Prediger weiß.
Einverstanden, ich wollte klarmachen, was es bedeuten würde, dieses Vorhaben ernstzunehmen. Ein argumentum ad absurdum, denn mangels historischer Kenntnisse wäre es nur wenigen Menschen möglich, dies auch nur zu versuchen.
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