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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 14 Antworten
und wurde 1.727 mal aufgerufen
 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Doeding Offline




Beiträge: 2.612

17.01.2016 08:55
Unwort des Jahres Antworten

Ein KKK zur diesjährigen Wahl des Unworts des Jahres durch eine linguistische Laienspielgruppe aus Darmstadt.

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

17.01.2016 11:46
#2 RE: Unwort des Jahres Antworten

Zitat von Doeding im Beitrag #1
Ein KKK zur diesjährigen Wahl des Unworts des Jahres durch eine linguistische Laienspielgruppe aus Darmstadt.

Was die Laienspielgruppe angeht - ersetze "linguistisch" durch propagandistisch, lieber Andreas.

Dass der Stammtisch derjenigen politischen Richtung nicht in den Kram passt, der die meisten Sprachwissenschaftler angehören, ist wohl nicht verwunderlich: Er ist etwas typisch Deutsches und ist in der Regel eine unwortdesjahres2015freie Zone. Ich denke, dass der Stammtisch als politischer Kampfbegriff durch das Diktum von der "Lufthoheit über den Stammtischen" entstanden ist. Ich habe mal vesrucht, zu recherchieren, wer es erfunden hat. Belegen kann ich es zum ersten Mal beim FDP-Linksausleger Burkhard Hirsch im Jahr 1987 als Polemik gegen Old Schwurhand Zimmermann in Bezug auf das Vermummungsverbot bei Demos.

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

17.01.2016 11:52
#3 RE: Unwort des Jahres Antworten

Kurz, Knapp, Knackig: Wunderbar!

Eine Anmerkung habe ich allerdings zum Passus

Zitat
Wer "Populismus" ruft, nennt oft im gleichen Atemzug den Begriff des Rattenfängers, womit die Grenze zum faschistoiden Sprachgebrauch endgültig überschritten ist. Die implizite Bezeichnung von Menschen (z. B. AfD-Wähler oder Leser des ersten Buches von Thilo Sarrazin) als Ratten, als Ungeziefer: ein ideologisch-begrifflicher Kern des Nationalsozialismus.


Ich persönlich hatte beim Begriff "Rattenfänger" eigentlich nie an die Ratten gedacht, sondern an den zweiten Teil der Mär, wo er, nachdem er die Ratten beseitigt hat und mit der Entlohnung nicht zufrieden ist, all die jungen Leute von Hameln hypnotisiert und hinwegführt. Der Rattenfänger ist hier also doch ein Menschenfänger, und seine Anhänger nicht Ungeziefer, sondern nur verblendete Menschen.

Llarian Offline



Beiträge: 6.919

17.01.2016 12:01
#4 RE: Unwort des Jahres Antworten

Sehr schön, lieber Andreas. Vielleicht sollte man noch ergänzen, dass die Laienspielgruppe eigentlich nichts anderes ist als eine selbsternannte (!), linke (!) Sprachpolizei, der es im Wesentlichen darum geht, politische Aussagen zu machen und das Problem hinter einem bestimmten Begriff bewerten zu dürfen.
So etwas wie die Definition des Obergutmenschen. Das diese sich an ihrer Selbstzuschreibung stösst, ist nicht unerwartet.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 13.551

17.01.2016 14:45
#5 RE: Unwort des Jahres Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #2
Ich denke, dass der Stammtisch als politischer Kampfbegriff durch das Diktum von der "Lufthoheit über den Stammtischen" entstanden ist.


Dieser Bär befand 1991 das:

Zitat von Pooh's Corner, Die ZEIT, 1.3.1991
Kaum sage ich was, in diesen Zeiten, zu diesen Zeiten, schon kriege ich zwei Wörter zu hören: „Blauäugig“ und „Stammtischpolitiker“.

Die Leute, die das sagen, sagen das in der Hoffnung, ich würde nun die Klappe halten. Da kennen sie mich aber schlecht.

Denn diese beiden Wörter sind ja wohl das Vermuffteste, Gestrigste, Stumpfste, Dumpfste, Verbohrteste, Verschmorteste, Angegangenste, Wiedergängerischste, Ausgeblutetste, Zugemutetste, Saft-, Kraft-, Stein- und Beinloseste, Verstaubteste, an den Haaren Herbeigeklaubtetste, Uncoolste, Unhipste, Mega-Outeste, aus Leitartikeln Zusammengeklauteste, Maueste, Malleste, Alleste, Zickigste, Mickrigste, Blöde/Öde/Schnödeste, das schrägst Gesenkelte, von keines Gedanken Angekränkelte, Dümmste, Dööfste, was sag ich: das Reaktionärste, was man sagen kann.

Stammtischpolitiker: Dies ist zutiefst antibasisdemokratisch. Von den Segnungen, die der Stammtisch jenen bietet, die einen haben, ganz zu schweigen.

„Nein“, sagt Samuel Johnson, „der Mensch hat bisher noch nichts erdacht, was soviel Behagen schafft wie ein gutes Wirtshaus.“

Aber das wirklich Schlimme an der Injurie „Stammtischpolitiker“ ist die Anmutung, man solle doch gefälligst die Politik den Politikern überlassen.

Wenn Politiker wirklich so gut wären, wären sie nicht Politiker geworden.

Dann wären sie in die freie Wirtschaft gegangen und hätten sich welche gekauft.



Der Gebrauch der Injurie ist, soweit mir erinnerlich, spätestens zur Ägide & express gegen FJS en vogue gewesen. Es gibt aber, jedenfalls für den erweiterten Alpenrand, auch die Variante Bierbankpolitiker. Und da täts mich nicht Wunder nehmen, wenn das nicht schon zu Weimar oder gar zu Filser-Zeiten gängige Scheidemünze gewesen sein sollte. Der (oder einer der) Vorläufer ist der politische Kannegiesser. Da scheint der erste Fundort 1744 zu sein, lt. den Brüdahs.

Zitat von Wander, Dt. Sprichwörter-Lexikon, Bd. II, 1870
Er ist ein Kannegiesser. – Wurzbach II, 220; Braun, I, 1744.
Eine Person, die in Gasthäusern ohne Kenntnisse über öffentliche Angelegenheiten redet, oder, wie man es auch nennt, politisirt. Kannengiessen war einst die wichtigste Arbeit im Handwerk der Zinngiesser und diese wurden daher nach derselben Kannengiesser genannt. Beim Meisterstück stand in Nürnberg obenan eine zwei Mass haltende Schenkkanne, zum Ehrenwein zu gebrauchen. Zu sprichwörtlichem Gebrauch gelangte das Wort durch einen Zufall von der Bühne herab. Es war im Jahre 1722, als in Kopenhagen Holberg's Lustspiel: Der politische Kannegiesser aufgeführt ward. Sein Ruhm verbreitete sich bald über Deutschland und die sprichwörtliche Redensart: Kannegiessern und andere zeigen noch, welchen Eindruck das Stück damals gemacht hat. Fortan hiess ein Bierbankpolitiker, ein beschränkter, leidenschaftlicher Zeitungsleser ein politischer Kannengiesser. Man übertrug es später auch auf leeres oder gemüthliches Geschwätz in andern Dingen und sprach von ästhetischen, theologischen u.s. w Kannengiessern. (Grimm, V, 167.)



http://proverbs_de.deacademic.com/10681/Kannegiesser



PS: Stichwort Weimar. Oha. Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918-1937:

Zitat
Berlin, 20. Februar 1919

Bei Rathenau im Palais seiner Mutter gegenüber der Italienischen Botschaft. ... Zum Bolschewismus ließ er starke Hinneigung erkennen. Es sei ein großartiges System, dem wahrscheinlich die Zukunft gehören werde. In hundert Jahren werde die Welt bolschewistisch sein. Der gegenwärtige russische Bolschewismus gleiche einem wunderbaren Theaterstück, das auf einer Schmiere von Schmierenschauspielern gespielt werde. Und Deutschland werde den Kommunismus, wenn er zu uns komme, genauso im Schmierenstil aufführen. Uns fehlten die Männer für ein so überaus kompliziertes System. Es verlange eine viel feinere und höhere Begabung, als bei uns zu finden sei. Wir hätten keine Menschen von genügender Statur; vielleicht die Engländer und Amerikaner. Wir Deutschen könnten nur à la Feldwebel organisieren, nicht auf der hohen Stufe, die der Bolschewismus fordere.
...
Heute sei die Zeit der kleinen Leute. Einer sehe aus wie der andere: Scheidemann, Naumann, Kühlmann; alles Knieholz: alle diese "-männer" könne man untereinander austauschen, ohne daß es jemand merkt. In Deutschland komme nur der Bierbankpolitiker vorwärts. Man müsse "beliebt" sein, durch die Kneipen sich durchwälzen, sonst bringe man es zu nichts. Wer das aber könne, der sei kein Geistiger.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

17.01.2016 15:06
#6 RE: Unwort des Jahres Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #5
Es gibt aber, jedenfalls für den erweiterten Alpenrand, auch die Variante Bierbankpolitiker. Und da täts mich nicht Wunder nehmen, wenn das nicht schon zu Weimar oder gar zu Filser-Zeiten gängige Scheidemünze gewesen sein sollte.

Stimmt, hier ein Beispiel aus dem Kaiserreich (Reichskanzler Bülow - extrem erweiterter Alpenraum):

Zitat
Da die Reichsregierung in Südafrika nicht eingriff, wurde sie von den Alldeutschen heftig attackiert. Bülow wollte wegen der beginnenden deutschen Flottenrüstung Spannungen mit Großbritannien unbedingt vermeiden, jedoch die Zwangslage der Briten ausnutzen, um ihnen kolonialpolitische Zugeständnisse abzunötigen. Das Schicksal der Buren ließ ihn gleichgültig. Am 10. Dezember 1900 kanzelte er den alldeutschen Vorsitzenden Hasse im Reichstag wie einen dummen Jungen ab und warf ihm vor, er betreibe in der Burenfrage eine „Bierbankpolitik“ (heute würde man sagen: „Stammtischpolitik“).

http://www.zeit.de/1994/28/die-mutterlauge-der-nazis/seite-2

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

17.01.2016 16:45
#7 RE: Unwort des Jahres Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #3

Eine Anmerkung habe ich allerdings zum Passus

Zitat
Wer "Populismus" ruft, nennt oft im gleichen Atemzug den Begriff des Rattenfängers, womit die Grenze zum faschistoiden Sprachgebrauch endgültig überschritten ist. Die implizite Bezeichnung von Menschen (z. B. AfD-Wähler oder Leser des ersten Buches von Thilo Sarrazin) als Ratten, als Ungeziefer: ein ideologisch-begrifflicher Kern des Nationalsozialismus.

Ich persönlich hatte beim Begriff "Rattenfänger" eigentlich nie an die Ratten gedacht, sondern an den zweiten Teil der Mär, wo er, nachdem er die Ratten beseitigt hat und mit der Entlohnung nicht zufrieden ist, all die jungen Leute von Hameln hypnotisiert und hinwegführt. Der Rattenfänger ist hier also doch ein Menschenfänger, und seine Anhänger nicht Ungeziefer, sondern nur verblendete Menschen.



Oja, völlig richtig. Nun könnte man zur "Ehrenrettung" sagen, daß die assoziative Bahnung und Nähe ja dennoch ihre konditionierten Wirkungen entfaltet; aber auch diese assoziative Nähe von Ratten und Menschen wohnt ja eher dem Märchen selbst inne. Danke für den Hinweis!

Herzliche Grüße,
Andreas

Dennis the Menace Offline




Beiträge: 459

17.01.2016 22:35
#8 RE: Unwort des Jahres Antworten

Zitat von Andreas Döding im Blog
Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff des Populismus. Auch hier trieft die elitäre Arroganz aus jedem der verwendeten Buchstaben. Das Volk, von dem es im Artikel 20 des Grundgesetzes heißt, dass alle Staatsgewalt von ihm ausgehe, der Souverän, wird begrifflich zum tumben Pöbel, dem man nicht "aufs Maul schauen" solle und dürfe.



Ich verweise mal bescheiden auf


datt hier


Zettel schließt dabei am 30.9.08 mit der Konklusion:

Zitat von Zettel
Werden sich im amerikanischen Kongreß genug Abgeordnete finden, die das Wohl des Gemeinwesens über die Chancen für ihre eigene Wiederwahl stellen?

Wird, mit anderen Worten, der Populismus siegen oder die Vernunft?



was darauf hinweist, dass das von Herrn Döding beanstandete Misstrauen ("elitäre Arroganz"), welches der Begriff Populismus zum Ausdruck bringt, offenbar auch im liberal-konservativen Lager zuweilen als wohl-begründet angesehen wird - meines Erachtens durchaus zurecht.

Klar, Artikel 20 GG. Die "Volkssouveränität" füllt vermutlich etliche Regalkilometer in diversen Universitätsbibliotheken, aber letztlich kann Souveränität doch nicht heißen, dass das Volk dabei nicht doof sein darf/ kann, oder? Und da es sich beim "Volk" um einen typischen platonischen Idealbegriff ohne ontischen Status handelt, sind wir an dieser Stelle eh beim Wolkenschieben und Nebelstochern.

Und überhaupt: Polemik in Maßen einfach mal sportlich-locker sehen. Ich lese hier "linguistische Laienspielgruppe aus Darmstadt"; bingo, datt is doch auch schon watt. Womöglich tagt die ja sogar am Stammtisch. Die IT-nerds haben ja auch einen, wie man hier sieht.

Abperlen lassen ist übrigens auch keine schlechte Lösung. "Schwul" war ehedem hoch-polemisch, heutzutage eher hoch-offiziell.

Gutmensch? Klar, bin ich. Danke für das Kompliment; viel Spaß beim Schlechtsein.

So oder ähnlich geht's am besten. Durch inflationäres Ablutschen ist das Pejorative beim Gutmenschen eh verbraucht. Aber das sich bis Darmstadt anscheinend noch nicht rumgesprochen.

lich
Dennis

Emulgator Offline



Beiträge: 2.833

18.01.2016 00:07
#9 RE: Unwort des Jahres Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #3
Ich persönlich hatte beim Begriff "Rattenfänger" eigentlich nie an die Ratten gedacht, sondern an den zweiten Teil der Mär, wo er, nachdem er die Ratten beseitigt hat und mit der Entlohnung nicht zufrieden ist, all die jungen Leute von Hameln hypnotisiert und hinwegführt. Der Rattenfänger ist hier also doch ein Menschenfänger, und seine Anhänger nicht Ungeziefer, sondern nur verblendete Menschen.
Der historische Kern des Märchens zweiter Hälfte liegt wohl in der damaligen Auswanderungsbewegung nach Amerika. Der Rattenfänger war also ein Schlepper und die weggeführten Menschen nichts anderes als Schutzsuchende.

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

18.01.2016 07:10
#10 RE: Unwort des Jahres Antworten

Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #8

Zitat von Andreas Döding im Blog
Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff des Populismus. Auch hier trieft die elitäre Arroganz aus jedem der verwendeten Buchstaben. Das Volk, von dem es im Artikel 20 des Grundgesetzes heißt, dass alle Staatsgewalt von ihm ausgehe, der Souverän, wird begrifflich zum tumben Pöbel, dem man nicht "aufs Maul schauen" solle und dürfe.


Ich verweise mal bescheiden auf


datt hier


Zettel schließt dabei am 30.9.08 mit der Konklusion:

Zitat von Zettel
Werden sich im amerikanischen Kongreß genug Abgeordnete finden, die das Wohl des Gemeinwesens über die Chancen für ihre eigene Wiederwahl stellen?

Wird, mit anderen Worten, der Populismus siegen oder die Vernunft?



was darauf hinweist, dass das von Herrn Döding beanstandete Misstrauen ("elitäre Arroganz"), welches der Begriff Populismus zum Ausdruck bringt, offenbar auch im liberal-konservativen Lager zuweilen als wohl-begründet angesehen wird - meines Erachtens durchaus zurecht.

Klar, Artikel 20 GG. Die "Volkssouveränität" füllt vermutlich etliche Regalkilometer in diversen Universitätsbibliotheken, aber letztlich kann Souveränität doch nicht heißen, dass das Volk dabei nicht doof sein darf/ kann, oder? Und da es sich beim "Volk" um einen typischen platonischen Idealbegriff ohne ontischen Status handelt, sind wir an dieser Stelle eh beim Wolkenschieben und Nebelstochern.

Und überhaupt: Polemik in Maßen einfach mal sportlich-locker sehen. Ich lese hier "linguistische Laienspielgruppe aus Darmstadt"; bingo, datt is doch auch schon watt. Womöglich tagt die ja sogar am Stammtisch. Die IT-nerds haben ja auch einen, wie man hier sieht.

Abperlen lassen ist übrigens auch keine schlechte Lösung. "Schwul" war ehedem hoch-polemisch, heutzutage eher hoch-offiziell.

Gutmensch? Klar, bin ich. Danke für das Kompliment; viel Spaß beim Schlechtsein.

So oder ähnlich geht's am besten. Durch inflationäres Ablutschen ist das Pejorative beim Gutmenschen eh verbraucht. Aber das sich bis Darmstadt anscheinend noch nicht rumgesprochen.

lich
Dennis




Nun, lieber Dennis, daß man den Begriff Populismus auch, sagen wir, angemessen verwenden kann, bestreite ich gar nicht. Nebenbei war ich aber auch mit Zettel keineswegs immer einer Meinung. In gewisser Hinsicht ist der Populismusbegriff ja eine Art Begründung dafür, dass wir hier eine repräsentative Demokratie haben und keine direkte. Ebenso gibt es natürlich eine "angemessene" Verwendung z. B. des Begriffes "Rassismus". Beide Begriffe sind aber mindestens in den letzten zehn Jahren zu Kampfbegriffen geworden, für die das gilt, was ich mit "elitärer Arroganz" versucht habe zu beschreiben. Und mit polemischer Überspitzung haben beide Begriffe, bzw. deren Verwendung, m. E. wenig zu tun. Sie dokumentieren dagegen einen gesinnungsethischen Plumquatsch und die humorlose Selbstgewißheit des moralisch stets überlegenen. Forumskollege nachdenken_schmerzt_nicht hat das in seinen Gastbeiträgen auf ZR zuweilen sehr schön beschrieben. Und Ausdruck dieses Elends ist u. a. diese alberne jährliche Unwortwahl.

Herzliche Grüße,
Andreas

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 1.994

18.01.2016 11:50
#11 RE: Unwort des Jahres Antworten

Lieber Dennis.

Ich mag Ihre Einwürfe eigentlich immer, weil Sie das Talent besitzen, in meiner Wahrnehmung zumindest, gegenüberliegenden Pole zu finden und zu benennen. Dazwischen spannt sich für mich dann nicht selten ein besseres Verstehen auf.

Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #8
Polemik in Maßen einfach mal sportlich-locker sehen. Ich lese hier "linguistische Laienspielgruppe aus Darmstadt"; bingo, datt is doch auch schon watt.


Grundsätzlich haben Sie mit dieser Aussage natürlich Recht, aber ich meine, Sie übersehen hier den zentralen Punkt: Wir befinden uns in keinem Gleichgewichtszustand, in welchem sich (in der Öffentlichkeit) gleichberechtigte „Diskussionspartner“ auf Augenhöhe gegenüber stehen.

Im Kern geht es für mich bei der "Unwortwahl" und den daran gerichteten Populismusvorwurf nicht um Stilkritik, sondern um die Benennung des Fehlens eines konsistenten Maßes in der öffentlichen Beurteilung von Sachverhalten.

Lassen Sie mich versuchen, diese Sicht zu erläutern:

In meinen Augen (zu dieser Meinung komme ich immer mehr) bestimmt der öffentlich, rechtliche Rundfunk ganz wesentlich, wie viele (die meisten) Menschen hierzulande die Realität wahrnehmen. Das Bild, welches dieser von der Realität zeichnet, ist dabei durch so etwas wie einen Polarisationsfilter gelaufen. Die Inhärenz der Wirklichkeit wurde im wahrsten Sinne des Wortes weggefiltert.

Dieses „wegfiltern“ geschieht vor allem durch das Anlegen von zweierlei Maß an äquivalente Sachverhalte. Der Filter, der dabei zur Anwendung kommt, ist im Wesentlichen Kapitalismuskritik in Verbindung mit einem göttlichen Naturglauben, bei dem der Mensch ausserhalb der Natur steht und der ein aufgeklärtes Christentum abgelöst hat. Antiamerikanismus, Antisemitismus, Kulturrelativismus, Anitrassismus oder Feminismus dienen dabei als Steigbügelhalter für diese Kritik, wo immer sie es hergeben.

Der Punkt ist nun, dass die so „polarisierte Realiät“ Teile der inhärenten Wirklichkeit verloren hat, die für eine Beschreibung ebendieser daher nun ausscheiden und so in Lösungsstrategien keine Rolle spielen können. Ein Ausfluß dessen mag auch die sich in Mode befindliche Alternativlosigkeit politischer Entscheidungen zu sein.

In meinen Augen dient nun diese "Unwortfindung" schon seit Jahren als recht wirkmächtiger Filter in diesem Sinne, welcher die Realität „polarisieren“ soll.

Jetzt kann man natürlich trefflich darüber sinnieren, ob man diese „Unwortfinder“ eine Laientruppe nennen soll oder nicht. Natürlich sind es keine Laien. Es sind geschulte Ideologen, welche die Unvollständigkeit ihres Weltbilds in der öffentlichen Debattenführung sehr erfolgreich dekonstruieren.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Frank Böhmert Offline




Beiträge: 927

18.01.2016 12:18
#12 RE: Unwort des Jahres Antworten

"Flüchtling": dieses Jahr "Wort des Jahres", übernächstes Jahr dann vielleicht "Unwort".

Denn die Taz nennt Flüchtlinge jetzt "Geflüchtete".

Siehe dort, "Geflüchteten-Demo" in der Überschrift:
http://taz.de/Nach-den-Uebergriffen-in-Koeln/!5268937/

***

Hach ja. Bei solchem Sprachregelungseifer sehne ich mich immer nach den Zeiten zurück, als Beschimpfungen noch fröhlich umgemünzt wurden.

"Freaks? Klar sind wir Freaks!" Die Hippies in den 1960ern. Und schwupp, wurde aus Missgeburten etwas Schickes.

"Schwul? Aber ja doch!" Dieselben, wie oben schon von Dennis erwähnt.

Auch "Punk" war zuerst ein Schimpfwort für nichtsnutzige Jugendliche.

In den 1980ern gab es hier in Berlin in einem Frauenladen mal eine Selbsthilfegruppe, die nannte sich munter "Die Krüppellesben". Das war das Schärfste, was ich in dieser Hinsicht erlebt habe.

Dennis the Menace Offline




Beiträge: 459

19.01.2016 22:08
#13 RE: Unwort des Jahres Antworten

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #11


In meinen Augen (zu dieser Meinung komme ich immer mehr) bestimmt der öffentlich, rechtliche Rundfunk ganz wesentlich, wie viele (die meisten) Menschen hierzulande die Realität wahrnehmen. Das Bild, welches dieser von der Realität zeichnet, ist dabei durch so etwas wie einen Polarisationsfilter gelaufen. Die Inhärenz der Wirklichkeit wurde im wahrsten Sinne des Wortes weggefiltert.

....


In meinen Augen dient nun diese "Unwortfindung" schon seit Jahren als recht wirkmächtiger Filter in diesem Sinne, welcher die Realität „polarisieren“ soll.

Jetzt kann man natürlich trefflich darüber sinnieren, ob man diese „Unwortfinder“ eine Laientruppe nennen soll oder nicht. Natürlich sind es keine Laien. Es sind geschulte Ideologen, welche die Unvollständigkeit ihres Weltbilds in der öffentlichen Debattenführung sehr erfolgreich dekonstruieren.





Danke für Ihre Replik, lieber n_s_n.

Ich bin ja ganz wie Herr Döding der Auffassung, dass die Unwort-Geschichte ein ziemlich alberner Quatsch ist, namentlich dadurch, dass der semantische Zusammenhang von den Sprachfritzen selbst erfunden wird. Der Typus "Gutmensch" hieß früher mal Pharisäer - den gibt's also offenbar tatsächlich, wenngleich man den historischen Pharisäern damit vermutlich Unrecht antut. Und wie ich schon sagte: Maßvolle Polemik - zum Beispiel betreffend Gutmenschen - muss in politischen Debatten erlaubt sein und bedeutet keine persönliche Beleidigung. Abgesehen davon können die Gutmenschen ja zurückkeilen . Soeben - wie gut, dass es Wiki gibt - hab ich auch gelernt, dass es diese Spielerei auch in Österreich und der Schweiz gibt - nicht zu vergessen das "Börsenunwort des Jahres" , das die Börse Düsseldorf der Menschheit verkündet. in Ö gibt's auch "Sprüche", "Unsprüche" und "Jugendwörter" wie zum Beispiel "zach", das wahrscheinlich nicht jeder kennt und etymologisch noch genauer geklärt werden muss. "The world in Vorarlberg is too small" als Spruch des Jahres ist auch nicht schlecht. Offenbar haben die etwas mehr Humor als die verkniffene deutsche "Jury", die offenbar gaaaaanz ernst genommen werden will, was auch schon wieder unfreiwilliger Humor ist. Die Schweizer hatten mal "FIFA-Ethikkommission" als Unwort; auch nicht schlecht. Da ich keine Einwendungen gegen Mätzchen habe, mögen sich also auch "Sprachkritiker" zu Wort melden - das darf ja jeder.

An die von Ihnen beschriebene Wirkmächtigkeit von Medienfritzen - obwohl die eine solche vermutlich gerne hätten - glaub ich allerdings eher weniger, lieber n_s_n. Wenn es eine solche gäbe, müsste die DDR heut noch existieren. Indessen waren die Leute dort nicht der Auffassung, dass das, was die "Aktuelle Kamera" abends in der Glotze verkündete wahr ist und das, was man tagsüber so alles erlebte, die leeren Regale im HO zum Beispiel, gelogen.

Gegen erlebte Realitäten ist keine Propaganda wirksam. Außerdem wurden ehemals autoritative Positionen durch das Internet stark relativiert um nicht zu sagen zunichte gemacht. Rudolf Augstein konnte seinerzeit im Papierzeitalter noch regelrechte Kampagnen fahren (wäre heute nicht mehr möglich), die vermutlich eine gewisse Wirksamkeit hatten, aber nur insoweit, wie bereits vorhandene Stimmungen verstärkt wurden. Den Leuten eine erfundene Realität qua Medium aufs Auge zu drücken funktionierte auch damals nicht.

lich
Dennis

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 13.551

19.01.2016 22:41
#14 RE: Unwort des Jahres Antworten

Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #13
Den Leuten eine erfundene Realität qua Medium aufs Auge zu drücken funktionierte auch damals nicht.


Nicht in der Alltagsrealität; aber wenn's ums Unsichtbare, ums Drohende, Nichtfühlbare geht, zumindest in Maßen. Die Angstkampagnen der Grünfreaks, von Strahlen aus dem Reaktor über Strahlen aus dem Händi bis zu Strahlen vom Himmel, von DDT bis Waldsterben, scheinen H. L. Mencken einigermaßen recht zu geben ("the whole aim of practical politics is to keep the populace alarmed (and hence clamorous to be led to safety) by menacing it with an endless series of hobgoblins, most of them imaginary"). Momentan scheinen leider auch mal wieder die eben unter den Tisch gefallenen ersten 50% dieses Satzes angesagt ("Civilization, in fact, grows more and more maudlin and hysterical; especially under democracy it tends to degenerate into a mere combat of crazes...").

Zitat von Frank Böhmert im Beitrag #12
Auch "Punk" war zuerst ein Schimpfwort für nichtsnutzige Jugendliche.


Der Trick ist ja älter. In Sachen Kunscht haben die Impressionisten & Fauvisten das so gehändelt, in politicis die amerikanischen "Know-Nothings" so ~1850.


Übrigens schläft die Sprachpolizei nicht. Hier ein ganzes Glossar auf "bento", wo man eher auf die Wirklich Wichtigen Dinge hält ("Welcher Friends-Charakter bist du?" "Das Leben bietet mehr als Yeezy-Turnschuhe") und wahrscheinlich deshalb seit kurzem penetrant bei SPON verlinkt.

"ABC zur Flüchtlingskrise"

Zitat
Asylforderer / Asylant
Abfällige Bezeichnung für einen Asylbewerber.

Wer sagt's? Asylkritiker und besorgte Bürger, die am liebsten persönlich darüber entscheiden würden, wer in ihren Augen Asyl verdient und wer nicht. Gerade Asylant wird aber häufig auch unwissentlich gebraucht – also in der Annahme, doch eigentlich einen neutralen Begriff zu verwenden.


Balkanflüchtling
Bezeichnung für eine Person, die aus einem Balkanland flüchtet – also aus Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Albanien, Kosovo, Mazedonien, Serbien, Montenegro, Kroatien, Bosnien und Herzegowina oder Slowenien.

Wer sagt's? Wird vor allem von Menschen verwendet, die Vorurteile gegenüber Balkanflüchtlingen haben.


Besorgte Bürger
Eigenbezeichnung von Asylkritikern und anderen Flüchtlingsgegnern.

Kontext: Der Begriff soll harmlos-freundlich klingen. Besorgte Bürger trifft man – zusammen mit Hooligans und Rechtsextremen – auf Pegida-Demonstrationen.


Flüchtling / Geflüchteter
Ein Flüchtling ist eine Person, die zur Flucht aus ihrem Heimatland gezwungen ist.

Wer sagt's? Neben Flüchtling wird auch der Begriff Geflüchteter verwendet. Die Sprachwissenschaftlerin Jana Tereik erklärt, warum: "Geflüchtete wird verwendet, um die Endung -ling zu vermeiden. Viele empfinden sie als entmenschlichend und sagen ihnen eine Nähe zu Wörtern wie Schädling nach. Als nächstes komme dann die Schädlingsbekämpfung."


Flüchtlingsstrom
Beim Wort Flüchtlingsstrom denkt man automatisch an Naturgewalten, die nichts mit Flüchtlingen zu tun haben. Das Gleiche gilt für Welle oder Flut.

Wer sagt's? Menschen, die gegen Flüchtlinge sind, und Menschen, die nicht richtig nachgedacht haben.


Gutmensch
Abfällige Bezeichnung für Menschen, die sich aus politischen Gründen für eine ihrer Meinung nach gute Sache einsetzen – zum Beispiel für Flüchtlinge.

Wer sagt's? Besorgte Bürger und andere Menschen, die lieber zuerst an sich denken und nicht an die Gemeinschaft.


Lügenpresse
Sammelbezeichnung für die Medien in Deutschland.

Wer sagt's? Besorgte Bürger und Pegida-Anhänger, die meinen, Journalisten würden nur schreiben, was politisch gewollt ist.

Kontext: Lügenpresse suggeriert, dass man den Medien generell nicht mehr trauen kann. Wer den Begriff benutzt, will vielmehr eine eigene Wahrheit verbreiten – inklusive eigener Lügen und Vorurteile, zum Beispiel gegenüber Flüchtlingen. Wer Lügenpresse sagt, schimpft auch auf die "Merkel-Diktatur" und auf Gutmenschen.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

19.01.2016 23:17
#15 RE: Unwort des Jahres Antworten

Zitat
in Ö gibt's auch "Sprüche", "Unsprüche" und "Jugendwörter" wie zum Beispiel "zach", das wahrscheinlich nicht jeder kennt und etymologisch noch genauer geklärt werden muss.


Da das Österreichische ja genau wie mein Heimatdialekt zu den mittelbairischen Dialekten gehört, kann ich hier was beitragen. Bei uns ist "zaach" (mit langem, offenen a) ein etymologisch auf den ersten Blick ableitbares Attribut z. B. für ein Steak Marke "Schuhsohle".

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

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