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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 11 Antworten
und wurde 2.219 mal aufgerufen
 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Kallias Offline




Beiträge: 2.309

09.07.2015 15:25
„Wer bist du denn?“ Nora Gomringer Antworten

Die Schriftstellerin Nora Gomringer gewann kürzlich einen Literaturpreis in Klagenfurt mit einem kompliziert verschachtelten Text namens "Recherche", der von einer Schriftstellerin handelt, welche für einen Text namens "Der Gott der verlorenen Dinge" recherchiert.

Man kann das in der FAZ ungekürzt nachlesen.

Ludwig Weimer kommentiert.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.404

09.07.2015 17:01
#2 RE: „Wer bist du denn?“ Nora Gomringer Antworten

Im Westen nichts Neues. Rainald Goetz hat sich 1983 mit Vorsatz ungeschickt rasiert, "weil die Welt heute zu kaputt war, um das noch in einem Text ausdrücken zu können". Seitdem scheint nicht viel nachgekommen zu sein.

Dass der Klagenfurter Wettbewerb seit mindestens 30 Jahren, wenn nicht sogar vom Anfang seines Bestehens an (die Wahl der Namenpatronin, deren Oeuvre bespielhaft für diese Art von Letternkrampf steht, legt das nahe), nur eine betrübliche Persiflage all dessen, was Literatur in ihrem Kern ausmacht, darstellt, dürfte Beobachtern, die dieses komische Brauchtum der Elfenbeinturmbewohner sonst nicht einmal zu ignorieren pflegen, 2006 aufgegangen sein, als Kathrin Passig für einen bewußt einzig auf diese spezielle Klientel kalkulierten Text mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis bedacht wurde.

Ein Großteil der Gegenwartsliteratur lebt (na, "lebt" ist die falsche Vokabel; es handelt sich um das literarische Pendant zum Wachkoma) in diesem Koordinatensystem: An der Oberfläche eine aller konkreten Details bare, aber ziemlich trübe, stillgestellte Gegenwart, der vorgeblich Anlaß ein spektakulärer Einbruch, in aller Regel ein Mord, Selbstmord, Brandstiftung, das Ganze dann als Aufdeckung einer unendlichen Leere der vorgeführten Schemen, irgendwie ist die Gesellschaft schuld, oder unsere Zeit, oder der Verlust der weltanschaulichen Sicherheit, oder die Germanistik (letzte mit Sicherheit, da sie solche Texte, wie man poststrukturell sagt, "privilegiert"). Zu der drögen Misere hat nicht zuletzt die Adornosche Setzung beigetragen, daß "Genuß", "Freude", ein emotionelles oder intellektuelles Mitgehen an einem Text, einem Bild, an einem Musikstück einen Akt des intellektuellen Verrats darstellt ("Ohrenschmaus" als Stigma des unsalvierbaren Spießertums).

Es ist ja nicht so, daß der Bodenverlust, die lähmende Sinnlosigkeit, der Versuch, ohne jede transzendente Hoffnung sich in einer Welt, die ohne Zweck & Erlösung von niemandem hingestellt worden ist, sich einzurichten, nicht ein großes Thema der Literatur darstellt: der gesamte Existenzialismus kreist um nichts anderes. (Genauso legitim ist aber auch die Haltung, das als Narzismus, blindes Sichverrennen und Pubertätskitsch vom Tisch zu wischen.) Nur: dergleichen Texte lassen sich ja noch nicht einmal auf dieses Thema ein. Statt dessen werden platteste Worthülsen & Klischees vorgeführt: 13-Jähriger, natürlich schwul, Vater natürlich Päderast, Mutti ditto, nur mit Hang zu Gören, die Protagonistin charakterisiert durch die postmodern beliebte "literalization of metaphor" (mit der Germanistikgeschädigte die Verwendung phantastischer Tropoi rechtfertigen):

Zitat
Die 22 Jahre alte Interviewerin weiß zwar nur theoretisch „wie man einen Mann oral befriedigt“...



- die hat wortwörtlich von "Tuten & Blasen" keine Ahnung (big fat hairy deal... ). Wie halt 90% der Leute-heute. Warum kommt mir da nur die Idee, es könnte sich hier um eine Parodie auf gewisse Zeitgeistobsessionen handeln? Was gleichgültig ist: da der Text Wettbewerbsbeitrag war, spielt die Autorin das Spiel mit: "ich wollte Euch ja nur vorführen" gilt nicht als Ausrede. Der ganze Zirkus, um zu dem Schluß zu kommen: ach-nichts-Genaues-weiß-eh-niemand. Kein besonders origineller Schluß: seit Kafka, "Rashomon", Inouyes "Eiswand" ist das durchaus an Geschichten vorgeführt worden, deren Gestalten den Leser interessieren & sich dieses Interesse verdient haben.

Rückschlüsse auf die wirkliche Welt (das ist in der Literatur ja sowieso ein ganz bedenklicher Bereich) lassen sich aus so angelegten Texten, selbst wenn sie gelungen sind (bei Kafka darf gezweifelt werden; bei Beckett auch), prinzipiell nicht ziehen: solche Versuchsanordungen à la Sartres "Huis clos" funktionieren nur in einem Vakuum, "in einer fernen Galaxis vor langer Zeit". Konkrete Leben, mit Namen und Daten, lassen so etwas sofort als peinliches & im Kern zutiefst unanständiges Gehampel erkennen. Das ist der Grund, warum Wolfgang Borchert bei so vielen Lesern Magenkrämpfe auslöst (sein schwülstiges Pathos besorgt den Rest). Und das ist der Punkt, wo der N.G.sche Text dann nicht nur die übliche Bankrotterklärung von Belle-Lettre-Heinis (du hast keinerlei Ahnung von der Welt & keinerlei Stilgefühl? Schreib 'n Roman) bleibt, sondern ein Ärgernis wird: Die 149 Opfer, die der Psychopath Andreas Lubitz als Wegbegleitung ins Jenseits für angemessen hielt, waren wirkliche Menschen, nicht Symbol eines irgendwie entgleisten Zeitgeistes oder eines amoklaufenden Kapitalismus, keine "schwulen 13-Jährigen", die nur im Kopf einer unbedarften Literatusse spuken. Und die sollten von ihrem Geplapper verschont bleiben. Z.B. indem man solchen Texten nicht durch diesen Preis Aufmerksamkeit verschafft (zumindest bei Deutschlehrern & Schurrnalisten scheint diese Illusion ansatzweise vorhanden. Sapienti sat). Der Sinn & Zweck deutscher Literaturpreise besteht bekanntlich einzig darin, Poheten, die sich sonst vom Erlös ihrer opuscula kein Pfund Kaffee leisten könnten, nach dem Wegfall des Mäzenatentums eine bürgerlich camouflierte Apanage zukommen zu lassen. Da stehen genug solche zur Auswahl, von denen zu Recht niemand ausser den Verleihern je gehört hat.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

09.07.2015 17:25
#3 RE: „Wer bist du denn?“ Nora Gomringer Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #2
Im Westen nichts Neues ... von denen zu Recht niemand ausser den Verleihern je gehört hat.



Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #2
... die übliche Bankrotterklärung von Belle-Lettre-Heinis (du hast keinerlei Ahnung von der Welt & keinerlei Stilgefühl? Schreib 'n Roman) ...

Wenn es dann auch noch an der Grammatik hapert, dann wird'sn Gedicht oder was heutzutage unter dieser Bezeichnung läuft: zwar mit dem scheinbaren Vorteil äußerlicher Kürze, aber dennoch meistens nur mit äußerster Anstrengung bis zu Ende auszulesen.
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #2
z.B. indem man solchen Texten nicht durch diesen Preis Aufmerksamkeit verschafft.

Das würde ich nun nicht so negativ sehen. Durch den Warnhinweis "Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin" sind Werk und Trägerin fürderhin zur Erleichterung des Vorsortierens klar gekennzeichnet.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.404

09.07.2015 20:10
#4 RE: „Wer bist du denn?“ Nora Gomringer Antworten

Klappentexte für Lyrikbände zu verzapfen dürfte im Literaturbetrieb der abtörnendste Job von allen sein, da man sich nicht mal einreden kann, dank Tertullianischer Brillianz seien jetzt in 5 Jahren 318 statt nur 312 Exemplare über den Ladentisch gegangen. Aber dennoch: wenn das das Beste ist, was einem da einfällt...

Zitat
Nora Gomringer, Klimaforschung

Jedes Gedicht kennt ein Wetter, in dem es entsteht. Eines vor der Tür und eines am Schreibtisch seines Dichters. Nora Gomringer hat ihre Gedichte über einen Zeitraum zusammengetragen und ein Klima aus ihnen entstehen sehen. »Klimaforschung« ist ein Auftrag in Sachen Lyrik und ein lyrisches Ergebnis.



https://www.voland-quist.de/buch/?132/Kl...-Nora+Gomringer

Immerhin. Herr Schellnhuber & der Weltklimarat erfüllen den gleichen Auftrag, mit ebenso ungereimtem Ergebnis.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Kallias Offline




Beiträge: 2.309

09.07.2015 20:50
#5 RE: „Wer bist du denn?“ Nora Gomringer Antworten

Ja schon, das Thema ist furchtbar langweilig, die Sprache oft klapprig und unsicher:

Zitat von Gomringer, Recherche
Ob Lyrik oder Prosa ist da egal, sagt sich die Autorin Bossong und zieht aus der Tasche, die ist braun und aus Leder und hat so einen Überschlag und sieht aus wie eine alte Schultasche, Block und Stift und wird sofort zum Klischee. Damit kann sie leben (usw.)

Aber hui, wie schnell! Das geht so flott dahin, dass man sich gar nicht abzuspringen traut. Ich muss gestehen, sie hat mich gekriegt. Im klaren Vorauswissen, dass da nichts kommen wird, bis zum Ende alles durchgelesen... hätt ich nicht gedacht.

Kallias Offline




Beiträge: 2.309

09.07.2015 21:41
#6 RE: „Wer bist du denn?“ Nora Gomringer Antworten

Zitat von Ludwig Weimer
Die Solidarität mit jedem armen und kranken Menschen, ohne Verteufelung, gehört also zu den verlorenen Dingen, sagt sie.

Dem ist ganz sicher nicht so. Ärzte wenden ihre Kunst wie seit Hippokrates' Zeiten an jeden, auch den Verbrecher. Die Kirchen beten immer noch für die Bösen. Und auch früher, als die Dinge noch nicht verloren waren, muss es den Menschen oft schwer gefallen sein, die verschiedenen Jobs auseinanderzuhalten.

Ärzte sollen nicht Richter spielen, Richter nicht neutral wie Wissenschaftler urteilen. Und wenn die Religion auf "dasjenige von Gott in jedem" hinweist, spricht sie niemanden von Schuld und Verantwortung frei. Dies klarzustellen, fällt insbesondere den moralisierenden ("dualistischen") Religionen wie dem Christentum grundsätzlich nicht leicht. Da ist nichts verlorengegangen, das Problem gab es immer schon.

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

10.07.2015 11:34
#7 RE: „Wer bist du denn?“ Nora Gomringer Antworten

Herzensdank für die Kommentare,

liebe Herren Elkmann, Fluminist und Kallias,

in einer Zeit, in der "Preisträger" ein Warnhinweis geworden ist,
und "Preisträgerin" ein doppelter, nicht weil Frauen nicht schreiben können, sondern weil eine Jury der Zeitmode entsprechen muss, wie schon die Autorin ihr entsprechen musste ...
Gut, dass Sie alle gegen diesen Zwang protestieren. Auch die Mode, den Christen eins auszuwischen, gehört zu den Zwängen, wie Kallias schön zeigt.
Dieser Zwang ist nicht neu; in Bayern kann z.B. auch nur einer aus der CSU Kini (Ministerpräsident) werden, der ein bisserl gegen den Papst ist, weils Tradition hat, siehe Ludwig der Bayer.
Meine Medizin nach dem Lesen des Textes in der FAZ war, den Zeitgeist unsatirisch zu erfassen und so gefasst ging ich ins Bett und nahm als Lektüre ein Büchlein namens "Prokopus". Eine Erzählung, 92 Seiten, über das Nichtverstehen in der Ehe, aber erst nach 78 Seiten kommt das erste dunkle Wölkchen. Und gegen Ende heißt es: "Und die Sache wäre so einfach gewesen. (...) Sie strebten, ach! so heiß nach Einigung - ein haarbreit Hindernis lag nur dazwischen, dieses kleine Haar war zu überschreiten; es ist so leicht - - aber gerade bei Wesen, deren Inneres ganz grundverschieden ist" usw. Die Ausgabe, weil leicht in der Hand beim Liegen, ist aus der alten Sammlung deutscher Meistererzählungen "Trösteinsamkeit" von Alfred Gerz. Mein Gott, welch andere Sprache. Der Autor der Erzählung hatte ja selber ein Leid in der Ehe, Adalbert Stifter.

Mit Grüßen Ludwig W.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.404

11.07.2015 03:44
#8 RE: „Wer bist du denn?“ Nora Gomringer Antworten

Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #7
...ein Büchlein namens "Prokopus". Eine Erzählung, 92 Seiten


Dem Wetter gemäß hätte sich auch seine zweite Erzählung, "Das Haidedorf", von 1840, angeboten.

Zitat
Die Haidelerche war verstummt; aber dafür tönte den ganzen Tag, und auch in den warmen thaulosen Nächten das ewige einsame Zirpen und Wetzen der Heuschrecken über die Haide, und der Angstschrei des Kibitz. Das flinke Wässerlein ging nur mehr wie ein dünner Seidenfaden über die graue Fläche, und das Korn und die Gerste im Dorfe standen fahlgrün und wesenlos in die Luft, und erzählten bei jedem Hauche derselben mit leichtfertigem Rauschen ihre innere Leere. Die Baumfrüchte lagen klein und mißreif auf der Erde, die Blätter waren staubig und von Blümlein war nichts mehr auf dem Rasen, der sich selber wie rauschend Papier zwischen den Feldern hinzog.

Es war die äußerste Zeit. Man flehte mit Inbrunst zu dem verschlossenen Gewölbe des Himmels. Wohl stand wieder mancher Wolkenberg tagelang am südlichen Himmel, und nie noch wurde ein so stoffloses Ding wie eine Wolke, von so vielen Augen angeschaut, so sehnsüchtig angeschaut, als hier – aber wenn es Abend wurde, erglühte der Wolkenberg purpurig schön, zerging, lösete sich in lauter wunderschöne zerstreute Rosen am Firmamente auf, und verschwand – und die Millionen freundlicher Sterne besetzten den Himmel.

So war Freitag vor Pfingsten gekommen; die weiche blaue Luft war ein blanker Felsen geworden. Vater Niklas war Nachmittags über die Haide gekommen, das Bächlein war nun auch versiegt, das Gras bis auf eine Decke von schalgrauem Filze verschwunden, nicht Futter gebend für ein einzig Kaninchen; nur der unverwüstliche und unverderbliche Haidesohn, der mißhandelte und verachtete Strauch, der Wachholder, stand mit eiserner Ausdauer da, der einzige lebhafte Feldbusch, das grüne Banner der Hoffnung; denn er bot freiwillig gerade heuer eine solche Fülle der größten blauen Beeren, so überschwenglich, wie sich keines Haidebewohners Gedächtniß entsinnen konnte. – Eine plötzliche Hoffnung ging in Niklas Haupte auf, und er dachte als Richter mit den Aeltesten des Dorfes darüber zu rathen, wenn es nicht morgen oder übermorgen sich änderte. Er ging weit und breit und betrachtete die Ernte, die keiner gesäet, und auf die keiner gedacht, und er fand sie immer ergiebiger und reicher, sich, weiß Gott, in welche Ferne erstreckend – aber da fielen ihm die armen tausend Thiere ein, die dadurch werden in Nothstand versetzt sein, wenn man die Beeren sammle: allein er dachte, Gott der Herr wird ihnen schon eingeben, wohin der Krammetsvogel fliegen, das Reh laufen müsse, um andere Nahrung zu finden.



http://gutenberg.spiegel.de/buch/das-haidedorf-208/8



Stifter ist überhaupt ein recht prinzipieller Kontrast zu den grellen, auf "krass" gebürsteten heutigen Texten, die zu oft beides wollen: nämlich den Zeitgeist vehement bloßzustellen & ihn gleichzeitig nach Kräften zu bedienen. Aber nicht, weil er ein Idyllenautor ist. Als der galt er ja bis in die sechziger Jahre: als Vertreter eines betulichen Quietismus, der durch & durch das ästhetische Ideal des Biedermeiers verkörperte, oder, nach dem Krieg, den "restaurativen Geist" der Adenauerzeit. Als solchen hat ihn ja Arno Schmidt in seiner wüsten Niedermachung des "Nachsommers" angegangen (Schmidts Text, das muss man auch zugeben, macht allerdings bei aller Ungerechtigkeit wie jede gelungene Polemik einen Heidenspaß) - Hebbels "Komma im Frack". Das täuscht vor allem, weil man als heutiger Leser bei einem Stifter-Text das beständige Gefühl eines Ritts über den Bodensee hat. Diese Ludwig-Richter-Bukolik ist nämlich zu jedem Zeitpunkt einsturzgefährdet & in dem meisten Erzäglungen tut sich ja auch ein Abgrund auf, der den Protagonisten den Boden wegzieht & sie in Schockstarre verfallen lässt. W. G. Sebald hat das in mehreren Aufsätzen sehr prägnant herausgearbeitet. Letztendlich ist auch das oft inkriminierte "sanfte Gesetz" mißverstanden worden (Arno Schmidt: "Vor 'ne Nova hätte man Stifter setzen sollen!"): das ist ja der deutliche Hinweis, daß das Bedrohliche, die Katastrophe, sich eben auch im Kleinsten zeigt & droht. Daß es gerade Sebald so verdeutlicht hat, ist vielleicht auch kein Zufall: zum einen war er im Hauptberuf Germanist, einer der lesbarsten überhaupt, und dessen erzählerisches Werk kreist auch stets um die nie genannte, aber in jeder Zeile präsente absolute Katastrophe. Nur ist es bei ihm eine bewusste ästhetische Strategie & keine Verdrängung (auch wenn es mich finster ankommt, mit Freud'schen Kategorien zu hantieren; aber anders lässt sich das kaum lesen).

Zitat
Der Autor der Erzählung hatte ja selber ein Leid in der Ehe



Stifter-Leser, die sich etwas näher mit dessen Biographie befasst haben, wissen, daß das eine sehr zurückhaltende Umschreibung ist. Stifter muss einer der unglücklichsten Menschen seiner Zeit gewesen sein; auch einer, der seinem eigenen Unglück völlig hilflos gegenüberstand. Ein zwanghafter Gourmand, von entsetzlicher Gicht durch seine unmäßige Freßsucht gequält; im Familiären von wirklich keinem Unglück verschont. Wenn man an einen unglücklichen Beamten unter K&K-Auspizien denkt, fällt einem zumeist Kafka ein; aber Stifter verkörpert das in ganz anderem Format. Dazu eine immer wieder überraschende Absenz jeglicher Selbsteinsicht: sich auch nur ansatzweise von Außen zu sehen, eine Situation zu analysieren & den Versuch zielführenden Handelns anzugehen: das war ihm nicht gegeben. Dieser absolute Kontrast zwischen Werk und Mensch überrascht aus heutiger Sicht eigentlich nicht; zum einen als allgemeine Erkenntnis, dass es bei Autoren oder Künstlern oft so ist; zum andern, weil alle Biographen Stifters der letzten 40-50 Jahre zum Zentrum machen, aus dem Leben & Werk beschreiben. Bei der älteren Haltung (die sich durch die Polemik Schmidts dann zutiefst abgestoßen fühlte) dürfte es sich wohl um die alte Künstlergenie-Verehrung gehandelt haben (ein Klischee, aber eins, das es ja haufenweis gegeben hat), die keinen Autor, sondern einen Lebenshilfeguru vor sich sieht & eine weitgehende Kongruenz von Autor & Werk voraussetzt. Gibts heute wohl auch noch, aber da wird wohl eher Handke gelesen.

Zitat
Die Ausgabe, weil leicht in der Hand beim Liegen...



Stifter hat ja seine Erzählungen nach dem Erstdruck in Zeitschriften oder Almanachen für die Buchausgaben der "Studien" & der "Bunten Steine" heftig bearbeitet: oft geglättet, gefälliger, unter Aussparung der o.e. beunruhigenden nihilistischen Einschüsse. (Das extremste Beispiel & leicht anders gelagert, ist die "Mappe meines Urgroßvaters", die von einem 40-Seiten-Text von 1843 auf die Buchfassung von 80 anwächst; dann zu einer Romanfassung von gut 200 Seiten wird; und nachdem Stifter den Witiko hinter sich hat, nimmt er sich das abgelehnte Stück noch einmal vor; bei seinem Tod hat der Torso 350 Seiten.) Alle Spezialisten sind sich einig, daß man als Leser, wenn irgend möglich, sich an die Journalfassungen halten sollte. Die gibts zwar in der historisch-kritischen Gesamtausgabe als Paralleldruck zu den Buchfassungen; das ist aber eine auf Bibliotheken gezielte & entsprechend budgetschädigende Sache. Also habe ich mir, vor wenigen Monaten erst, die bei dtv vorliegenden "Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken" zugelegt, die Wolfgang Matz zum 200. Geburtstag besorgt hat. Das ist, so mal rein buchtechnisch & rezeptionsästhetisch, besonders aus Handwurzelperspektive, der durchwachsene Beweis, daß gelumbeckte Backsteinformate von 1400 Seiten das nutzungsoptimale Maximum weit überschreiten.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

11.07.2015 05:38
#9 RE: „Wer bist du denn?“ Nora Gomringer Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #8
Aber nicht, weil er ein Idyllenautor ist. Als der galt er ja bis in die sechziger Jahre

Das kann ich empirisch bestätigen

Meine Eltern wohnen in einer Wohnsiedlung aus den späten 60er Jahren, in der fünf angrenzende Straßen nach Schriftstellern benannt sind. Das sind neben Stifter noch Rosegger, Ganghofer, Mörike und Thoma, der im Oberbayerischen ja auch lange als Heimatdichter galt.

Zitat
Stifter-Leser, die sich etwas näher mit dessen Biographie befasst haben


sind sicher nicht an Kurt Palm vorbeigekommen. Er hat ein Buch und einen Film zum Thema verfasst. Das Buch handelt von Stifters Verhältnis zum Fressen und Saufen und ist eines der originellsten Bücher, die man sich denken kann (mit Rezepten zum Nachkochen, leider ist es heutzutage unmöglich, sich ein Haselhuhn zu verschaffen...): http://www.amazon.de/Suppe-Taube-Spargel...s/dp/3854093136

Und auch der Film ist großartig und verdient eine Empfehlung: http://shop.orf.at/1/shop.tmpl?art=3674&lang=DE

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

12.07.2015 22:09
#10 RE: „Wer bist du denn?“ Nora Gomringer Antworten

Dem Wetter gemäß hätte sich auch seine zweite Erzählung, "Das Haidedorf", von 1840, angeboten." (Ulrich Elkmann)

Ein so guter Stifter-Kenner wie Sie bin ich nicht, nur ein Liebhaber. Das Wochenende gehört bei einem Priester und Theologen der praktischen Arbeit, daher komme ich erst jetzt zu einer weiteren Äußerung. Das ist fein, dass uns das Klagenfurt-Elend dazu gebracht hat, uns gemeinsam bei Stifter wiederzufinden.
Vom "Das Haidedorf" weiß ich, dass die erste Fassung einen Märchenschluss hatte, ich glaub, eine Art Prinzessin reist mit der Kutsche vorbei und heiratet den Helden der Novelle. Die neue Fassung hat hingegen einen herben Schluss: Der Held hat zwar ein Haus gebaut für seine vorgesehene Frau, aber er muss auf eine Ehe verzichten, weil er einsieht, dass sie ihn in seiner Eigenart nicht versteht. Nur ein sehr sehr erwarteter Regen fällt zu Pfingsten als Schluss ("Pfingstregen" ist die schon alttestamentlich-prophetische Metapher für die Geistausgießung,z. B. sprach man um 1900 davon, als eine charismatische Bewegung von England bis Hamburg und Südafrika wogte), und die Dorfbewohner wundern sich, dass der Weit-(d.h.Israel-)Gereiste den Gottesdienst besucht und nicht wie die Aufklärungs-Gebildeten missachtet.
Ich habe diese Erzählung als Gegenstück zu "Abdias" empfunden. Diese handelt von dem Leid eines Juden und seinem Ringen mit dem Rachegedanken. Stifter bittet den Leser, die Juden zu verstehen."Das Haidedorf" erscheint mir als das christliche Seitenstück, es hat zum Thema: Was geschähe, wie verhielten sich die zeitgenössischen Nachbarn, wenn heute ein Prophet wie Jesus aufträte? Ein sehr spannendes Thema.
Stifter hat wohl jede Erzählung einem eigenen ganz präzisen Thema gewidmet: eine aus den "Bunten Steinen" z.B. dem 'braunen Mädchen'. Mir ist auch "Brigitta" aufgefallen mit dem Spezialthema: Was geschieht, wenn ein Kind nicht so hübsch ist wie die Geschwister? Welche Folgen kann das haben, wenn die Eltern das nicht ausgleichen?
Aufgefallen ist mir auch der fast satirisch-fröhliche "Waldsteig", der den Hypochonder Tiberius durch die Liebesheirat vernünftig, glücklich und gesund macht. Und recht modern scheint mir "Der fromme Spruch" mit dem Thema "Kann ein sterblicher Mensch dem Himmel helfen?", sofern Stifter hier eine postaufklärerische Kausalität vorbringt. Er verdankte ja seine Schulbildung Benediktinern, die ausgeglichen und humanistisch waren.

Es geht eben bei Stifter nicht nur um Käfer und Eis und Schnee, sondern um den Panther in einem jeden von uns.

Ludwig W.

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

13.07.2015 18:55
#11 RE: „Wer bist du denn?“ Nora Gomringer Antworten

Nachtrag

Ein Leser machte mich darauf aufmerksam.
Nora Gomringer wurde am 19. März 2015 der Weilheimer Literaturpreis von einer Schule verliehen. Aus ihrer Dankesrede am 13. Juli zitiere ich den Anfang:

"Oh Jugend, Du!
Diesen Weilheimer Literaturpreis zu erhalten, noch dazu in der prall gefüllten Stadthalle,
auch vor meinen angereisten Eltern, das ist so große Ehre und Einschüchterung
gleichermaßen, dass ich mich einer alten Technik bedienen muss, um durch die nächsten
Seiten – ja, Seiten! – meiner Rede zu dringen. Ich stelle Sie mir alle nackt vor. Außer die
anwesenden Menschen unter 20 Jahren, die Vertreter des Klerus, den Herrn Bürgermeister
und meine Eltern. Ich tue dies mit Erfolg und es freut mich, Ihnen sagen zu können: Sie
sehen alle – ob un- oder bekleidet sehr gut aus."

Simon Offline



Beiträge: 334

14.07.2015 10:21
#12 RE: „Wer bist du denn?“ Nora Gomringer Antworten

Auf der Seite: "Gymnasium Weilheim" ist folgendes zu lesen:



"„Fülle des Wohllauts“ Nora Gomringer und das Ensemble Wort Art in der Dichterlesung

Dichterlesung einmal anders. Das girrt und surrt und schmeichelt und lispelt, wenn Nora Gomringer zwei Liebende sich unterhalten lässt. Mit großem schauspielerischem Talent moduliert sie ihre Stimme zwischen giftig, grantig, freundlichzugetan und atemlos aufgeregt oder demütig säuselnd. Auf einmal verlässt Lyrik ihren Elfenbeinturm und wird sinnlich erfassbar, verständlich, nachvollziehbar. Sie braucht dazu keinen Lehrer und keine Koenigs Erläuterungen. Und das Allerbeste: Sie macht großen Spaß. Nora Gomringer ist eben nicht abgehobene Lyrik-Tante, sondern eine vollsaftige oberfränkische Performance-Künstlerin der spoken-art-Szene. Und weil die Organisatoren der Veranstaltung als Deutschlehrer sichergehen wollten, dass ihr (Schüler)publikum auch ganz bestimmt auf seine Kosten kommt, hatten sie zusätzlich zur Lyrikerin noch das Ensemble „Wortart“ aus Dresden eingela-den, eine Truppe von fünf jungen, sensiblen Sängerinnen und Sängern, die ihre Begeisterung für Dichter wie Sarah Kirsch, Marie-Luise Kaschnitz, Eva Strittmatter, Mascha Kaleko, Bertolt Brecht und natürlich Nora Gomringer mit musikalischer Kreativität, Präzision und Spontaneität kombinieren. Das Resultat: Musik vom Feinsten, jazzig-poppig, erinnernd an ComedianHarmonists, aber mit dem Tiefgang eines Eisberges und der Intensität von Kammersängern - lupenreine Intonation, sichere Rhythmik, klare Modulation. Im Wechsel zwischen Lyrikerin und Ensemble (und zeitweilig auch im Zusammenspiel) entfalteten sich auf der Bühne der Aula die kleinen und großen Dramen des Lebens und hinterließen ein begeistertes, aber auch nachdenkliches Publikum. Da wirkten die traditionellen Schülerfragen im Anschluss etwas bemüht, hätten sie nicht diese beherzten und ehrlichen Antworten der Künstler gefunden. Wer jetzt noch behauptet, Lyrik nervt, dem ist nicht mehr zu helfen. Die Zeit verflog im Nu und man fragte sich nur, warum sich diesen Genuss soviele Schüler entgehen ließen, oder sollten sie nicht genügend intensiv auf die Veranstaltung hingewiesen worden sein?"

Der Inhalt interessiert offenbar niemand!!! - um es einschlägig (edit) drastisch zu sagen: keine nackerte Sau.

Simon

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