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ZETTELS KLEINES ZIMMER

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Dieses Thema hat 14 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Noricus Offline



Beiträge: 2.362

20.05.2014 19:11
Die Gewißheit, den richtigen Göttern zu dienen. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht Antworten

Ich habe heute wieder einmal das Vergnügen, ein wunderbares philosophisches Essay von nachdenken_schmerzt_nicht präsentieren zu dürfen.

Auch die folgende Anmoderation stammt aus seiner Feder, ich darf mich folglich zurückziehen und hoffen, dass Sie diese anregende Lektüre genauso genießen wie ich:

Die Gottesbilder ihrer Zeit haben, durch unmündiges Handeln der Gläubigen, schon immer Unrecht und Leid über die Welt gebracht. Neues Unrecht und Leid verhindert man nicht alleine dadurch, sich neue Götter zu wählen und sie nicht mehr beim Namen zu nennen.

Quentin Quencher Offline




Beiträge: 120

20.05.2014 19:52
#2 RE: Die Gewißheit, den richtigen Göttern zu dienen. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht Antworten

Die Menschen der Moderne suchen verzweifelt nach einer Religion die die Ausdifferenzierungen und Spezialisierungen, welche eben durch die Moderne entstanden sind, wieder unter einem Hut bringt. Die bisherigen Religionen haben hier versagt, und seit ihnen das Wahrheitsmonopol durch die Aufklärung weg genommen wurde, hat es keine Religion geschafft eine Erklärung, oder Anleitung, für die Gegenwart und den Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit zu geben. Immer werden Teile dieser Lebenswirklichkeit ausgeblendet.

Diese durch die Moderne entstandene Verunsicherung nutzen Ideologen, manchmal auch Scharlatane, aus, und kreieren eine Lehre, die oberflächlich betrachtet, alles unter einen Hut bringt. Nachhaltigkeit ist dann so ein Begriff mit dem gearbeitet wird, und der suggeriert, dass sich alles sozusagen in einem Kreislauf befindet. Jedes Eingreifen in diese erkannten natürlichen Kreisläufe als Störung betrachtet wird und somit schädlich ist. Weil es aber nicht zu vermeiden ist, entsteht sowas wie ein schlechtes Gewissen, welches dann wieder mit, teils symbolischen, Bußhandlungen besänftigt werden muss.

Meine Anmerkung zu dem guten Beitrag von «nachdenken_schmerzt_nicht».

Beste Grüße

Quentin Quencher
Glitzerwasser

adder Offline




Beiträge: 1.073

20.05.2014 20:09
#3 RE: Die Gewißheit, den richtigen Göttern zu dienen. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht Antworten

Zitat von Quentin Quencher im Beitrag #2
Die Menschen der Moderne suchen verzweifelt nach einer Religion die die Ausdifferenzierungen und Spezialisierungen, welche eben durch die Moderne entstanden sind, wieder unter einem Hut bringt. Die bisherigen Religionen haben hier versagt,


Die bisherigen Religionen - damit meinen Sie, lieber Quentin Quencher, die heutigen monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum, Islam?
Denn die Ausdifferenzierung und Spezialisierung, die Sie ansprechen, waren schon immer Bestandteil der polytheistischen Religionen des Hinduismus und der Antike sowie sowohl des Shintoismus als auch des (ebenfalls monotheistischen) Buddhismus. Quasi zwangsläufig ist die Religiösität in Japan (Shintoismus) oder den asiatischen "Tigerstaaten" deutlich größer als in wirtschaftlich vergleichbaren Ländern christlicher Prägung.

Zitat
und seit ihnen das Wahrheitsmonopol durch die Aufklärung weg genommen wurde, hat es keine Religion geschafft eine Erklärung, oder Anleitung, für die Gegenwart und den Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit zu geben. Immer werden Teile dieser Lebenswirklichkeit ausgeblendet.



Wenn Menschen Religion nicht nur konsumieren, sondern sich selbst mit dem Religiösen beschäftigen, dann ist es unproblematisch, dass Teile der Lebenswirklichkeit ausgeblendet werden. Zum Problem wird dieses tatsächlich nur beim reinen Konsum. Statt in eine Messe kann ich auch in ein Heavy-Metal-Konzert der Band Powerwolf gehen, wenn ich nur ein wenig "Ritual" konsumieren möchte. Wahrscheinlich bekäme ich bei letzterer dazu noch die deutlich bessere Show. Gute Musik machen die Fünf auf jeden Fall.
Will ich aber mich selbst mit dem Religiösen beschäftigen, dann reicht mir "Metal is Religion" vielleicht nicht mehr, sondern ich benötige mehr Input und vor allem mehr eigene Gedankenleistung. Dann erschaffe ich mir aber meine eigene, kleine Nische meiner Religion, beschäftige mich mit Gewissen und Moral - und treffe eine Entscheidung für oder gegen diesen Teil der religiösen Überlieferung oder Erfahrung und leite Handlungsanweisungen ab, statt sie nur nachzuäffen.

Es ist tatsächlich sogar recht egal, welchen Glauben man hat, solange diese Gedankenleistung und eigene Anstrengung vorliegt - man schafft sich den Raum, den man benötigt.

Daska Offline




Beiträge: 245

20.05.2014 20:13
#4 RE: Die Gewißheit, den richtigen Göttern zu dienen. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht Antworten

Jetzt war Quentin schneller, ich würde trotzdem gern direkt auf den schönen Beitrag antworten: Glückwunsch zu dem Artikel, sehr anregend!

Zitat
Die Gottesbilder ihrer Zeit haben, durch unmündiges Handeln der Gläubigen, schon immer Unrecht und Leid über die Welt gebracht.


Wenn die Gottesbilder in Ihrem Zitat Subjekt des Satzes sind und somit Leid in die Welt gebracht haben, dann wäre dies ein Indiz dafür, dass das zweite Gebot: „Du sollst dir kein Gottesbildnis machen, das irgendetwas darstellt am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde." (Dtn 5,6) gar nicht so verkehrt war. (Obwohl es vor Feuerbach und Kant formuliert wurde). Wenn das Leid durch unmündiges Handeln der Gläubigen in die Welt gebracht wurde (woran ich persönlich nicht zweifle, was Selbstkritik impliziert), dann hätte Mose ganz recht getan, die zwei Tafeln angesichts des Tanzes um das Goldene Kalb erst einmal zu zerschmeißen. Also was jetzt: Sind Regeln, Vorgaben, Axiome nun gut oder nicht?

Zitat
Neues Unrecht und Leid verhindert man nicht alleine dadurch, sich neue Götter zu wählen und sie nicht mehr beim Namen zu nennen.


Sondern wodurch? Nachdenken? Die Logik hat eine wächserne Nase, sagte mal jemand, sie lässt sich in die Richtung biegen, in der man sie haben will. Will sagen: Gibt es eine dritte Lösung, nicht mehr die alten Gottesbilder, nicht mehr die neuen, sondern?
Nachdenklich,
Daska

Rayson Offline




Beiträge: 2.367

20.05.2014 20:35
#5 RE: Die Gewißheit, den richtigen Göttern zu dienen. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht Antworten

Na, wenn unser geschätzter Freund nachdenken_schmerzt_nicht mit der gleich mehrfach erwähnten und gerühmten Aufklärung selbst eine Religion zu etablieren trachtet, der man gefälligst Folge zu leisten habe Mich stört an solchen Darstellungen immer diese Deus-Ex-Machina-Erwähnung von Naturwissenschaften und Aufklärung - da gab es erst lange die finstere Religion und die fiese Kirche, und plötzlich, schwupps, waren sie da, unvermittelt und für alle überraschend - Naturwissenschaften und Aufklärung. Wer sich ein wenig näher mit der Geschichte befasst, auch mit den Inhalten christlicher Theologie schon damals, kommt unweigerlich zu einem viel differenzierteren Bild. Aber sei's drum, es geht ja um heute.

Mich wundert, dass es andere wundert, dass Menschen erstens nach Sinn und Zweck suchen und zweitens nach dem Guten streben. Wenn sie das aus irgendwelchen Gründen in der Religion nicht finden können, weichen sie eben gerne auf Ersatzfelder aus. Viele der Dinge, die sowohl den rationalen Naturwissenschaftler als auch den kühlen Ökonomen stören, sind ganz einfach auf menschliche Sozialisation zurückzuführen. Wir leben moralisch nach den Regeln der Horde, wie Hayek das genannt hat, und wenn das in der Realität nicht mehr so richtig funktioniert, weil in Wirtschaft und Gesellschaft die Entfernungen zum Anderen zu groß geworden sind und das ganze System zu unübersichtlich für die bloße Alltagserfahrung, versuchen wir, diese Hordenregeln einfach auszudehnen auf größere Gemeinschaften - bis hin zum Staat und zu Superstaat. Wenn das dann auch noch durch ein sinnstiftendes Narrativ miteinander verbunden wird - um so besser.

Diese Sehnsucht steckt einfach in uns. Nicht in allen, zugegeben. Hier und da versammeln sich ein paar Versprengte, bei denen in der Erziehung irgendwas falsch gelaufen ist, so dass sie Probleme haben, mit der Horde mitzulaufen. Aber ein bisschen Abfall ist immmer...

--
L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)
Je länger das Dritte Reich tot ist, um so stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen. (Johannes Gross)

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

20.05.2014 22:03
#6 RE: Die Gewißheit, den richtigen Göttern zu dienen. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht Antworten

Liebe(r) Daska.

Zitat von Daska im Beitrag #4
Wenn die Gottesbilder in Ihrem Zitat Subjekt des Satzes sind und somit Leid in die Welt gebracht haben, dann wäre dies ein Indiz dafür, dass das zweite Gebot: „Du sollst dir kein Gottesbildnis machen, das irgendetwas darstellt am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde." (Dtn 5,6) gar nicht so verkehrt war. (Obwohl es vor Feuerbach und Kant formuliert wurde). Wenn das Leid durch unmündiges Handeln der Gläubigen in die Welt gebracht wurde (woran ich persönlich nicht zweifle, was Selbstkritik impliziert), dann hätte Mose ganz recht getan, die zwei Tafeln angesichts des Tanzes um das Goldene Kalb erst einmal zu zerschmeißen.
Vielen Dank für diese Gedanken. Es ist für mich immer wieder erstaunlich, wenn ich feststelle wie wenig man in der Lage ist Dinge in einem anderen Kontext zu denken, als demjenigen mit dem man erzogen wurde. Und das gilt wohl für unüberschaubar viele Lebensbereiche.
Dass die Behandlung der Götzenanbetung in der Bibel möglicherweise als Auseinandersetzung mit unmündigem Glauben zu sehen ist, kam mir nie in den Sinn und das wo es so sehr offensichtlich ist - nachdem man darauf gestoßen wurde.

Zitat von Daska im Beitrag #4
Sind Regeln, Vorgaben, Axiome nun gut oder nicht?
Ich glaube sie sind gut. Sich in Unmündigkeit zu begeben, wenn man sie befolgt ist schlecht.

Zitat von Daska im Beitrag #4
Sondern wodurch? Nachdenken? Die Logik hat eine wächserne Nase, sagte mal jemand, sie lässt sich in die Richtung biegen, in der man sie haben will. Will sagen: Gibt es eine dritte Lösung, nicht mehr die alten Gottesbilder, nicht mehr die neuen, sondern?
In meinem letzten Gastbeitrag ging es um persönliche Freiheit und ihre Beschränkung durch kulturelle Prägung. Die inhärente Beschränkung der persönlichen Freiheit, die dort aufhört wo die des anderen beginnt, ist eine klare, symmetrische und eindeutige Definition. Wie sollte man aber eine (kulturelle) Beschränkung definieren können, die zulässig ist? Ich habe noch viel darüber nachgedacht und mir kam ein Gedanke: Vielleicht ist die "Regel" "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu." eine Möglichkeit ohne Willkür eine vernünftige, zulässige Beschränkung der Freiheit durch kulturelle Prägung zu definieren. Wenn ich den Gedanken jetzt weiter denke, würde ich diese Regel als zulässige Begrenzung unserer Logik, unseres Verstandes sehen. Wenn wir unserem Verstand folgen und in jedem Menschen (vor allem denen, deren Weltbild und Verhalten wir nicht teilen) auch uns selbst sehen, ist dies wohl ein gleichzeitig christliches und mündiges Menschenbild, welches Unrecht zumindest nicht ausufern lässt.

Letztendlich bin ich aber genauso ratlos wie wohl alle die vor diesem Problem stehen. Der Wunsch nach Gott und die Erkenntnis wie zerstörerisch Gottesbilder und einhergehende Unmündigkeit sein können unter einen Hut zu bringen, läßt mich in Ambivalenz zurück. Das was ich aber versuchen kann ist, mein Gottesbild mit Abstand zu betrachten und meinen Verstand zu befragen, was er dazu sagt.
Eines der wenigen Zitate aus dem Deutschunterricht (als mich Literatur im Wesentlichen noch langweilte), welches mir in Erinnerung blieb, ist aus dem Schimmelreiter (glaube ich) folgendes: "Auch Gott kann nicht tun was er will, sondern nur das was seine Weisheit im vorschreibt." Dieser Gedanke hat mich damals schon fasziniert und ich erkenne immer mehr Facetten in ihm und seiner Aussage.

Soweit meine ersten Gedanken, die mir beim Lesen ihrer Zeilen durch den Kopf gingen.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

20.05.2014 22:29
#7 RE: Die Gewißheit, den richtigen Göttern zu dienen. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht Antworten

Zitat von Rayson im Beitrag #5
Na, wenn unser geschätzter Freund nachdenken_schmerzt_nicht mit der gleich mehrfach erwähnten und gerühmten Aufklärung selbst eine Religion zu etablieren trachtet, der man gefälligst Folge zu leisten habe
Da kennt wer meine wunden Punkte aber schon sehr genau.

Zitat von Rayson im Beitrag #5
... da gab es erst lange die finstere Religion und die fiese Kirche, und plötzlich, schwupps, waren sie da, unvermittelt und für alle überraschend - Naturwissenschaften und Aufklärung. Wer sich ein wenig näher mit der Geschichte befasst, auch mit den Inhalten christlicher Theologie schon damals, kommt unweigerlich zu einem viel differenzierteren Bild.
Ein kurzer Aufsatz kann leider nicht allem gerecht werden und mein Wissen ist sehr begrenzt. Mir ging es auch nicht darum christlichen Glauben als Problem darzustellen. Für mich ist das Problem, sich über Gottesbilder in Umündigkeit zu begeben und ich wollte auf Parallelen hinweisen, die wir phasenweise aus der Kirchengeschichte kennen und eben auch heute wieder erleben (Wenn ich alleine an das Thema "Goldener Reis" denke, schaudert mich.). Mir ging es auch in keinster Weise darum Relogion als einen Sündenbock zu entlarven, sondern darum wie Religion dazu mißbraucht wird, sich in seiner eigenen Unmündigkeit einzurichten.

Wir beide hatten es ja auch schon das ein oder andere mal über Christus und du meintest, wir würden uns da nicht einig werden . Ich halte Religion im Kern für etwas gutes, im Menschen angelegtes (warum auch immer)und halte mich selbst in gewissem Sinne für einen ziemlich religiösen Menschen. Wenn Religion aber beginnt moralische Urteile über den Verstand zu fällen wird sie mir suspekt. Das hat die Kirche phasenweise getan und das tut unser Zeitgeist in seinen säkularisierten Gottesbildern leider allzuoft auch heute wieder.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

DocBrown Offline



Beiträge: 8

21.05.2014 15:25
#8 RE: Die Gewißheit, den richtigen Göttern zu dienen. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht Antworten

Hier ein m.E. interessanter Beitrag zur Diskussion, allerdings auf englisch:

http://wattsupwiththat.com/2014/05/20/ha...-soft-sciences/

Die Naturwissenschaften werden zur Religion erhoben, die sie eben nicht sein können und dürfen.
Damit verlassen sie den Weg der Aufklärung, und beschädigen sich als Quelle der Erkenntnis.
Offensichtlich bereits verlorene Teilgebiete sind die Klimatologie, die Geschlechterforschung,
und die Ökologie.

Döblinger Offline



Beiträge: 9

21.05.2014 21:52
#9 RE: Die Gewißheit, den richtigen Göttern zu dienen. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht Antworten

Vielen Dank für den Beitrag.

Nur kurz ein paar Anmerkungen ganz am Rande:

1) Das im populären Verständnis so beliebt Bild von Aufklärung vs. finsteres Mittelalter gibt die Eigenwahrnehmung der Aufklärer wieder, lässt sich aber in der Form nicht halten. Die Aufklärung steht selber in einer langen Geschichte und Tradition abendländischen "Vernunftgebrauchs" und auf sehr soliden mittelalterlichen Wurzeln. Umberto Eco hat zur Renaissance mal sinngemäß geschrieben, dass man sich bloß nicht vorstellen dürfe, hier hätte die Vernunft über den finsteren Aberglauben des Mittelalters triumphiert. Eher sei ein spezifischer (aber auch stets mit theologischen Hintergrund versehener) Vernunftbegriff durch eine irrationale romantische Vorstellungswelt abgelöst worden. In einem gewissen Sinne ließe sich das auch für die Aufklärung sagen.

2) Der derzeitige Humanitarismus als ein gewendetes und von der Jenseits- auf die Diesseitsverheißung umgestelltes Christentum ist schon 1970 von dem sehr rechten Soziologen Arnold Gehlen in der kleinen Schrift "Moral und Hypermoral" ätzend kommentiert worden. Dort geschildert als Masseneudaimonismus (ethische Pflicht zum allgemeinen Wohlleben, was darunter verstanden wird, behalten sich die "Aufklärer" natürlich zur Definition vor) und Humanitarismus (mit dem Kerndogma der ethischen Pflicht zur allgemeinen und unterschiedslosen Menschenliebe). Übrigens von Gehlen auch in den Zusammenhang mit der Reizüberflutung durch Massenmedien hübsch gestellt. Der Mensch sei moralisch auf Nahoptik eingestellt und werde mit dem Anspruch, für die ganze Welt verantwortlich zu sein, geistig nicht fertig. Von da an ist es nur ein kurzer Weg zur Verschwörungstheorie als grundlegende geistige Haltung vor allem des sozial deklassierten Akademikers (ich glaube so Scheler) im Sinne einer Verarbeitungsstrategie. Gehlen hatte die Ehre, höchstpersönlich von Habermas in der Zeit verrissen ("durchgeknallter Rechtsintellektueller") zu werden. Ein paar Jahre später hat den Gedanken Helmuth Schelsky in dem Bändchen "Die Arbeit tun die anderen: Klassenkampf und die Priesterherrschaft der Intellektuellen" schon ziemlich im Panikmodus aufgegriffen. Den Rest seiner Karriere hat er sich damit ruiniert.

Das war schon wieder viel zuviel, aber nochmal vielen Dank für den Beitrag. Für die Typos bitte ich um Entschuldigung, es war ein langer Tag.

Kritiker Offline



Beiträge: 274

21.05.2014 21:56
#10 RE: Die Gewißheit, den richtigen Göttern zu dienen. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht Antworten

Lieber Nachdenken_schmerzt_nicht

Ein interessanter Beitrag, bei dem ich aber etwas die logische Korrektheit vermisse. Denn sie werfen ein paar Dinge dadurch durcheinander, dass sie die zeitliche Entwicklung gar nicht berücksichtige. Als wäre die Aufklärung ohne Umwege direkt in die Postmoderne übergegangen.

Meines Erachten ist es korrekt, dass das naturwissenschaftliche Denken (Naturwissenschaft gab es vorher schon) dazu führte, dass die Kirche und die Religion ihren gesellschaftlichen Einfluss verlor. Es war das "Fragt ein Experiment" statt "Fragt den Erleuchteten", das die Menschen lehrte, unabhängige Instanzen zu fragen und sich selbstständig ein Urteil zu bilden, anstatt von der Interpretation der Eingeweihten abhängig zu sein. Das schaffte die Aufklärung.

Danach gab es, beginnend mit den technischen Entwicklungen des 19.ten Jahrhunderts, eine fast bewundernde Gläubigkeit an die technische Machbarkeit. Bis nach dem 2. Weltkrieg hinein war der Glaube der Menschen daran präsent, dass die Technik und die Naturwissenschaft das Heil bringen würde. Technik war über 100 Jahre der Heilsbringer. es geschah also genau das, was sie eigentlich vermisst haben, die Aufklärung führte dazu, dass die Menschen anfingen, an die Naturwissenschaften zu glauben. Auch das war eine Religion mit dem Heilsversprechen von Abschaffung von Hunger, Krankheit, Not. Und man muss zugeben, dass die Naturwissenschaft wirklich viel in diese Richtung geleistet hat.

Aber auch dieser Glaube wurde enttäuscht. Mit Massenvernichtungswaffen, Umweltzerstörung, neuen Krankheiten, Wiederkehren alter Krankheiten und dem Problem der ungleichen Verteilung kam die Ernüchterung. Und der Glaube drehte sich zum Antiglaube. Nachdem erst die Technik das Heil brachte, bringt sie jetzt das Unheil, der Gott wurde zum Teufel gedreht. Damit ging auch die naturwissenschaftliche Methode verloren, denn heute fragt man wieder viel lieber die Erleuchteten (genannt Experten) als sich selbst ein Urteil zu bilden.
Auch das ist eine Religion, auch das ist ein Glaube, auch dieser wird enttäuscht werden. In ein bis zwei Generationen wird ein neues Glaubensbild das alte abgelöst haben und in Zettels Raum gilt es dann, andere Mechanismen zu verklagen.

Die Kirchen haben sich immer mehrheitlich diesen Zeitgeistern angepasst. Als Technik neue Wege eroberte, hat man sie gesegnet, als Nationalismus die Menschen begeisterte, war die Kirche national, als die Technik kritisiert wurde, kritisierte die Kirche mit und wenn jetzt das hehre Ziel der Gleichmacherei ausgerufen wird, ist die Kirche wieder mehrheitlich dabei.

Das war so, ist so und wird so sein. In der Kirche sind eben Menschen, die vom Zeitgeist beeinflusst werden. Das kann ich problemlos akzeptieren, ich bin selbst so einer. Aber im Zentrum aller Zeitgeistigkeit muss immer die eigentliche Botschaft stehen, die des liebenden Gottes und von Jesus, der für uns starb und auferstand. Nur da, wo die Kirche dieses Zentrum verlässt, wird sie im Zeitgeist untergehen.

Der Kritiker

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

22.05.2014 16:27
#11 RE: Die Gewißheit, den richtigen Göttern zu dienen. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht Antworten

Zitat von Kritiker im Beitrag #10
Denn sie werfen ein paar Dinge dadurch durcheinander, dass sie die zeitliche Entwicklung gar nicht berücksichtige. Als wäre die Aufklärung ohne Umwege direkt in die Postmoderne übergegangen.
Werter Kritiker.
Wie gesagt ging es mir nicht um eine historische Abhandlung über Kirchengeschichte und Aufklärung im Wechselspiel und auch nicht um Schuldzuweisung. Schon gar nicht ging es mir darum im Glauben eine Zwangsläufigkeit zur Ummündigkeit zu sehen, oder ihn gar generell zu verdammen.
Mir ging es darum, dass Glauben und Gottesbilder von Menschen gerne mißbraucht werden, um sich von ihrer Ohnmacht zu befreien und damit gleichzeitig in Unmündigkeit zu begeben. Welche Folgen das hat, konnte man im Mittelalter an diversen Auswüchsen sehen, bei denen die Kirche auch große Verantwortung trug, z.B.: Inquisition, Ablaßhändel, Kreuzzüge oder Wissenschaftsunterdrückung. Ich wollte auf die Parallelen hinweisen, die in unserer heutigen Zeit wieder zu beobachten sind:
Menschen, die die Bewegung der Aufklärung hinter sich haben, die Nase über die Verstocktheit ihrer Ahnen rümpfen, den moralischen Stab voller entsetzen über ihnen brechen und sich sicher sind, dass ihnen so etwas nie widerfahren könnte, betreiben neue, moderne Arten der Hexenverbrennung und bemerken es nicht.
Ich möchte zum Beispiel nicht wissen, wie nachfolgende Generationen die geduldete, gewaltsame "Verhinderung des goldenen Reises" und die damit verbundenen nicht verhinderten Tode und Mißbildungen bei hundertausenden von Menschen beurteilen werden. - um einmal ein sehr krasses Beispiel zu bringen.

Festzuhalten bleibt mir:
Wer eine historische korrekte Reflektion über das Wechselspiel von christlich, kirchlicher Sozialisierung, Aufklärung und Naturwissenschaft lesen möchte, ist mit meinem Text völlig falsch bedient. Das kann er in dieser kürze nicht leisten und will er auch nicht. Mein Text möchte ein Bild transportieren, welches eindringlich ist, weil ich es für wichtig halte:
In Unmündigkeit wird Moral beliebig austauschbar, inklusive aller möglicher, dramatischer Folgen. Auch heute noch begeben sich viele Menschen in Unmündigkeit, bemerken es nicht und glauben dabei so sehr an ihrer eigene Moral, dass sie mit keinem Gedanken ihre Beliebigkeit und damit Austauschbarkeit begreifen.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

23.05.2014 10:55
#12 RE: Die Gewißheit, den richtigen Göttern zu dienen. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht Antworten

Es gibt immer wieder Artikel, wo man im ersten Impuls traurig ist sie nicht selbst geschrieben zu haben und ich bin gerade durch Zufall über zwei davon gestolpert. Sie habe genau das gleiche Thema zum Kern wie mein Gastbeitrag, nur finde ich sie weitaus gelungener.

Der eine Artikel thematisiert den Übergang vom religiösen Glauben, zum wissenschaftlichen Glauben und zurück zu einem semi religiös/wissenschaftlichen Glauben. Im Bestreben die Welt besser zu machen, die Zukunft zu retten, wird damit jedesmal wieder Unheil über die Lebenden gebracht.


Der andere Artikel beleuchtet das Thema über den Begriff der Wahrheit und der Gefährlichkeit eines absoluten Wahrheitsbegriffs, dem Religiösität ja leider auch oft zugetan ist. Vielleicht kommen daher die von mir gezogenen Parallelen zwischen Zeitgeist und Kirche.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Martina Offline



Beiträge: 41

25.05.2014 15:13
#13 RE: Die Gewißheit, den richtigen Göttern zu dienen. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht Antworten

Zitat
Die Diktatur der politischen Korrektheit ist subtiler als die der Propagandaministerien und Reichskulturkammern, aber die Konsequenz ist die gleiche: ein entmündigter Bürger.


Insbesondere dieser 2. Artikel unter der (Zwischen)-Überschrift "Ideologie siegt über Vernunft" spricht mich sehr an und stellt m.E. eine schöne Ergänzung zu dem hier diskutierten Thema dar. In diesem Zusammenhang wollte ich auf den Ausgangspunkt zurückkommen und den Gedanken von Dasca noch um einen kleinen Schritt weiterführen.

Man könnte daran erinnern, dass es Israels Propheten waren, die es als Erste wagten, den jeweiligen Herrscher sehr deutlich zu kritisieren. Indem diese "Erfindung" der Herrschaftskritik über das Alte Testament - natürlich zusammen mit anderen Einflüssen u.a. aus der griechischen Philosophie - in unsere Denkkultur und Geistesgeschichte Eingang gefunden hat, war die Basis geschaffen für die selbstkritische Auseinandersetzung mit der vorherrschenden Macht-Ideologie und dem, was wir heute "politische Korrektheit" nennen. Diese Fähigkeit zur Selbstkritik ist, wie ich meine, der einzige Vorsprung der redlichen Wahrheitssucher gegenüber jeder Art von Ideologie-Verblendung (oder Verblödung).

Wenn sich also die Bibel nicht scheut, z.B. vom hochgerühmten König David nicht nur die Heldentaten und poetischen Lieder zu überliefern, sondern auch seine Verfehlungen und wie sie ihm vom Propheten vorgehalten werden, wird deutlich, was uns da vorgestellt werden soll - eben nicht der Sieg der Macht-Ideologie über die Vernunft, sondern das Eingeständnis des Irrenden, dass die Konfrontation mit der Wahrheit, einen Rückweg eröffnen kann. (Was wohl Herr Erdogan dazu sagen würde? - Aber wir wollten ja bei der Selbstkritik bleiben ... )

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

26.05.2014 18:41
#14 RE: Die Gewißheit, den richtigen Göttern zu dienen. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht Antworten

Lieber nachdenken_schmerzt_nicht!

Sie haben eine sehr anregende Überlegung geschrieben und gute Kommentare entlockt. Was Sie in die Überschrift setzten, Ihr genaues Thema, ist psychologisch und politisch überzeugend ausformuliert und muss natürlich Widersprüche enthalten, weil Ihre Kritik 1) etwas Abgründiges im homo sapiens sapiens trifft und weil Sie 2) Ihre Lebenserfahrung und Weltanschauung zum 'prophetischen Urteil' voraussetzen (müssen).

Ich würde demnächst an einem variierten Thema gerne meine Sicht darstellen und will deshalb nicht auf Fragwürdiges eingehen, zumal schon genügend Stimmen dazu vorliegen. Ich möchte Sie vielmehr ermutigen. Sie urteilen besser über die Schwäche der zeitgeistlichen Kirchen als mancher Theologe.
Und Sie analysieren die Bio-Ersatzreligion besser als mancher Therapeut.
In der Kritik des Götterglaubens stimme ich Ihnen übrigens, sofern es um Götzen geht, voll zu, gerade weil ich jüdisch-christlicher Theologe bin.

Ich habe einmal in Erfurt für die deutschsprachigen Dogmatiker den Bruch bei der Aufklärung untersucht und das Ergebnis, das eine Überraschung enthält, publiziert (Vorsehung und Handeln Gottes, hrsg. von Th. Schneider. Quaestiones Disputatae Nr. 115, Herder, S.17-71). Vielleicht kann ich den interessantesten Punkt bei dem angedachten Beitrag einbringen.
Das Mittelalter war - bei manchen Denkern in der Kirche - äußerst hell in Hinsicht auf Verstand und Mündigkeit, es wurde erst bei den Epigonen dunkel, eng und zum Heulen. Auch dies lässt sich leider nicht schnell erläutern.

Vielleicht kennen Sie den Namen des Berliner Philosophen Schnädelbach? Er schrieb mal in DIE ZEIT so ähnlich wie Sie, der Aufsatz hieß "Vom Fluch des Christentums". Ich antwortete ihm persönlich, weil ich über die Antworten seiner Gegner sehr enttäuscht war, mit einem Beitrag "Vom Segen der Christentumskritik" und Schnädelbach drang darauf, dass meine Sicht auch in die Buchveröffentlichung reinkommt ( In: Robert Leicht (Hrsg.): Geburtsfehler? Vom Fluch und Segen des Christentums. Wichern-Verlag, Berlin 2001, S. 95–118).

Seien Sie vorerst herzlich gegrüßt von
Ludwig Weimer

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

26.05.2014 23:24
#15 RE: Die Gewißheit, den richtigen Göttern zu dienen. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht Antworten

Lieber Ludwig Weimer,

danke für ihre Ermunterung, welche mir persönlich viel bedeutet. Nicht zuletzt auch deswegen, weil ich meinen Text mit einigen Bauchschmerzen geschrieben habe. Sowohl katholisch, wie auch in einem christlichen Menschenbild erzogen, ebenfalls weiterhin Mitglied der Gemeinschaft, ist mir Kirche alles nur nicht gleichgültig und in einer Zeit, in der es zum guten Ton gehört die Kirche zu kritisieren, fiel es mir selbst schwer, solche Gedanken (wie getan) über die Kirche zu formulieren. Vor allem, weil ich natürlich befürchtet habe, dass sie als grundsätzliche Kritik an der Kirche verstanden werden würden und nicht als der Hinweis auf Fehler, die die Kirche beging und die ihre Kritiker in gleicher Weise tun, ohne sich darüber bewußt zu sein.
Ohne kirchengeschichtlich beschlagen zu sein, scheint es mir (nach allen Hinweisen in dieser Diskussion) natürlicher Weise auf der Hand zu liegen, dass die Aufklärung auch aus eben der Gesellschaft hervorgegangen sein muss, die durch christliche Kultur und Kirche geprägt war. Die Aufklärung, wenn ich einmal so unbeholfen formulieren darf, muss also notwendigerweise immanent im Christentum angelegt gewesen sein. Ein ermutigender Gedanke, wie ich finde. Umso unangenehmer ist es mir, diesen Sachverhalt in meinem Beitrag wohl in ein falsches Licht gerückt zu haben. Letztendlich hat es mir aber geholfen neue Zusammenhänge zu verstehen.

Der Wille zum "Guten", eine gute Welt zu wollen, reicht alleine nicht aus. Die Mündigkeit sich selbst im anderen zu erkennen und so zu handeln ist ebenfalls notwendig. "Auch du Gott kannst nicht wie du willst, sondern nur wie deine Weißheit dir vorschreibt. " Ich beginne diesen Satz immer besser zu verstehen.
Der Wille zum Guten allein erscheint mir immer mehr wie der Götze des Zeitgeist, dem auch die Kirchen immer mehr beginnen hinterherzuhecheln. Dass eine neue Religion wie der Zeitgeist Götzen huldigt, erscheint mir erklärbar, dass sich die aufgeklärte Kirche wieder Götzen anbiedert ist mir nun dagegen immer mehr unverständlich und erscheint mir immer mehr als etwas sehr trauriges.

Wenn ich all ihre Anmerkungen lese wird mir bewußt, dass ich viel zu wenig weiß. Aber das hat ja etwas sehr Gutes: Man hat viel Raum zum lernen und was gibt es Schöneres, als die Augeblicke des Erkennens und Verstehens.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

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