Politik als Kampf um die Diskurshoheit und der Rechtsstaat als nicht fehlerfreies, aber Fehler korrigierendes System. So klar hört man dies aus dem Munde eines Politikwissenschaftlers und ehemaligen Politikers nur selten.
Zitat von Noricus im BlogDies ist nun genau das Wesen des Rechtsstaats. Er kann nicht ausnahmslos verhindern, dass der Gesetzgeber, die Verwaltung oder die Gerichtsbarkeit falsche Entscheidungen treffen. Aber er erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass solche Missgriffe eines nicht allzu fernen Tages aus dem Rechtsbestand ausscheiden.
In der Tat ein ganz zentraler und nebenbei auch ein optimistischer Gedanke in dieser an optimistischen Gedanken doch so armen Zeit. Die Mühlen den Rechtsstaats mahlen langsam, und das ist ein unglaublicher Gewinn. Das Durchatmen, die Durchsicht, die erzwungene Abwägung und das Recht auf Gehör. Die Sachbezogenheit. Auch wenn es im Beitrag gerade nicht direkt Ihr Thema war, lieber Noricus: schon wieder bin ich gedanklich beim NSU-Prozeß gelandet und bei der unglaublich befriedigenden Beobachtung der letzten Tage: am Rechtsstaat beißen sich die sensationslüsternen, überheblichen, überschleunigten und machtfixierten Medien immer noch die Zähne aus. Einfach nur durch dessen Langsamkeit, den langen Atem. Die "Minutenticker" in den Medien laufen allesamt ins Leere. Wunderbar; ich glaube momentan wieder mehr an die langfristigen Abwehrkräfte des Rechtsstaats.
Herzliche Grüße und danke für diesen treffenden und -zumindest letztlich- erbauenden Beitrag, Andreas
Im Federalist Paper No. 51 vom 6. Febr. 1788 benennt James Madison das gleich im Titel: "The Structure of the Government Must Furnish the Proper Checks and Balances Between the Different Departments". Vielleicht wäre es hilfreich, angehende Staatsbürger im Larvenstand hierzulande erst einmal gründlich auf Amerikaner zu schulen, anstatt auf Antiamerikaner.
Zitat Vielleicht wäre es hilfreich, angehende Staatsbürger im Larvenstand hierzulande erst einmal gründlich auf Amerikaner zu schulen, anstatt auf Antiamerikaner.
Das Bewusstsein, dass man dem Staatsapparat ein paar checks and balances gewissermaßen als Sicherungen einbauen sollte, scheint mir in Deutschland noch recht jung und nicht besonders ausgeprägt. 1944 beschreibt von Mises das deutsche Bewusstsein so:
Zitat von Ludwig von Mises, BureaucracyThe political conflicts are no longer seen as struggles between groups of men. They are considered a war between two principles, the good and the bad. The good is embodied in the great god State, the materialization of the eternal idea of morality, and the bad in the “rugged individualism” of selfish men. In this antagonism the State is always right and individual always wrong. The State is the representative of the commonweal, of justice, civilization, and superior wisdom. The individual is a poor wretch, a vicious fool.
When a German says “der Staat” or when a Marxian says “society,” they are overwhelmed by reverential awe. How can a man be so entirely corrupt as to rise in rebellion against this Supreme Being?
zu finden unter: von Mises, Bureaucray (deutsche Ausgabe bei amazon). Erstaunlicherweise hat sich bis heute nicht sehr viel daran geändert. Sogenannte Wutbürger üben zwar heftige Kritik am Staat, ziehen aber nicht den Schluss, die Staatsmacht zu begrenzen. Nicht einen weniger machtvollen Staat erträumen sie, sondern einen besseren, gerechteren, kurz: den idealen Staat. Da der Staat offensichtlich nicht ideal ist, sieht der Wutbürger finstere Mächte am Werk: Spekulanten, Lobbyisten, Heuschrecken, Finanzmärkte, Big Pharma, Pro7 und McDonalds – dazu korrupte Politiker. Von Mises sieht Plato als Vater dieser Sichtweise:
Zitat von von MisesPlato's ideal and perfect state is to be ruled by unselfish philosophers. […] There exists the perennial pattern of the good state, and every deviation of actual conditions from this model cannot be anything else than corruption and degradation. The problem is simply to establish the perfect society and then to keep it from any alteration, […]
Zitat von Christoph im Beitrag #5Von Mises sieht Plato als Vater dieser Sichtweise
Da ist er nicht der einzige. Popper hat erinnerlich den gesamten ersten Band von "The Open Society and Its Enemies" daran gewendet, um den "Spell of Plato" zu entzaubern.
Zitat von Noricus im Beitrag #1Politik als Kampf um die Diskurshoheit […]
Ein schönes Beispiel dafür ist auch der Spruch vom «Professor aus Heidelberg». Inhaltlich wurden seine Vorschläge danach nicht mehr diskutiert. Ein anderer Fall: Wenn irgendwo ein Artikel über die EZB erscheint, steht in jedem zweiten Kommentar: «der Draghi hat mal bei Goldman-Sachs gearbeitet». Bei FDP-Vorschlägen tönt es stets: «Klientel-Politik», «Mövenpick-Partei» oder «die wählen doch eh nur Steuerhinterzieher». Zur Frauenquote sollen alle Männer schweigen (und die jungen Frauen auch, weil die ja noch keine Erfahrung haben).
Zitat von von MisesPlato's ideal and perfect state is to be ruled by unselfish philosophers. […] There exists the perennial pattern of the good state, and every deviation of actual conditions from this model cannot be anything else than corruption and degradation. The problem is simply to establish the perfect society and then to keep it from any alteration, […]
Das ist eine interessante Perspektive. Ich kämpfe mich grade durch "Atlas Shrugged", und die Konflikte der handelnden Personen sind exakt die gleichen - individuelle Eigenverantwortung für das eigene Leben (und damit auch die Fähigkeit, die Früchte oder Konsequenzen des eigenen Handelns zu tragen) oder ein allmächtiger, beliebig entscheidender Staatsapparat, der aus mediokren Figuren zusammengesetzt ist. Am Ende geht es hier um ein Stückchen Moral.
Der Anspruch der Wutbürger, der Journalisten (als institutionalisierte Wutbürgerschaft) ist insofern schon ein wenig gespalten - einerseits Missstände anprangern und gleichzeitig erwarten, dass die gleichen Strukturen, die diese Missstände hervorgebracht haben, dies in Zukunft nicht mehr tun. Als Hundebesitzer weiss ich: Das geht nur mit klaren Grenzen, mit Erziehung, mit Geduld, und auch mit Fehlertoleranz. Als technisch halbgebildeter Mensch weiss ich, dass jedes technische System intrinsische Fehlerquellen hat, die meist sinnvoller umgangen werden als eliminiert, z.B. Opferanoden, Resilience-Features etc. Und auch bei politischen Systemen ists nun mal so, dass Menschen Fehler machen - und hier ist das Gütekriterium, wie das politische System mit solchen Fehlern umgeht. Und da stehen wir in Deutschland doch gar nicht mal so übel da.
ich habe mir Ihren Beitrag und das referenzierte Interview mal durchgelesen. Es ist teils sehr philosophisch, meine ich. Man kann sicher ein gewisses Grundvertrauen in Selbstheilungskräfte haben, die Spieltheorie kennt aber sogenannte Tipping Points, die ich so übersetzen würde, dass die Selbstheilungskräfte auch mal zu spät dran sind. Man weiß ja nie, wie weit man von dem tipping point entfernt ist. Es mag sein, dass gefestigte und demokratische Rechtssysteme da unempfindlicher sind, das zu untersuchen wäre aber eine wissenschaftliche Arbeit wert.
Zitat von Hausmann im Beitrag #4Wer oder was ist das eigentlich: Der Rechtsstaat? Ein Gespenst? Ein Stück Papier? Ein Paragraph irgendwo? Klären Sie mich bitte auf! mfG
Der Rechtsstaat, lieber Hausmann, ist ein Prinzip der Staatsorganisation. So spricht man von einem formellen Rechtsstaat, wenn alles staatliche Handeln seine Grundlage und Grenze in einer Rechtsnorm zu finden hat, also wenn Verwaltung und Justiz an Gesetze und der Gesetzgeber selbst an die Verfassung gebunden ist. Dieses Prinzip wird in Art. 20 III GG festgelegt.
Eine rein formelle Rechtsstaatlichkeit verhindert natürlich noch nicht, dass es ungerechtes Recht gibt, denn eine Verfassung kann ja solches zulassen. Deshalb gibt es im materiellen Rechtsstaat auch eine Werte-Orientierung der Verfassung, wie sie im GG in den Grundrechten und dem Schutz bestimmter Verfassungsprinzipien durch die Ewigkeitsklausel des Art. 79 III zum Ausdruck kommt.
Zitat von Martin im Beitrag #9Man kann sicher ein gewisses Grundvertrauen in Selbstheilungskräfte haben, die Spieltheorie kennt aber sogenannte Tipping Points, die ich so übersetzen würde, dass die Selbstheilungskräfte auch mal zu spät dran sind.
Das möchte ich nicht bestreiten, lieber Martin. Ich würde das bekannte Böckenförde-Paradoxon so interpretieren, dass ein freiheitlicher Rechtsstaat seinem Kippen ins Unrechtsstaatliche nicht mit allen erdenklichen Mitteln vorbeugen kann, weil er dafür die Rechtsstaatlichkeit verlassen müsste.
Mit dem Hinweis auf das Interview wollte ich eigentlich Folgendes aufzeigen: M.E. wird vom Rechtsstaat häufig zu viel erwartet. Wenn Polizisten übergriffig werden, Richter willkürliche Urteile fällen und Verwaltungsbeamte den Bürger schikanieren, dann wird dies in der Debatte gern gegen den Rechtsstaat ins Feld geführt. Aber jegliches Unrecht verhindern kann der Rechtsstaat nun einmal nicht. Er stellt jedoch die Mittel bereit, die erforderlich sind, um den rechtmäßigen Zustand im Nachhinein herzustellen. Und natürlich wirkt diese Aussicht auf Staatsorgane auch schon präventiv disziplinierend.
Zitat Man weiß ja nie, wie weit man von dem tipping point entfernt ist.
Deshalb ist ein wehrhafter Rechtsstaat, der aber im Sinne des oben Gesagten nicht so weit geht, dass er gleichsam aus Furcht unrechtsstaatlich wird, ja eine durchaus sinnvolle Sache.
Mein Eindruck ist, dass wir in Deutschland uns jedenfalls nicht nahe an einem tipping point befinden. Dies bedeutet nicht, dass ich die politischen Tendenzen zur Einschränkung der Freiheit und zur Vermehrung der Gängelung und Überwachung nicht sähe. Es ist auch gut und richtig, gegen solche Vorhaben die Stimme zu erheben. Aber man muss die Situation nicht düsterer malen, als sie ist.
Bei der Beschreibung des Kampfes um die Deutungshoheit fiel mir Helmut Kohl ein. Sein Amigo System, mit der er politische Entscheidungen im Hinterzimmer vorbereitet, so dass der parlamentarische Prozess nur noch Formsache war, war sein Weg, die Deutungshoheit und damit die Macht zu behalten.
Ich vermute, dass alle Machthaber genau diesen Punkt auch in jeweils ihrer Art und Weise gelebt haben. Auch Merkel hat da ihr System, die Macht zu sichern.
Bei dem Rechtsstaat als selbkorrigierendes System bin ich anderer Meinung. Den Rechtsstaat sehe ich als ein um ein Gleichgewicht kämpfendes System aus Macht, Einfluss und Kontrolle. Kein Machtausübender darf unkontrolliert bleiben, keine Institution darf ein Monopol bekommen. Aber alle Teile versuchen, das Monopol zu bekommen.
Ist das Gleichgewicht gestört, gibt es eine Gegenreaktion, aber das ist keine Verbesserung, sondern eine Verlagerung, auf die auch wieder eine Gegenreaktion erfolgt. Also kein stetiges besser werden, sondern eher ein Kreislaufsystem.
Zitat von Noricus im Beitrag #10Der Rechtsstaat, lieber Hausmann, ist ein Prinzip der Staatsorganisation. So spricht man von einem formellen Rechtsstaat, wenn alles staatliche Handeln seine Grundlage und Grenze in einer Rechtsnorm zu finden hat, also wenn Verwaltung und Justiz an Gesetze und der Gesetzgeber selbst an die Verfassung gebunden ist. Dieses Prinzip wird in Art. 20 III GG festgelegt.
Ein Stück Papier also?
mfG
----------------------------------------------------- Mehr Liberalismus wäre dringend vonnöten. Zettel
Zitat von Noricus im Beitrag #10Der Rechtsstaat, lieber Hausmann, ist ein Prinzip der Staatsorganisation. So spricht man von einem formellen Rechtsstaat, wenn alles staatliche Handeln seine Grundlage und Grenze in einer Rechtsnorm zu finden hat, also wenn Verwaltung und Justiz an Gesetze und der Gesetzgeber selbst an die Verfassung gebunden ist. Dieses Prinzip wird in Art. 20 III GG festgelegt.
Ein Stück Papier also?
mfG
Lieber Hausmann, entschuldigen Sie bitte die späte Antwort: Nein, kein Stück Papier, sondern ein Prinzip, das auf Papier verewigt ist.
Zitat von Noricus im Beitrag #1Politik als Kampf um die Diskurshoheit und der Rechtsstaat als nicht fehlerfreies, aber Fehler korrigierendes System. So klar hört man dies aus dem Munde eines Politikwissenschaftlers und ehemaligen Politikers nur selten.
Ich weiss nicht genau, ob das hierher gehört, aber die Lektüre der Autobiographien von Ronald Reagan und Margaret Thatcher haben mich gegenüber Verschwörungstheorien jeglicher Art ganz gut immunisiert, denke ich.
Was ich damit sagen will:
Politik ist oft einfacher zu erklären und verstehen, als gemeinhin angenommen wird.
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