Sollen wir uns den Kopp über die Ursachen von Gewalt zerbrechen?
Ein sehr interessanter Artikel über Reemtsmas späte An- bzw. Einsichten in Sachen Gewaltforschung. Eigentlich alles klar & doch so schwer zu akzeptieren. Oder doch nicht klar bzw. alles falsch? ;-)
Man sollte die Ursachen der Gewalt erforschen, erstens aus akademischen Interesse und zweitens weil Ursachenforschung zur Lösung des Problems beiträgt. Dem erster Argument werden wohl nicht alle folgen. Wissenschaft um ihrer selbst willen (L’art pour l’art) ist allgemein nicht anerkannt und die meisten Leute, die dem zustimmen würden, denken dabei nicht an solche Sachen wie Kriminalistik oder Soziologie. Der zweite Grund rechtfertigt natürlich nicht den Einsatz unbegrenzter Mittel. Im Einzelfall gibt man die Ursachensuche auf und begnügt sich mit der Behandlung der Symptome. Auch dürfte eine Ursachenforschung aus dem zweiten Grund natürlich nicht einfach den Schuldigen in der Gesellschaft sehen, sondern müsste auch untersuchen, welche Mechanismen unter welchen Umständen genau zur Delinquenz führen. Meines Wissens hat die Persönlichkeitspsychologie ergeben, dass das Handeln eines Menschen (ob er z. B. introvertiert allein bleibt oder eher direkt auf Menschen zugeht) viel stärker durch die Umstände unter denen er sich befindet bestimmt wird als durch konstante, immer gleich bleibende Persönlichkeitsmerkmale. Hier denke ich zum Beispiel an die "Broken-Windows-theory".
Hoffentlich heizt das die Diskussion hier ein wenig an.
Zitat von Johanes im Beitrag #2Meines Wissens hat die Persönlichkeitspsychologie ergeben, dass das Handeln eines Menschen (ob er z. B. introvertiert allein bleibt oder eher direkt auf Menschen zugeht) viel stärker durch die Umstände unter denen er sich befindet bestimmt wird als durch konstante, immer gleich bleibende Persönlichkeitsmerkmale. Hier denke ich zum Beispiel an die "Broken-Windows-theory".
Genau hierzu eignet sich die Broken-Windows-Theory eher nicht. Hier wird ja nur festgestellt, das eine intakte Umgebung Delinquenten abschreckt, bzw. eine offenkundig verwahrloste eine Häufung von Vandalismus, Drogenhandel usf. befördert; nicht aber, ob die Hemmschwellen bei einzelnen Personen sinken oder sich Barbaren dort einfach unbeobachteter fühlen. Zu den großen Rätseln der US-amerikanischen Kriminalstatistik gehört das Einbrechen der Prävalenz der Mordfällen (Totschlag, also "murder in the second degree", eingeschlossen), die von Anfang bis Mitte der 90er Jahre um gut 70% sank, ohne dass es schlüssige Ansätze zu einer Erklärung gibt. (D.h. auch, daß sich jeder nach Gusto das zurechtdeuten kann: ob das nun die 3-Strikes-Regel abschreckend wirkt oder Sozialprogramme doch greifen; ob sich die gewaltfixierten Macho-Subkulturen in den innenstadtghettos der Schwarzen & Hispanics totlaufen, oder ob grelle Frömmigkeit doch Wölfe zu Schafen umschmiedet.)
Die "klassischen" psychologischen Versuchsanordnungen, in denen untersucht werden sollte, ob innerhalb geschlossener Gruppen durch widrige Umstände der Wolf im Menschen ausbricht, wie das berüchtigte Milgram-Experiment, haben sich zumeist als nicht reproduzierbar erwiesen oder als nicht aussagefähig: zu kleine Gruppen, zu viele externe Faktoren, kurz: zu viel Anekdote & zu wenig Empirie.
Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #3Zu den großen Rätseln der US-amerikanischen Kriminalstatistik gehört das Einbrechen der Prävalenz der Mordfällen (Totschlag, also "murder in the second degree", eingeschlossen), die von Anfang bis Mitte der 90er Jahre um gut 70% sank, ohne dass es schlüssige Ansätze zu einer Erklärung gibt. (D.h. auch, daß sich jeder nach Gusto das zurechtdeuten kann: ob das nun die 3-Strikes-Regel abschreckend wirkt oder Sozialprogramme doch greifen; ob sich die gewaltfixierten Macho-Subkulturen in den innenstadtghettos der Schwarzen & Hispanics totlaufen, oder ob grelle Frömmigkeit doch Wölfe zu Schafen umschmiedet.)
Zitat von Wall Street Journal, May 29, 2015The nation’s two-decades-long crime decline may be over. Gun violence in particular is spiraling upward in cities across America. In Baltimore, the most pressing question every morning is how many people were shot the previous night. Gun violence is up more than 60% compared with this time last year, according to Baltimore police, with 32 shootings over Memorial Day weekend. May has been the most violent month the city has seen in 15 years.
In Milwaukee, homicides were up 180% by May 17 over the same period the previous year. Through April, shootings in St. Louis were up 39%, robberies 43%, and homicides 25%. “Crime is the worst I’ve ever seen it,” said St. Louis Alderman Joe Vacarro at a May 7 City Hall hearing.
Murders in Atlanta were up 32% as of mid-May. Shootings in Chicago had increased 24% and homicides 17%. Shootings and other violent felonies in Los Angeles had spiked by 25%; in New York, murder was up nearly 13%, and gun violence 7%.
Those citywide statistics from law-enforcement officials mask even more startling neighborhood-level increases. Shooting incidents are up 500% in an East Harlem precinct compared with last year; in a South Central Los Angeles police division, shooting victims are up 100%.
By contrast, the first six months of 2014 continued a 20-year pattern of growing public safety. Violent crime in the first half of last year dropped 4.6% nationally and property crime was down 7.5%.
Zitat von Economist, May 9th, 2015Black America still fares badly on many of the predictors of success and signals of distress that concerned Moynihan. If it were a separate country, it would have a worse life expectancy than Mexico, a worse homicide rate than Ivory Coast and a higher proportion of its citizens behind bars than anywhere on earth (see interactive). This is despite the fact that, overall, America is home to the richest, most successful population of black African descent that the world has ever seen.
Yet an updated Moynihan report would also have to acknowledge the prescience of that tall white Irishman. The proportion of African-American babies born outside marriage has nearly tripled since 1965, to 71%. Though the crime rate has fallen across the country in the past two decades, casting some doubt on Moynihan’s link between single-parenting and disorder, black Americans are still eight times more likely to be murdered than whites and seven times more likely to commit murder, according to the FBI. An incredible one-third of black men in their 30s have been in prison.
Welcher Intellektueller was auf eigene Faust erforscht, sollte in einer freien Gesellschaft keinen öffentlichen Diskurs auslösen. Freiheit der Forschung und so. Aber daneben gibt es ja auch ein gesellschaftliches oder staatliches Interesse an Forschung - ausgedrückt in Forschungsaufträgen, Subventionen, öffentlichen Apellen an die Intellektuellen, staatliche Einflussnahme auf die Universitäten und so weiter. Öffentliches Interesse an Gewaltforschung - würde ich für sinnvoll halten, wenn folgendes gelten würde:
a) Das wissenschaftliche Kriterien eingehalten werden (Ergebnisoffenheit, Objektivität usw) b) Das die Ergebnisse in der Gesellschaftspolitik genutzt werden
Weder a noch b trifft zu - also brauchen wir auch keine Gewaltforschung.
___________________ Kommunismus mordet. Ich bin bereit, über die Existenz von Einhörnern zu diskutieren. Aber dann verlange ich außergewöhnlich stichhaltige Beweise.
Zitat von Frank2000 im Beitrag #6Welcher Intellektueller was auf eigene Faust erforscht, sollte in einer freien Gesellschaft keinen öffentlichen Diskurs auslösen. Freiheit der Forschung und so. Aber daneben gibt es ja auch ein gesellschaftliches oder staatliches Interesse an Forschung - ausgedrückt in Forschungsaufträgen, Subventionen, öffentlichen Apellen an die Intellektuellen, staatliche Einflussnahme auf die Universitäten und so weiter. Öffentliches Interesse an Gewaltforschung - würde ich für sinnvoll halten, wenn folgendes gelten würde:
a) Das wissenschaftliche Kriterien eingehalten werden (Ergebnisoffenheit, Objektivität usw) b) Das die Ergebnisse in der Gesellschaftspolitik genutzt werden
Weder a noch b trifft zu - also brauchen wir auch keine Gewaltforschung.
Spot on! - Wobei die Kriterien a) und b) heute praktisch im Widerspruch zueinander stehen; jedenfalls fällt mir auf die Schnelle keine Wissenschaft ein, die beide Kriterien erfüllen würde. Früher waren Kern- und Genforschung von dieser Art, aber das ist ja passé, jedenfalls in Deutschland.
Zitat von Frank2000 im Beitrag #6Welcher Intellektueller was auf eigene Faust erforscht, sollte in einer freien Gesellschaft keinen öffentlichen Diskurs auslösen. Freiheit der Forschung und so.
Das ist alles richtig, aber ich hab auf den Artikel verwiesen, weil er - wie ich meine - einige originelle & produktive Gedanken freisetzt. Darum hat sich Reemtsma, aber auch der Berichterstatter, also Thomas Schmid von der Welt, verdient gemacht.
Hier ein paar Beispiele: Zur Frage nach den Ursachen/Gründen für die Gewalt meint er:
Zitat Warum brennen in französischen Vorstädten Autos? ... Das fragen wir uns immer wieder, wie wir uns auch immer wieder fragen, warum ansonsten ganz normale Männer bereit waren, im Holocaust Juden industriell zu ermorden.
Schon seit geraumer Zeit dreht Reemtsma diesen Fragespieß herum: „Ich möchte hingegen fragen, warum wir so fragen. Warum meinen wir, die Soziologie, die Psychologie und in gewissem Sinn die Historiographie könnten uns etwas ‚erklären’, soll heißen: uns sagen, was dahintersteckt?“ Und dann: „Lassen Sie uns banal miteinander werden. Wenn einer irgendetwas tut, nehmen wir an, dass er das tut, weil er das tun will.“
Zum Sinn/Zweck der Sozialforschung:
Zitat Sozialforschung legitimiert sich durch das Angebot, dem Laien etwas verständlich zu machen, was er mit seinem gesunden Laienverstand nicht zu begreifen vermag. Reemtsma bestreitet nun im Grunde, dass dieses sozialforscherische Bemühen überhaupt sinnvoll ist.
Ha - nämlich!:
Zitat Der Sozialforscher ist dem Laien gegenüber nicht im Vorteil, und das Erklären hat keinen höheren Rang als das Beschreiben, die analytische Prosa ist der literarischen Prosa nicht überlegen.
Dem möchte ich nicht widersprechen ... - genauso wenig wie dem hier:
Zitat Lange lief die Sozialforschung mit dem Bewusstsein durch die Welt, eine Art Königsdisziplin (oder soll man sagen: Gottesdisziplin?) der Erkenntnis zu sein. Reemtsma macht in seinem Vortrag unmissverständlich deutlich, dass er davon nichts hält. Die Sozialforschung, die im Kleide der Geschichtsphilosophie daherkommt, will die Stelle besetzen, die Religion und Theologie haben räumen müssen – ein durchaus vormodernes Manöver, eine Usurpation. Sie liefert trügerische Verstehenssicherheit.
Ich hoffe, dass ich nicht allzu viel zitiere, aber ich tu das auch bloß, weil ich den Eindruck habe, dass den Artikel keiner hier gelesen hat. Ein letztes Zitat sey mir also noch erlaubt, denn das hat es echt in sich (& fast bin ich versucht zu sagen, dass hierbey das "Nachdenken_doch_schmerzt" ;-):
Zitat Nichts ist überwunden: Vor Jahren ist Jan Philipp Reemtsma in seinem Buch „Vertrauen und Gewalt“ dem Paradox nachgegangen, dass die Moderne des 20. Jahrhunderts ein bisher nicht bekanntes Maß extremer Gewalt hervorgebracht hat – ohne dass wir das Vertrauen in eben diese Moderne verloren hätten. Holocaust wie Gulag haben ein für allemal vorgeführt, dass es keinen Grund gibt, Regeln, Übereinkünften oder so etwas wie Humanität zu vertrauen. Und doch können wir ohne dieses Vertrauen keinen Tag leben, in Beziehungen nicht, im Arbeitsleben nicht, selbst im Straßenverkehr nicht. Dieses Paradox ist nicht aufzulösen – auch dadurch nicht, dass wir die extreme Gewalt zu einem Rätsel erklären, das zu lösen wäre. Tun wir das, tragen wir nicht zur Erkenntnis bei, sondern ziehen nur – durchaus selbstbezogen – die Enttäuschung darüber in die Länge, dass der im 18. Jahrhundert aufgekommene Geschichtsoptimismus ganz und gar trügerisch war.
Zitat Das ist alles richtig, aber ich hab auf den Artikel verwiesen, weil er - wie ich meine - einige originelle & produktive Gedanken freisetzt. Darum hat sich Reemtsma, aber auch der Berichterstatter, also Thomas Schmid von der Welt, verdient gemacht.
Zitat Ich hoffe, dass ich nicht allzu viel zitiere, aber ich tu das auch bloß, weil ich den Eindruck habe, dass den Artikel keiner hier gelesen hat.
Wenn man die Forschung und die Diskussion zu dem Thema auch nur grob verfolgt hat, bringt weder der Artikel noch die Rede Reemtsmas inhaltlich irgendetwas Neues, hier treten einfach Ergebnisse "sozialwissenschaftlicher Forschung" mit der üblichen Verzögerung von 1-2 Jahrzehnten an die Öffentlichkeit. Oder genauer gesagt, sehen Sie das Ergebnis/ die Betrachtungsweise der verleugneten "konservativen/ rechten Wende" der Sozial- und Geisteswissenschaftler der direkt auf die 68iger folgenden akademischen Generation. Von Außen war dieser "turn" nicht unbedingt zu erkennen, da sein Träger nach außen und wohl auch vor sich selbst auf ihrer formalen Identität mit dem 68iger Lager bestanden haben. Originell ist das alles übrigens nur, wenn man in aufklärerischem/progressivem Selbstverständnis sozialisiert wurde.
Zitat von moise trumpeter im Beitrag #9Originell ist das alles übrigens nur, wenn man in aufklärerischem/progressivem Selbstverständnis sozialisiert wurde.
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