Interessant, in welch anderem Licht ein Text erscheinen kann, wenn sich die Zeitumstände ändern, vor denen er gelesen wird.
Konstantinos Kavafis (1863-1933) ist einer der wenigen, wenn nicht gar der einzige neugriechische Dichter, der allgemein nicht nur dem Namen nach bekannt ist, sondern auch gelesen wird; sein Gedicht "Warten auf die Barbaren" dürfte sein bekanntestes sein und ist u.a. im Titel, wenn auch nicht im Gestus, in J. M. Coetzees bekanntestem Roman, "Waiting for the Barbarians" von 1980, aufgegriffen worden.
Ob man bei Kavafis' Gedichten für die frühen Jahre des 20. Jahrhunderts von "Veröffentlichung" sprechen kann - außer im streng bibliographischen Sinn - sei dahingestellt: ähnlich wie Fernando Pessoa, mit dem er so vieles gemeinsam hat - die strenge Trennung zwischen dem Leben des kleinen Kontorbuchhalters am Tag & des absoluten Dichters bei Nacht; die Existenz ausserhalb aller literarischen Öffentlichkeit und in einer randständigen Literatursprache; die unmittelbare Nähe zum Mittelmeer, das keine Spuren in beider Werk hinterlässt; die Antike als geistiger Bezugsraum & als ideale Wunschprojektion -, war er nicht um große, eigentlich um gar keine, Verbreitung bemüht: bei den meisten handelt es sich um Einblattdrucke, die er an Freunde und gelegentliche interessierte Besucher (u.a. E. M. Forster, der ein anrührendes Porträt in seinem Band "Pharos and Pharillon" von 1923 gibt) verteilte. Das erste Heftchen von 1904 hat er in einer Auflage von vielleicht 100 bis 200 Exemplaren drucken lassen; ebenso die um sieben Gedichte erweiterte zweite Fassung von 1910. Erst ab der ersten Gesamtausgabe, 1935 in Athen erschienen, die die seitdem "kanonisch" gewordenen 154 Gedichte umfasst, kann man von einem Autor mit Präsenz sprechen. (Dasselbe gilt für Pessoa, der erst nach der ersten, kleinen Ausgabe von 1944, 9 Jahre nach seinem Tod, eine zunächst bescheidene Leserschaft fand.)
Der Obertitel "Adio Europa" verdankt seine unitalienische Schreibweise einem ähnlich, aber aus völlig anderen Gründen unsichtbaren Werk: dem nachgelassenen Opus eximium des rumänischen Autors Ion D. Sîrbu (1919-1989), der nach seinem ersten und einzigen Auslandsaufenthalt, den ihm die Förderung des DAAD, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes 1983 ermöglichte, beschloss, nur noch für sich und für die Nachwelt, ohne alle Stricke der Zensur, zu schreiben. Die beiden Bände des monumentalen Werkes, 2600 Seiten stark, die wie Musils "Mann ohne Eigenschaften" jede Definition und jeden Rahmen des "Romans" sprengen, sind postum 1992 und 1993 in Rumänien erschienen (2. Ausg.: 1996; 3. 2006). Das Werk ist gelegentlich, wegen der Tendenz zur verzweifelten Groteske und den Umständen der Entstehung, mit Michail Bulgakows "Der Meister und Margarita" verglichen worden; die Parallele zu Musil bietet sich an, weil aus der grotesken Ausgangssituation eine alles überschwemmende Reflektion über die Welt wird. Der klägliche Protagonist Dezideriu Candid, der den zweiten Vornamen seines Verfassers und den des Voltaireschen Vorbilds in Nachnamen trägt, gerät in die Fänge der Geheimpolizei, weil er in unkontrolliertes, hysterisches Gelächter verfällt, als im Zug eines "internationalen Symposiums" am örtlichen Kulturhaus der Name Karl Marx dem von Karl May weichen muss. Von dem Katalog der Fragen ausgehend, deren Anworten er, immer von neuem ansetzend, schriftlich als Rechtfertigung einreichen muss, entfaltet sich das Panorama der Absurdität des Lebens in der schäbigen Dürftigkeit des Sozialismus, zumal in seiner Conducator-Ausprägung, aber auch, darüber hinaus, der unentrinnbaren condition humaine.
Ich verdanke den Hinweis auf ihn Dr. Eugen Radu Wohl von der Universität Cluj.
Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire
Noch zum Bereich "Ist das Kunst oder kann das weg?":
ein weiteres Exhibit aus dem Bereich "(post)moderne Skulptur im Münsterland, deren Ansicht je nach der Beleuchtung durch die Zeitumstände changiert", findet sich im innersten Zentrum Münsters, ~99,9% von allen Einheimischen unbekannt: am Ausgang des Domplatzes beim 30-m-Gang aufs Rathaus zu: an der domseitigen Wand des linkerhand gelegenen Geschäftshauses im 5 m Höhe: das Projekt "Datum" von Mark Formanek: ein unscheinbares Blechschild, 1996 installiert 20x30 cm, auf dem ein in der Zukunft liegendes Datum eingestanzt ist: zur Zeit zeigt es dem 3. April 2016, 17 Uhr 15. (Ein Eintrag für die X-Akten von vergleichbarer mystagogischer Dürftigkeit also wie die Toynbee Tiles oder die Tübinger Currywurst.)
Das Datum bezeichnet den Zeitpunkt, an dem das Schild durch eines ausgetauscht wird, das wieder ein paar Jahre in die Zukunft zeigt. Der Vorrat in der Asservatenkammer reicht bis 2040 (ein paarmal hat die Stadt das bislang verschlafen, wird also auch en détail ihrem Ruf gerecht). Früher hätte man das abgelegt unter "armselige Selbstreferentialität", heute hat. Mittlerweile erscheint eine solche Angabe deutlich dunkler grundiert: Wenn's nur das ist...
Daß es wohl nicht nur ein Nebeneffekt, sondern geradezu definierendes Merkmal zeitgenössischer Skulptur ist, auf jede eigene Bildfindung, jede originäre Eigenständigkeit zu verzichten, sondern entweder mit den elementarsten Bausteinen hantiert, die gerade noch möglich sind, zumal wenn das Resultat erinnerenden Charakter haben soll (Betonwände mit Namenstafeln, Stelenwald), wenn es sich nicht gar auf das Aufschichten von objects trouvés beschränkt, Assemblagen des Zusammengesuchten, war bei den diversen Biennalen der letzten Jahrzehnte unübersehbar. Aufgefallen, weil hier zum ersten Mal auf den Punkt gebracht, ist mir das bei der Lektüre von Gustaw Herlings "Tagebuch bei Nacht geschrieben".
Zitat von Rezension v. Stephan Wackwitz id FAZ, 21.03.2000Überhaupt erweist sich die Reaktion dieses Diaristen auf die spielerischen Verfahrensweisen der zeitgenössischen Kunst als ein Indikator für das Befremdliche zwischen unseren Kulturtraditionen. Am 28. März 1987 beschreibt er den Rundgang durch eine Ausstellung im Pariser Grand Palais, in der künstlerische Solidaritätsbekundungen mit den Opfern der italienischen Erdbeben zu sehen sind. "Was hat dieser Jahrmarkt der Eitelkeiten (und der Leere) gekostet", fragt der Kolumnist, "und wer hat das bezahlt, denn die ,berühmtesten' Künstler der ,Postmoderne' spielen bei solchen Kunstturnieren doch nicht umsonst mit? Wie viele Häuser hätte man mit diesem aus dem Fenster geworfenen Geld für die Erdbebenopfer bauen können? . . . Lohnt es sich, diese Ausstellung im Tagebuch zu erwähnen, und sei es (aus Mitleid), ohne die Namen ihrer zum Teil recht angesehenen Teilnehmer zu erwähnen? Es lohnt. Aber nur, um noch einmal auf die Armseligkeit der ,modernen Kunst' hinzuweisen. Ein abstraktes Nichts multipliziert mit der Abstraktion des Nichts. Kaum zu glauben - diese absolute, wohl schon unheilbare Atrophie von Phantasie und Intelligenz. Das ist Scharlatanerie, Narretei, bestenfalls geschickte technische Gaukelei, als wäre das Thema hier völlig ohne Belang."
Zitat von Michael Klonovsky, 5. Januar 2016Der Kölner Polizeipräsident Wolfgang Albers erblickte in der silvesternächtlichen Frauenhatz am Hauptbahnhof "Straftaten in einer völlig neue Dimension". Ganz falsch. Dergleichen geschieht seit Jahrhunderten in zerfallenden Staaten, in die fremde Völkerschaften drängen. Wie normal es ist, zeigen die überaus ähnlichen Vorfälle in Hamburg und wer weiß, wo noch überall. Und wir stehen erst ganz am Anfang.
Zitat von Michael Klonovsky, 5. Januar 2016 -------------------------------------------------------------------------------- Der Kölner Polizeipräsident Wolfgang Albers erblickte in der silvesternächtlichen Frauenhatz am Hauptbahnhof "Straftaten in einer völlig neue Dimension". Ganz falsch. Dergleichen geschieht seit Jahrhunderten in zerfallenden Staaten, in die fremde Völkerschaften drängen. Wie normal es ist, zeigen die überaus ähnlichen Vorfälle in Hamburg und wer weiß, wo noch überall. Und wir stehen erst ganz am Anfang.
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Wir stehen nicht nur am Anfang, wir sind mittendrin bzw. kurz vor dem Ende. Eine Bilanz nur für Januar 2016:
Der Artikel ist von Soeren Kern, ein Senior Fellow des New Yorker Gatestone Institute. Eigentlich ist es mehr ein "Deutsches Tagebuch" über 31 Tage im Januar 2016 und das nicht mal komplett. Ein lesenswertes Dossier welches belegt, wie wenig von Deutschland in seinem Anspruch auf Rechtsstaat und Demokratie übrigbleibt, wenn Politik auf der ganzen Linie versagt hat.
♥lich Nola
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Status quo, nicht wahr, ist der lateinische Ausdruck für den Schlamassel, in dem wir stecken. Zettel im August 2008
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