es ist wie immer ein Vergnügen, Ihren Text zu lesen. Schreiben Sie eigentlich auch sonst? Und vielen Dank für die Reverenz vor fast vergessenen Expressionisten, das erinnert mich an meine eigene Sturm- und Drang-Zeit, in der die Expressionisten, namentlich Herr Trakl, wie eine Naturgewalt über mich kamen. Aus der Perspektive des hoffentlich gereifteren Mannes ist das jugendliche Schwärmerei, aber ach, noch einmal so schwärmen können!
Wie würdest Du denn da die Sukzessionslinie über Lovecraft zu Houellebecq einordnen?
Wenn Du mir den Text ohne Autor hingelegt hättest, hätte ich ihn vermutlich letzterem zugeordnet, obwohl er ja (ignoriert man S.H. MRR, der ihn immer dafür gehalten hat) kein Dilettant ist, sondern nur so tut.
Hmm. 1. Näherung: Houellebecq ist eigentlich wohl kein Autor von Fantastika (der große Dachbegriff, unter den John Clute die verschiedenen Ausprägungen des Fantastischen gedeckelt hat): der braucht zwar mitunter tropoi der SF, hauptsächlich Klonen, aber wirklich begriffen hat er sie nicht: das sind Versatzstücke, die er einbaut. Man könnte sagen, er sei kein Fantastik-Autor, sondern französischer Autor. Da kommt das gar nicht so selten vor. Le Clézio braucht das so ein kürzeren Texten (u.a. "Mondo"). Eine Linie HPL -> MH gibts nicht. Der hat zwar seinen Essay "Contre la vie" über den Alten Gentleman aus Providence ganz am Anfang mal hingesetzt (1992 meine ich), aber nur, weil der in Frankreich einen gewissen Kultstatus hat seit der so um 1953 rum übersetzt worden ist. Da ist sogar was in Les lettres nouvelles erschienen ("La Mason de la sorcière", also "The Dreams in the Witch House", Nov. & Dez. 53) . Kultstatus hat er durch Le Matin des magiciens von Pauwels & Bergier gekriegt & kann seitdem als Schlagwort gelten, ohne daß man sich da groß auskennt, so wie Philip K. Dick oder Jerry Lewis oder Poe bei Buddelleer oder Villiers de l'Isle Adams & Nachfolgern. So einiges stimmt am H's Essay im Detail nicht, weils ihm nicht in den Kram passte. Lovecraft ist ganz als Poe-Adepp gestartet (die stilistischen Unarten hat er hauptsächlich von ihm), hat das aber dann zu seinem "kosmischen Horror" ausgeweitet, der eigentlich gar kein Horror ist, sondern eine Art ästhetischer Überwältigungsstrategie: der Mensch als kleiner-als-Staub gegenüber dem toten, aber umso unendlicheren Kosmos, allerdings vermittelt durch stinkende Glibbergötter. Nicht jedermann Sache. Bei H ist das dann rein negativistisch gewendet: Nää, mag ich nich. Reichlich Provokationslust wird mitgespielt haben: weil HPL zum Teil eben wüste rassistische Züge aufscheinen lässt, die durchaus mehr als nur Zeitgeist & Erzählmaschinerie sind. Mit "Dilettant" ist das so eine Sache: wenn einer SF schreibt (tun ja manche "Mainstream"-Autoren, GG ja id Rättin oder Doris Lessing in den Shikasta-Büchern) & hat keinerlei Ahnung von der Traditionslinie: der Tropos ist halt schon 100x durchgekaut worden & alle Eröffnungszüge Standard, oder von der Grundierung id Wirklichkeit, wenns um so was potentiell Machbares wie Raumfahrt geht, dann kommt Dilettantismus raus, auch wenn der Autor 20 sonst gediegene Stücke abgeliefert hat. Weil die dann eben spielen wie Anfänger im Tennis oder beim Rasenschach. Gibts ja auch in anderen Genre-Imtiationen. Wenn Walser den MRR-Exodus als "Krimi" gibt, dann kommt da nicht mal eine schwache Imitation raus.
Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire
2. Näherung: wenn ich mich dazu verstehen könnte, beide um einiges vollumfänglicher zu absorbieren, würde ich heftig die These vertreten, daß Houllebecqs Richtschnur & unmittelbares Vorbild Céline ist. Das ist zwar verschiedentlich kurz gestreift worden, aber immer nur im Zusammenhang mit dem letzten Aufreger & als die gleiche Inszenesetzung des Krawalls.
Zitat Leggendo le prime pagine di Sottomissione di Houellebecq, come per Céline, non è la storia narrata che conta, ma lo stile. E in poche righe, i personaggi, la tensione stabilita, il quadro tratteggiato, i dialoghi, i tic, l'ambiente universitario, il facile "tradimento dei chierici". Bel romanzo e, venendo ai temi affrontati, formidabile fustigazione - ben al di là del suo presunto anti islamismo - del tramonto dell'Europa, consumista, catatonico-depressiva, despiritualizzata e esangue, paradossalmente "salvata" proprio dal nuovo regime islamico illuminato che H. immagina.
Mir scheint das Programm von-Anfang-an zu sein: die grundsätzliche Anomie von Protagonist & Umfeld, das provokante Liebäugeln mit dem Extremismus, der ostentative Nihilismus, bei dem man nie weiss, ob das innerer Kern oder Rollenspiel ist. MH hat natürlich eine ganz andre Medienarena, die er als poéte maudit bespielen kann. Wenns für die Diss noch nicht reicht, tun wir noch Rolf Dieter Brinkmann & Malaparte rein.
Lovecraft: vielleicht ist eine, meine, Positionsangabe hilfreich. Pater peccavi: HPL zählt zu meinen literarischen Hausgöttern , & da zum Inneren Pantheon. Daneben stehen Borges (unangefochtene Pole Position), Nabokov, Arno Schmidt, Kipling, Flaubert, Arthur C. Clarke, Fritz Leiber, Bruno Schulz, Wilhelm Raabe & Albert Vigoleis Thelen. Wie das auf 1 Kuhhaut geht, weiß ich auch nicht recht. (Der Lackmus-Test dafür ist, daß ich auswendig weiß, was die an jedem Tag getrieben haben & über jedes Opusculum ad libitum extemporieren könnte.) Das hat aber zur Folge, daß sich die Texte einfach anders lesen, als Baustein im Gesamtkunstwerk "Leben+Werk", als Monade & eher als Schlusspunkt. (Daß die im Grund alle nicht anschlussfähig sind, ist sicher kein Zufall.)
Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #5Lovecraft: vielleicht ist eine, meine, Positionsangabe hilfreich. Pater peccavi: HPL zählt zu meinen literarischen Hausgöttern
Darf ich da mal nachhaken? Ich habe Lovecraft (allein schon wegen des netten Namens, aber auch weil er von soliden Zeitgenossen wie Ihnen offenbar geschätzt wird) einige Chancen gegeben mich zu beeindrucken, aber es ist ihm leider nicht gelungen (einzige Ausnahme: The Outsider). Was mich am meisten irritiert, ist die permanente Sünde gegen den Grundsatz show, don't tell: wenn er mir seitenweise vorbrabbelt, wie gruslig, schauderhaft und erschreckend eine Situation, ein Geschehnis oder ein Ort doch sei, ohne bei mir selbst die geringsten Schauer oder Schrecken auszulösen, dann ist das einfach schwach. Was sehe ich da falsch?
M.R. James ist da ein ganz anderes Kaliber, da plätschert alles so gediegen dahin, und auf einmal stehen einem als Leser die Haare zu Berge. Er ist bisher der einzige Autor, der mir nachhaltig schreckhafte Gedanken einzuflüstern vermocht hat.
Zitat von Fluminist im Beitrag #6...dann ist das einfach schwach.
Bingo. Deswegen ist er mehr als interessanter (wenn auch ziemlich problematischer) Charakter, der u.a. auch geschrieben hat & wegen seiner Interessen von Interesse; als Briefsteller macht er einiges mehr her. Zum Gruseln taugt das vorn & hinten nicht. Das teilt er allerdings mit fast allen, die da unterwegs waren. S. T. Joshi hat das vor 20? 25? Jahren in seiner Studie "The Weird Tale" mal an ein paar Autoren aus der Zeit der Klassischen Modernen Gruselgeschichte aufgedröselt, die ihm paradigmatisch schienen: Lovecraft, Arthur Machen, Lord Dunsany, Algernon Blackwood & M. R. James. Und von denen ist nur James ein reiner Spökskesverteller. Dunsany hat seine pastorale frei erfundene Sekundärwelt, Machen will nostalgische Vergangenheitsbeschwörung plus Gralsmythologie, Lovecraft im Grund Existentialismus plus Schopenhauer. Die Geisterbahn dient als Transportmittel dafür. Bei James kommt noch die besondere Genese seiner Geschichten hinzu. Der hatte als Direx von King's College & Eton College das so organisiert, daß die Schöler bei der Weihnachtsfeier, bevor sie über die Feiertage nach Hause entlassen wurden, zum Schluss in der abgedunkelten Aula eine völlig neue Gruselgeschichte vorgelesen bekamen. Das sind die meisten der gut 30 Stücke aus seinen Bänden. Das ist halt ein anspruchsvolles Publikum.
Zitat von Lovecraft, "Supernatural Horror in Literature"At the opposite pole of genius from Lord Dunsany, and gifted with an almost diabolic power of calling horror by gentle steps from the midst of prosaic daily life, is the scholarly Montague Rhodes James, Provost of Eton College, antiquary of note, and recognized authority on mediæval manuscripts and cathedral history. Dr. James, long fond of telling spectral tales at Christmastide, has become by slow degrees a literary weird fictionist of the very first rank; and has developed a distinctive style and method likely to serve as models for an enduring line of disciples.
The art of Dr. James is by no means haphazard, and in the preface to one of his collections he has formulated three very sound rules for macabre composition. A ghost story, he believes, should have a familiar setting in the modem period, in order to approach closely the reader's sphere of experience. Its spectral phenomena, moreover, should be malevolent rather than beneficent; since fear is the emotion primarily to be excited. And finally, the technical patois of "occultism" or pseudo-science ought carefully to be avoided; lest the charm of casual verisimilitude be smothered in unconvincing pedantry.
Dr. James, practicing what he preaches, approaches his themes in a light and often conversational way. Creating the illusion of every-day events, he introduces his abnormal phenomena cautiously and gradually; relieved at every turn by touches of homely and prosaic detail, and sometimes spiced with a snatch or two of antiquarian scholarship. Conscious of the dose relation between present weirdness and accumulated tradition, he generally provides remote historical antecedents for his incidents; thus being able to utilise very aptly his exhaustive knowledge of the past, and his ready and convincing command of archaic diction and colouring. A favourite scene for a James tale is some centuried cathedral, which the author can describe with all the familiar minuteness of a specialist in that field.
Sly humourous vignettes and bits of lifelike genre portraiture and characterisation are often to be found in Dr. James's narratives, and serve in his skilled hands to augment the general effect rather than to spoil it, as the same qualities would tend to do with a lesser craftsman. In inventing a new type of ghost, he has departed considerably from the conventional Gothic tradition; for where the older stock ghosts were pale and stately, and apprehended chiefly through the sense of sight, the average James ghost is lean, dwarfish, and hairy -- a sluggish, hellish night -- abomination midway betwixt beast and man -- and usually touched before it is seen. Sometimes the spectre is of still more eccentric composition; a roll of flannel with spidery eyes, or an invisible entity which moulds itself in bedding and shows a face of crumpled linen. Dr. James has, it is clear, an intelligent and scientific knowledge of human nerves and feelings; and knows just how to apportion statement, imagery, and subtle suggestions in order to secure the best results with his readers. He is an artist in incident and arrangement rather than in atmosphere, and reaches the emotions more often through the intellect than directly. This method, of course, with its occasional absences of sharp climax, has its drawbacks as well as its advantages; and many will miss the thorough atmospheric tension which writers like Machen are careful to build up with words and scenes. But only a few of the tales are open to the charge of tameness. Generally the laconic unfolding of abnormal events in adroit order is amply sufficient to produce the desired effect of cumulative horror.
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #5Lovecraft: vielleicht ist eine, meine, Positionsangabe hilfreich. Pater peccavi: HPL zählt zu meinen literarischen Hausgöttern
Darf ich da mal nachhaken? Ich habe Lovecraft (allein schon wegen des netten Namens, aber auch weil er von soliden Zeitgenossen wie Ihnen offenbar geschätzt wird) einige Chancen gegeben mich zu beeindrucken, aber es ist ihm leider nicht gelungen (einzige Ausnahme: The Outsider). Was mich am meisten irritiert, ist die permanente Sünde gegen den Grundsatz show, don't tell: wenn er mir seitenweise vorbrabbelt, wie gruslig, schauderhaft und erschreckend eine Situation, ein Geschehnis oder ein Ort doch sei, ohne bei mir selbst die geringsten Schauer oder Schrecken auszulösen, dann ist das einfach schwach. Was sehe ich da falsch?
M.R. James ist da ein ganz anderes Kaliber, da plätschert alles so gediegen dahin, und auf einmal stehen einem als Leser die Haare zu Berge. Er ist bisher der einzige Autor, der mir nachhaltig schreckhafte Gedanken einzuflüstern vermocht hat.
Also mich hat "Rats in the Wall" so extrem verstört, dass ich danach nie wieder auch nur ein Teil von Lovecraft gelesen habe. Wikipedia zu Ratten im Gemäuer
Ich mag einwenden, dass ich damals 13 oder 14 war, aber andere Schriftsteller, die ich damals gelesen habe, lese ich heute noch: JRR Tolkien, Terry Pratchett, in geringerem Maße Terry Brooks, Robert Jordan, Loren Coleman und Mike Stackpole. Lovecraft aber hat mir mehrere schlaflose Nächte bescherrt, mit 13 oder 14, und ich kann eigentlich kaum dran denken, wie die Geschichte sich so entwickelt hat.
Ich muss zugeben, so ganz traue ich den Dingen immer noch nicht. Ok, das war jetzt ein TES V - Skyrim-Zitat, aber ich werde garantiert nicht an den Bücherschrank gehen und meinen abgenutzten Band "Traumwelten" von damals rausholen...
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