Erstens: Ich bin ehrlich schon auch etwas überrascht von der Naivität Kohls. Es erscheint doch offensichtlich, dass man sich man sich in Kohls Position einem Journalisten (ob nun links oder nicht) nicht auf solche Art ausliefern sollte. Dass man sich da juristisch besser absichern muss, erscheint doch offensichtlich.
Zweitens: Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass Kohl im Themengebiet "Veröffentlichung vertraulicher Dokumente" unfair behandelt wird. Man denke nur an die Geschichte mit den sog. "Stasi-Protokollen": Die Stasi hatte Kohl abgehört. Und diverse Medien versuchten nun mit aberwitzigen Argumenten, diese Protokolle einsehen zu dürfen. Dass man damit dem Stasi-Opfer Kohl schadete und sich damit letztlich zu Handlangern der Stasi machte, wollte man nicht sehen. Es ging ja gegen Kohl und da war jedes Mittel recht.
Ich gehe von zwei Dingen aus, lieber Florian: 1. Kohl hat Schwan wirklich vertraut. 2. Kohl war durch die Vorgeschichte auch nicht mehr unbedingt der, der er vorher war. Er war gezeichnet vom Tod seiner Frau wie auch eines öffentlichen Absturzes wie es ihn in der jüngeren Geschichte noch nicht gegeben hat. In dieser Situation mag er menschliche Nähe gesucht haben, die er bei Schwan zu finden glaubte. Wenn man Kohl heute sieht, dann sieht man (ich zumindest) einen alten und kranken Mann. Keine Ahnung wie das 2001 ausgesehen hat. Aber ich kann mir schon vorstellen, das er in der Situation 2001 einfach einen Freund gebraucht hat. Sein Pech war, dass es gerade dieser war.
Ich kann nur hoffen, dass sich solcherlei Brüche wenigstens insofern rumsprechen, dass der eine oder andere Prominente vielleicht in Zukunft einen Bogen um den Heyne Verlag macht, der den ganzen Budenzauber veranstaltet und das in ebendieser Zukunft ein paar Leute wissen, wie Journalisten vom Schlage Heribert Schwan mit privaten Gesprächen umgehen.
Wohl wahr - aber die Verlockung ist zu groß; so daß uns die Literaturgattung auch für die nächsten Jahrhunderte gesichert bleibt: auf Klatschhaftigkeit & Tratsch bleibt Verlaß. Angesichts der exponentiell zunehmenden Zahl von anzapfbaren Roboteraugen & - ohren sicher mit steigender Tendenz. Als Genre ist die Chronique scandaleuse natürlich ein Genre mit alteuropäischem Stammbaum. Allerdings eins, das von den Philologen immer links liegengelassen worden ist. Ich vermute mal, daß das weniger dem hohen moralischen Standard der Akademikerzunft geschuldet ist als dem prinzipiell Nicht-Überprüfbaren diese Literaturstücke. Wie die Bezeichnung nahelegt, waren die Franzosen immer ziemliche Pioniere bei der Ausweitung der Zielgruppe. Als Literat dürfte als erster Anatole France ins Visier geraten sein (Jean-Jacques Brousson, AF en pantoufles, 1924), ziemlich zeitgleich mit Proust. (Das waren aber postume Leichenschändungen.) Bei Politikern geht das weiter zurück. Voltaires La Vie privée du Roi du Prusse (1753), in dem er sich über die Homosexualität Friedrichs d.Gr. in allen ausgedachten oder am Hof kolportierten Details ausläßt, war ein Rachestück für den Rauswurf in Berlin. Pöllnitz' La Saxe galante (1734) haben dann im Aufmarsch zum 7-jährigen Krieg Friedrichs Propagandisten trefflich ausgeschlachtet. Fürs klassische Weimar war Karl August Böttiger zuständig (»Einmal (bei Bertuchs Schwiegervater) machte man Einsiedeln, der gern lang im Bett liegen blieb, aus geriebenen und eingerührten Pfefferkuchen eine Sauce unter den Hintern ins Bettuch, weckte ihn nun, und schrie auf ihn, als einen Bettverunreiniger, los. Er sprang auf, zog das besudelte Hemde aus, und verfolgte damit neckend alle Leute im Hause. Göthe warf unterdessen das Bettuch durch ein Loch in die Unterstube, und brüllte: seht die Sau!« Die ZEIT, 14. März 2008 ). Ältestes Bsp. (jetzt aus der neuzeitlichen Schiene: Seneca & Catull sind über solche Schändlichkeiten erhaben ) könnte wohl Bussy de Raboutins Histoire amoureuse des Gaules (1665) sein. BdR war 1 zwielichtiger Genosse: von Beruf Neffe, ist er zunächst dadurch aufgefallen, daß er auf seinem 1. Kommandoposten das Winterlager 1648 id Pfalz dadurch bewohnbar hielt, daß er sämtliche Ausrüstung seiner Kompanie, einschließlich Waffen & Pferde, versilberte. Hat ihm einen strengen (!) Verweis eingetragen. Bei Hof hat er sich dann 10 Jahre später unmöglich gemacht, weil er die fleischlose Fastenzeit 1758 auf seinem Landschloß auf originelle Weise beendete & 1 halbes Dutzend gute Freunde (darunter 1 Abbé Camus) sowie ein ganzes Dutzend filles de nuit zu Gast lud, um den Karfreitag zu einzuläuten . Nachdem man ihn in Versailles nicht mehr zu sehen wünschte, hat er, schlecht gelaunt, das Liebesleben der Gallier geschildert. Ganz im dezenten Legendenstil, viel zahmer als Boccaccio: nur daß die Edelfräulein & ihre Gunst & 1 Nacht nicht dem edelsten Ritter, sondern gegen Gebühr gewährten; & so, daß alle dramatis personae den Zeitgenosen erkennbar sind, angefangen bei der Königsmutter. Die Auflagen ab 1670 (die tragen alle den Druckort "Lyon"; personne ne sait, ob das fingiert ist; ~230 S.; etwas schmaler, aber dafür höher als 1 Reclamheft) haben allesamt eine Schlüsseltabelle beigebunden. BdR hatte klugerweise 2 MSS. geschrieben: die harmlose Version hat er dem Richter in die Finger gegeben: die habe eine befreundete Marquise schändlicherweise kopiert & all die frechen Passagen eingeschummelt: ansonsten wäre er per lettre de cachet in der Bastille gelandet. So hat er nur bis zum 81. Geburtstag auf dem Land gehockt, wo es nichts als Misthaufen zu begutachten gab. Die Mémoires von Saint-Simon verdanken sich ja auch diesem Umstand. (Man sieht: die Lektüre solcher Schriften steckt an.) Der Antrieb *heimzahlen* scheint in der Gattung bei politischen Denkzettelschriften eine ziemliche Konstante zu sein.
Vielleicht ließe das als Anschauungsmaterial über den Verfall der Injurie, der Invektive & der Suada im Allgemeinen an:
1853: "Ueber den Brockhaus und seine Tolldreistigkeit bin ich höchst aufgebracht. Was? eine deutsche Academia della Crusca, bestehend aus Handwerksburschen, denn das sind die Setzer, also aus Knoten! Hausorthographie! Knoten -Orthographie! der unverschämte .... denkt, die Firma da unten sei die Hauptsache; während sie ein Quark ist, danach ernsthafte Leser nicht sehn! "Es wäre ein Uebelstand, dass aus derselben Officin verschiedene Orthographien hervorgiengen!* O nein, daran liegt gar nichts, rein nichts! Aber dass ein Ladenmensch, ein Buchdrucker und seine schwarzen Myrmidonen aus dem Schmierloch, die deutsche Sprache regieren wollen, ist nicht nur ein Uebelstand, sondern eine Infamie." (Arthur Schopenhauer an Julius Frauenstädt, 2. 11. 1853)
1979: "Denken Sie nur an die Türklinken, sage ich zum Fuhrmann, die man heute zu kaufen bekommt, man macht eine Tür auf, und man hat die Klinke in der Hand, und alles ist peinlich usf. Man dreht am Fenstergriff, und das Fenster fällt einem auf den Kopf, man hebt einen Kübel voll Wasser auf, und man hat nur noch den Henkel in der Hand." (Thomas Bernhard, "Watten")
2001: "Merkel konnte nicht mit Messer und Gabel essen." (H.K.)
Die Studie gibt's nb. seit 1933, von Jorge Luis Borges: "El arte de injuria".
Zitat von R.A. im Beitrag #7 Gibt es denn wirklich ernst zu nehmende Leute, die diese Schmuddelei verteidigen?
Was heisst verteidigen ? Jakob GraSS wurde als Beispiel genannt und macht den Job natürlich gerne, aber darum gehts nicht so sehr. So weit ich mitbekommen habe liegen die Kohl-Protokolle inzwischen auf Platz 1 der Beststeller Liste. Und das ist, so es stimmt, schon ein echtes Armutszeugnis. Und das gerade in einer Gesellschaft, die sich furchtbar darüber aufregt, wenn sie irgendwo auch nur auf der Strasse gefilmt wird.
Zitat von Llarian im Beitrag #10Und das gerade in einer Gesellschaft, die sich furchtbar darüber aufregt, wenn sie irgendwo auch nur auf der Strasse gefilmt wird.
Das dürften zwei Seiten derselben Medaille sein: Alle sind ganz wild auf Nuditäten & Papparazzi e altre ragazzi & gehen selbstredend davon aus, daß der eigne Podex ebenso lüstern von allen anderen begafft würde, wenn sie's denn könnten. Daß das schlicht uninteressant & öde sein könnte - neben der Schamverletzung - dürfte den meisten zwar hinterher aufgehen, aber erst hinterher. Das ist ein anderer Aspekt solcher "Skandalbücher" - von Albert Goldmans John-Lennon-"Biographie" über Donald Spotos Hitchcock-Porträt bis hin zu Kenneth Angers "Hollywood Babylon": die absolute Banalität & Nichtigkeit des Ausgebreiteten, egal ob erfunden oder "200% authentisch". Anders als bei handfester Pornographie geht der Käufer leer aus & erhält den Kater ohne vorausgehenden Rausch.
Bei Amazon liegt der Titel scheints z.Zt. auf Platz 2. Pole position hält das BGB.
HR
(
gelöscht
)
Beiträge:
15.10.2014 23:55
#12 RE: Eine kleine Anmerkung zu den Kohl Protokollen
"Der Westen bekämpft den islamistischen Terrorismus. Warum nicht den eigenen? Die Zahl der Menschen, die uns zum Opfer fallen, ist viel höher. Alle zehn Sekunden verhungert ein Kind. Es ist unsere Schuld."
"Der Westen bekämpft den islamistischen Terrorismus. Warum nicht den eigenen? Die Zahl der Menschen, die uns zum Opfer fallen, ist viel höher. Alle zehn Sekunden verhungert ein Kind. Es ist unsere Schuld."
Ach, dieser Artikel ist eine Augenöffnung für mich: ich dachte schon, die Kommentatoren (also die User, nicht die Riege um Jakob und Jan) könnten gar nicht vernünftig denken, aber einige wenige dieser Kommentare unter dem Artikel widersprechen Jakob dort und das sogar gut fundiert.
Zitat von HR im Beitrag #12 Dennoch verwarne ich Sie hiermit wegen Verunglimpfung öffentlicher Personen.
Lieber HR, auf der einen Seite ist die Aussage natürlich lustig und ich könnte jetzt ein paar passende oder wenigstens unterhaltsame Kommentare zu Augstein und seiner vielleicht erträumten Rolle als öffentliche Person verfassen.
Nur verstehe ich ihren Beitrag als Retourkutsche für eine andere Verwarnung in einem anderen Thread. Eine die Ihnen gegenüber zurückgenommen und entschuldigt wurde (was nicht selbstverständlich ist). Das hier hat jetzt den Geschmack von Nachtreten und das ist ziemlich schlechter Stil. Ich finde diesen Aspekt leider nicht allzu komisch und möchte diese Form von Metadiskussion auch nicht sehen. Betrachten Sie das vielleicht nicht als Warnung aber doch als ernst gemeinten Hinweis.
Das hier hat jetzt den Geschmack von Nachtreten und das ist ziemlich schlechter Stil.
Lieber Llarian, ich wollte nicht nachtreten sondern nur etwas "locker machen".Ist mir wohl mißlungen.Entschuldigung. Hätte ich wirklich nachtreten wollen, wäre wohl eher Herr Plaethe mein Adressat gewesen,nicht? Hier wurde von Zettel mal ein User wegen der Begriffe "EUDSSR" und "Blockparteien" im Zusammenhang mit der Euro-Rettung des Forums verwiesen. Daran habe ich mich unter dem Eindruck meiner Verwarnung erinnert, als Jakob GraSS auftauchte. Ich fühle mich hier etwas gehemmt, da mir die Kriterien, die zu einer Verwarnung führen können, recht schwammig erscheinen. Tut mir leid, daß ich ihren Thread nun doch für eine metadiskussion mißbraucht habe.
Zitat von HR im Beitrag #18 Lieber Llarian, ich wollte nicht nachtreten sondern nur etwas "locker machen".Ist mir wohl mißlungen.
Das ist es in der Tat, ich hätte nicht erwartet, dass Sie mich ernsthaft für den GraSS verwarnen wollten....
Zitat Hier wurde von Zettel mal ein User wegen der Begriffe "EUDSSR" und "Blockparteien" im Zusammenhang mit der Euro-Rettung des Forums verwiesen. Daran habe ich mich unter dem Eindruck meiner Verwarnung erinnert, als Jakob GraSS auftauchte. Ich fühle mich hier etwas gehemmt, da mir die Kriterien, die zu einer Verwarnung führen können, recht schwammig erscheinen.
Nachvollziehbar, lieber HR. Nur in diesem Falle dann doch noch vergleichsweise gut zu trennen. EUDSSR und Blockparteien sind nach Zettels Auffassung (und einer breiten Mehrheit der Autoren) ein Angriff auf den deutschen Rechtsstaat, weil sie ihn grundsätzlich in Frage stellen. Die Aussage hinter beiden Begriffen ist, dass die BRD kein demokratischer Staat ist. Und das ist tatsächlich falsch, und, für die Bundesrepublik tatsächlich eine Beleidigung. Wer meint, dass es eine EUDSSR gibt, der hat eine "echte" UDSSR noch nich erlebt. Und Blockflöten gibts in der BRD auch nicht. Ich persönlich habe mit so grenzwerten Formulierungen wie "DDR light" weniger Probleme, aber es entspricht der Ordnung dieses Forums im Zweifelsfall darauf zu verzichten.
Jakob Augstein und Günter Grass auf der anderen Seite sind nicht die BRD. Ich halte beide für ziemlich arme Würstchen, wobei man dem einen wenigsten zugute halten müsste, das er was anständiges gelernt hat und nicht nur vom Namen und Erbe seines offiziellen Vaters lebt. Beide halte ich jedoch, gerade weil es öffentlich Figuren sind, die auch öffentlich ihre Tiraden loslassen, für durchaus verballhornungsfähig, so lange das nicht ins Vulgäre oder in die Schmähkritik abgleitet.
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