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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 18 Antworten
und wurde 2.011 mal aufgerufen
 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Doeding Offline




Beiträge: 2.612

29.03.2016 08:39
ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Ein kurzes Zitat des Tages.

"Man kann einen gesellschaftlichen Diskurs darüber haben, was Meinungsfreiheit darf. Oder man hat Meinungsfreiheit." (Christian Zulliger)

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

29.03.2016 11:29
#2 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Erinnert auf den ersten Blick natürlich fatal an Brechts Diktum von der Regierung, die das Volk auflöst und ein neues wählt.

Ich denke, dass die Unterscheidung zwischen Volks- und Klientelparteien rein polemischer Natur ist - fußend auf der politischen Konsenskultur ("Volk") und den als konsens- und damit volksfeindlichen Partikularinteressen ("Klientel"). Bei der FDP hat diese Polemik hervorragend funktioniert, und da die Rösler-FDP zu schwach war, dem etwas entgegenzusetzen, resultierte daraus ihr Marginalisierung.

Interessant ist, wie das Thema weitergeht, und zwar hinsichtlich der AfD. Denn die ist hinsichtlich dieser Art von Polemik ja schon im etablierten Politiksprech angekommen, indem sie für sich beansprucht, die wahre Volkspartei zu sein und die "Altparteien" lediglich Klientele vertreten (Eliten, Konzerne etc.).

Meiner Meinung nach hat die Grundidee der repräsentativen Politik - des Ausgleichs verschiedener Interessen durch anteilige Vertretung im Parlament - nie richtig Fuß gefasst. Eine Partei, die Erfolg haben wollte, musste immer davon überzeugen, das gesamte Volk zu vertreten, was zu einer einheitlichen Sozialdemokratie geführt hat (John Rawls wäre begeistert, bestätigt es doch genau seine Thesen in A Theory of Justice). Daran hat sich im Grunde nichts geändert - aufstrebende Parteien beanspruchen den Volksparteistatus, während absteigende sich an ihm festklammern.

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Dennis the Menace Offline




Beiträge: 459

29.03.2016 13:08
#3 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #2

Meiner Meinung nach hat die Grundidee der repräsentativen Politik - des Ausgleichs verschiedener Interessen durch anteilige Vertretung im Parlament - nie richtig Fuß gefasst.



Okay, dann bildet sich halt hier, an dieser Stelle eine Art Volkspartei. Der Schlüsselbegriff dabei ist AUSGLEICH. Bei den allfälligen Mehrheitsentscheidungen müssen etwaige Spezialisten, zum Beispiel die FDP, allemal Federn lassen - es sei denn, man verzichtet generell auf legislative und exekutive Mitwirkung - dann kann man allerdings auch gleich privatisieren und auf Politik überhaupt verzichten. Wenn es nur noch Spezialisten gibt (das scheint im Trend zu liegen), wird's allerdings kompliziert; die Bereitschaft zur Koalitionsbildung sollte - bei seriösen und ernsthaften Absichten - jedenfalls da sein - und Koalition wiederum mit Volkspartei zu übersetzen hat ja auch was für sich .

Pluralismus bereits innerparteilich abzubilden und somit vor-parlamentarisch Spezialinteressen auszugleichen ist die Idee, die die CDU - und insbeseondere die CSU - ab den Fünfzigern mit erstaunlichen Erfolgen vorgemacht hat, die SPD hat's mit Godesberg und danach - mehr oder weniger zähneknirschend - mit zeitweiligen, insgesamt eher mäßigen Erfolgen (mit positiven regionalen Ausreißern: In Hamburg, der Stadt mit der höchsten Millionärsdichte in D, klappt das seit Menschengedenken ganz gut) nachgemacht.

Soweit die wohlwollende Auffassung des Begriffs .

Die spießige Sehnsucht nach einig, einig, einig und wir-haben-uns-alle-lieb und dabei spezielle Interessen als etwas generell Böses rezipieren - das wäre dann die weniger wohlwollende Auffassung , sozusagen die hässliche Seite der Volksparteiidee , die tatsächlich dominant sein mag, also viele so richtig gut finden . Von daher die Sehnsucht nach Wir sind das Volk und so

lich
Dennis

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

29.03.2016 14:05
#4 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #2
Meiner Meinung nach hat die Grundidee der repräsentativen Politik - des Ausgleichs verschiedener Interessen durch anteilige Vertretung im Parlament - nie richtig Fuß gefasst. Eine Partei, die Erfolg haben wollte, musste immer davon überzeugen, das gesamte Volk zu vertreten, was zu einer einheitlichen Sozialdemokratie geführt hat (John Rawls wäre begeistert, bestätigt es doch genau seine Thesen in A Theory of Justice). Daran hat sich im Grunde nichts geändert - aufstrebende Parteien beanspruchen den Volksparteistatus, während absteigende sich an ihm festklammern.


Möglicherweise ist irgendwo hier auch die Begründung für die auf den ersten Blick befremdliche Tatsache zu suchen, daß der Begriff Volkspartei zwar ausgesprochen positiv konnotiert ist, daß eine solche jedoch alles tun darf außer Politik zu betreiben, die man als populistisch bezeichnen kann. Andererseits hängt wohl auch die Sache mit den verpönten "einfachen Lösungen" sehr von der politischen Positionierung ab. Sowohl Wir schaffen das als auch Ausstieg aus Kern- UND Kohlekraft jetzt sofort, wie es Teile der Grünen fordert, ist an Schlichtheit und Einfachheit ja kaum zu überbieten.

Herzliche Grüße,
Andreas

"Man kann einen gesellschaftlichen Diskurs darüber haben, was Meinungsfreiheit darf. Oder man hat Meinungsfreiheit." (Christian Zulliger)

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

29.03.2016 14:49
#5 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Zitat
Möglicherweise ist irgendwo hier auch die Begründung für die auf den ersten Blick befremdliche Tatsache zu suchen, daß der Begriff Volkspartei zwar ausgesprochen positiv konnotiert ist, daß eine solche jedoch alles tun darf außer Politik zu betreiben, die man als populistisch bezeichnen kann. Andererseits hängt wohl auch die Sache mit den verpönten "einfachen Lösungen" sehr von der politischen Positionierung ab. Sowohl Wir schaffen das als auch Ausstieg aus Kern- UND Kohlekraft jetzt sofort, wie es Teile der Grünen fordert, ist an Schlichtheit und Einfachheit ja kaum zu überbieten.


Vor allem hängt es davon ab, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Partei an die Regierung und damit in die unangenehme Situation kommt, ihre Lösung auch umsetzen zu müssen. Da spielt die politische Richtung keine Rolle. Es gibt z.B. in der Linken viele Fans des bedingungslosen Grundeinkommens. Herr Ramelow hat früher auch mal damit geflirtet, seit letztem Jahr hört man merkwürdigerweise gar nichts mehr davon. Auch die Grünen sind realistischerweise derzeit nicht gefährdet, im Bund zu regieren, da kann man natürlich befreit drauflosfordern.

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

29.03.2016 21:53
#6 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Die SPD ist nach wie vor, jedenfalls in einem inhaltlichen Sinn, Volkspartei, nur ist sie nicht die einzige und in ihrer Ausrichtung auch nicht von einem Alleinstellungsmerkmal beseelt. Vielmehr machen sich die Union (bisweilen minus CSU), die SPD und die Grünen bei minimalen Programmdifferenzen denselben "Catch-all"-Kuchen streitig. Addieren wir die bei den letzten Landtagswahlen erzielten Ergebnisse dieser drei Parteien, so kommt noch ein ordentliches Volkspartei-Ergebnis zustande.

Dies ist wohl der Unterschied zu früher: Damals gab es noch eine konservative und eine sozialdemokratische Volkspartei. Heute gibt es drei sozialdemokratische (aber irgendwie auch konservative) Volksparteien, die um die vielzitierte Mitte der Gesellschaft buhlen.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.870

29.03.2016 22:40
#7 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Zitat von Noricus im Beitrag #6
Die SPD ist nach wie vor, jedenfalls in einem inhaltlichen Sinn, Volkspartei, nur ist sie nicht die einzige und in ihrer Ausrichtung auch nicht von einem Alleinstellungsmerkmal beseelt. Vielmehr machen sich die Union (bisweilen minus CSU), die SPD und die Grünen bei minimalen Programmdifferenzen denselben "Catch-all"-Kuchen streitig. Addieren wir die bei den letzten Landtagswahlen erzielten Ergebnisse dieser drei Parteien, so kommt noch ein ordentliches Volkspartei-Ergebnis zustande.

Dies ist wohl der Unterschied zu früher: Damals gab es noch eine konservative und eine sozialdemokratische Volkspartei. Heute gibt es drei sozialdemokratische (aber irgendwie auch konservative) Volksparteien, die um die vielzitierte Mitte der Gesellschaft buhlen.
Das stimmt im wesentlichen mit der Definition des Begriffs überein. Ob Volkspartei oder nicht entscheidet sich also daran, ob es eine Gruppe von Menschen gibt, die diese Partei nie im Leben wählen würde. Die SPD kann genau wie AfD, CDU, Grüne oder Linke fast jeder wählen; auch Unternehmer (wie z.B. die Familie Huub (Tengelmann KG)). Ein bißchen anders sieht es mit richtig weltanschaulichen Parteien aus, etwa der Partei bibeltreuer Christen, einer Islampartei, einer dezidiert liberalen Partei oder einer dezidiert sozialistischen Partei (in Deutschland ist das wohl vor allem die MLPD). Sie sind nie Volksparteien. Volksparteien unterscheiden sich untereinander nur durch programmatische Unterschiede, nicht durch offen andere weltanschauliche Grundlagen.

Mit dem Stimmenanteil und der Größe hat das Wort Volkspartei nicht viel zu tun. Wenn im Volk eine bestimmte Weltanschauung sehr verbreitet ist, kann die zugehörige Partei durchaus größer als alle Volksparteien sein, die diese Lehre nie so rein und klar vertreten können.

Dennis the Menace Offline




Beiträge: 459

29.03.2016 23:49
#8 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Zitat von Noricus im Beitrag #6


Dies ist wohl der Unterschied zu früher: Damals gab es noch eine konservative und eine sozialdemokratische Volkspartei. Heute gibt es drei sozialdemokratische (aber irgendwie auch konservative) Volksparteien, die um die vielzitierte Mitte der Gesellschaft buhlen.



Ich glaube eigentlich nicht, lieber Noricus, dass es diesen Unterschied zu früher wesentlich tatsächlich gibt. Auch die C-Volksparteien hatten schon immer erhebliches sozialpolitisches Potential - andernfalls wäre deren Erfolgsstory nicht möglich gewesen. Dass das bei denen offiziell nicht als "sozialdemokratisch" bezeichnet wurde und wird, ist eher der Markenzeichenpolitik und der Tradition geschuldet und hat keine große Bedeutung. "Sozialdemokratisch" steht eher in materialistisch-säkularer Tradition, was die Genossen aber mit Godesberg insoweit glattgebügelt haben, dass seitdem auch christlich oder sonst was als Tradition ausdrücklich anerkannt ist. Im Übrigen sind "konservativ" und "sozialdemokratisch" kategorial m.E. keine Gegensätze. Beides kann man lässig in Übereinstimmung bringen.

Interessant an dieser Stelle das Grundsatzprogramm der CSU, wo es u.a. heißt:

Die Solidarische* Leistungsgesellschaft ist eine an das christliche Menschenbild gebundene, wertorientierte Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, mit der wir die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben und eine gerechte Teilhabe aller am Fortschritt schaffen.

*) mit Großbuchstaben - ist auch nicht unwichtig)

Damit ist - geradezu idealtypisch - eigentlich alles in eine Kiste gepackt; "nachhaltig" fehlt noch, das kommt an anderer Stelle. Auch 'n bissle was Liberales ("eigenverantwortlich") kommt nicht zu kurz - allerdings fußt das angeblich auf der "Solidarischen Leistungsgesellschaft" und nicht umgekehrt - nun ja. Dass das C-Volksparteikonzept in Bayern noch einigermaßen gut funktioniert, ist also kein Wunder.


lich
Dennis

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.000

30.03.2016 16:29
#9 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #2
Erinnert auf den ersten Blick natürlich fatal an Brechts Diktum von der Regierung, die das Volk auflöst und ein neues wählt.

In meiner Wahrnehmung hat die Aussage Krafts eher etwas von einem Versuch der Selbstvergewisserung darüber, "richtig zu liegen".

Kaum ein Mensch kann länger unter dem Eindruck leben, dass seine eigenen Überzeugungen falsch sind. Bleiben zwei Möglichkeiten: A) Die Überzeugung ändern oder B) sich seiner Überzeugung zu vergewissern.

A) halte ich bei Meinungsstarken Politikern für fast ausgeschlossen und für B) verbleibt eben nur, unter der Vorraussetzungen, dass die Realität nicht mitmacht, die eigene Überzeugung laut auszusprechen. Das hat Kraft getan und jetzt ist sie einstweilen wieder überzeugt.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Frank2000 Offline




Beiträge: 3.388

30.03.2016 22:13
#10 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Zitat von Doeding im Beitrag #4

Möglicherweise ist irgendwo hier auch die Begründung für die auf den ersten Blick befremdliche Tatsache zu suchen, daß der Begriff Volkspartei zwar ausgesprochen positiv konnotiert ist, daß eine solche jedoch alles tun darf außer Politik zu betreiben, die man als populistisch bezeichnen kann.



Ich hätte mir gewünscht, dass dieser offensichtliche Widerspruch stärker besprochen wird. Wie kann eine Partei eine Volkspartei sein, ohne populistisch zu sein? Da schwingt für mich zwischen den Zeilen mit, dass eine Volkspartei erzieherischen Charakter haben müsse.

Und auch diese Definition überzeugt mich nicht: "Ob Volkspartei oder nicht entscheidet sich also daran, ob es eine Gruppe von Menschen gibt, die diese Partei nie im Leben wählen würde." Ich würde nie im Leben die Linken wählen; und wie mir geht es auch Millionen anderen Wählern. Also kann die Linke keine Volkspartei gemäß dieser Definition sein. Zudem bezieht sich diese Definition von "Volkspartei" viel zu sehr auf das Parteiprogramm - wo wir doch gerade lernen, dass Parteiprogramme geduldig sind und nur die praktische Politik zählt.

Es bleibt also dabei, dass "Volkspartei" lediglich ein moralischer Anspruch ist darauf, formal-programmatisch die "Wahrheit" gepachtet zu haben und blos noch den "Schleier der Verdummung" von den Augen der Wähler ziehen zu müssen, damit auch diese erkennen, was sie zu wählen haben.

___________________
Kommunismus mordet.
Ich bin bereit, über die Existenz von Einhörnern zu diskutieren. Aber dann verlange ich außergewöhnlich stichhaltige Beweise.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

30.03.2016 22:44
#11 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Zitat von Frank2000 im Beitrag #10
Ich hätte mir gewünscht, dass dieser offensichtliche Widerspruch stärker besprochen wird. Wie kann eine Partei eine Volkspartei sein, ohne populistisch zu sein?

Ist nicht "populistisch" ohnehin ein bloßer Kampfbegriff? Im demokratischen Wettstreit muß jede Partei, die auch nur irgendwie erfolgreich sein will, dem Wahlvolk angenehme (und oft nicht sonderlich realistische) Versprechungen machen. Die ohne große Rücksicht auf Popularität und Volkes Stimmung eine fixe politische Idee vertretenden Parteien (z.B. die "Partei der Vernunft") landen alle im hinteren Teil der Kategorie "Sonstige".
Zitat von Frank2000 im Beitrag #10
Es bleibt also dabei, dass "Volkspartei" lediglich ein moralischer Anspruch ist darauf, formal-programmatisch die "Wahrheit" gepachtet zu haben und blos noch den "Schleier der Verdummung" von den Augen der Wähler ziehen zu müssen, damit auch diese erkennen, was sie zu wählen haben.

Der Begriff der "Volkspartei" hat möglicherweise nur noch historische Bedeutung, im Kontext der Bonner Bundesrepublik zu Zeiten, als die SPD und CDU/CSU ihre satten Stimmenanteile sicher hatten, die FDP als Joker und Mehrheitsbeschaffer dienen konnte und alle anderen Parteien als Nicht-Volksparteien sich irgendwelche mehr oder weniger absurden Partikularinteressen aufs Panier geschrieben hatten und damit eine kleine Minderheitenklientel bedienten und ggf. Proteststimmen einfangen konnten. Dieses System wurde durch den Aufstieg der Grünen Partei und, nach 1990, die eigentümliche Persistenz der SED, in Frage gestellt; erst der katastrophale Ausgang der Bundestagswahl 2013 mit Ausfall der FDP und der Bildung einer geradezu obszönen 75%-Koalition hat es ganz ad absurdum geführt.

Insofern ist Krafts Selbstverständnis der SPD als rein nostalgische Übung anzusehen.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.870

31.03.2016 14:03
#12 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #8
Zitat von Noricus im Beitrag #6
Dies ist wohl der Unterschied zu früher: Damals gab es noch eine konservative und eine sozialdemokratische Volkspartei. Heute gibt es drei sozialdemokratische (aber irgendwie auch konservative) Volksparteien, die um die vielzitierte Mitte der Gesellschaft buhlen.


Ich glaube eigentlich nicht, lieber Noricus, dass es diesen Unterschied zu früher wesentlich tatsächlich gibt. Auch die C-Volksparteien hatten schon immer erhebliches sozialpolitisches Potential - andernfalls wäre deren Erfolgsstory nicht möglich gewesen. Dass das bei denen offiziell nicht als "sozialdemokratisch" bezeichnet wurde und wird, ist eher der Markenzeichenpolitik und der Tradition geschuldet und hat keine große Bedeutung. "Sozialdemokratisch" steht eher in materialistisch-säkularer Tradition, was die Genossen aber mit Godesberg insoweit glattgebügelt haben, dass seitdem auch christlich oder sonst was als Tradition ausdrücklich anerkannt ist. Im Übrigen sind "konservativ" und "sozialdemokratisch" kategorial m.E. keine Gegensätze. Beides kann man lässig in Übereinstimmung bringen.
Parteien mit unterschiedlichen Weltanschauungen können durchaus in diversen Einzelfragen übereinstimmende Programme haben. Das spricht nicht gegen den Unterschied zwischen konservativ und sozialdemokratisch. Beispielsweise war in der Frage der Zivilehe Bismarck in Übereinstimmung mit den damaligen Liberalen und Sozialisten, obwohl er selber von beidem nichts war. Wenn man aber den drei damaligen Parteien die Frage gestellt hätte, warum sie für die Zivilehe sind, hätte man stets andere Antworten bekommen. Es kann sogar so weit gehen, daß eine Partei offen zugibt, einen bestimmten Programmpunkt nur aus politischen Gründen, nicht aus eigener weltanschaulicher Überzeugung, zu betreiben. Erst in der Merkelgeneration fällt die weltanschauliche Überzeugung als Motivation ganz weg.

Florian Offline



Beiträge: 3.162

31.03.2016 16:18
#13 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Der Begriff "Volkspartei" stammt ja eigentlich aus einer anderen Zeit.
Nämlich aus einer Zeit, als eine Partei ein Sammelbecken für einen großen Teil der Bevölkerung sein konnte.

Es kann sein, dass wir aktuell an einem Punkt sind, wo Parteien diese Eigenschaft abhanden kommt.
Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit:
es gibt einen Trend zu einer größeren Parteien-Vielfalt, wobei dann die einzelne Partei ihr Programm jeweils passgenauer auf ihre Wählerzielgruppe zuschneiden kann.
Vielleicht ist diese Entwicklung in einer zunehmend ausdifferenzierten Gesellschaft zwangsläufig.
Als weite Teile der Bevölkerung noch eine ähnliche Vita, einen ähnlichen Geschmack und ähnliche Bedürfnisse hatten, konnte das alte Kaufhof-Prinzip "alles unter einem Dach" noch funktionieren. Und auch in der Politik konnte das Prinzip "ein Angebot für Alle" funktionieren.

Sowohl Kaufhof als auch die SPD hat mit diesem Prinzip aber zunehmend Schwierigkeiten.

Das gleich Phänomen gibt es ja auch nicht nur in Deutschland, sondern weltweit: die Parteienlandschaft wird ausdifferenzierter.

Selbst in Großbritannien (wo man ja lange davon ausgehen konnte, dass das Mehrheitswahlrecht für stabile Mehrheiten sorgt), zerfasert das klassische "2,5"-Parteiensystem in eine zunehmend bunte Parteienlandschaft.
Und in den USA (wo das Mehrheitswahlrecht eigentlich auch für stabile Parteien sorgen sollte) gibt es nun erste Prognosen, dass die republikanische Partei zerfallen könnte. (Was auch aber nicht nur an der Person Trump liegt. Ebenso wichtig sind die tiefen ideologischen Gräben innerhalb der Partei).


Die konkreten Folgen für Deutschland werden sein, dass die einzelnen Parteien Stimmanteile verlieren.
Die Zeiten, in denen eine einzelne Partei absolute Mehrheiten holt, neigen sich dem Ende zu.
Das Wahlergebnis der Union 2013 war da vielleicht ein letztes Aufbäumen.
Auch die CSU in Bayern wird ihre absolute Mehrheit nicht mehr ewig halten können. (Das Grundprinzip "Laptop und Lederhose" zeigt ja wunderbar den Zielgruppen-Spagat, den die CSU in Bayern bestehen muss. Irgendwann wird aber die "Laptop"-Zielgruppe erkennen, dass z.B. die FDP oder die Grünen näher an ihren Bedürfnissen sind. Und für die "Lederhosen"-Zielgruppe haben die FW oder die AfD ein ggf. zielgruppengenaueres Alternativ-Angebot.)

Wie dem auch sei, hier etwas Empirie.
(Quelle: http://www.wahlrecht.de/umfragen/landtage/index.htm )

Es gibt 16 Bundesländer.
Davon gibt es von 11 aktuelle Umfragen oder Wahlergebnisse aus dem Jahr 2016.
In 5 dieser 11 Bundesländern gibt es aktuell weder für Union+SPD, noch für SPD+Grün+Linke noch für Union+FDP eine klare Mehrheit (nämlich in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg, Thüringen, Brandenburg und McPomm).
Grob gesagt ist also in der Hälfte der Bundesländer aktuell keine der "klassischen" Koalitionsmöglichkeiten mehr sicher möglich. Dramatisch!

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

31.03.2016 17:09
#14 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #13
Selbst in Großbritannien (wo man ja lange davon ausgehen konnte, dass das Mehrheitswahlrecht für stabile Mehrheiten sorgt), zerfasert das klassische "2,5"-Parteiensystem in eine zunehmend bunte Parteienlandschaft.

Sehe ich eigentlich nicht. Die Koalition der letzten Periode hat zwar auf eine gewisse Auflockerung hingedeutet, aber das hat sich bei der letzten Wahl wieder stabilisiert. Extremere Parteien wie Grüne und UKIP (neben denen es schon seit langem eine sehr bunte Landschaft aus "sonstigen" Mikroparteien gibt) werden durch das Mehrheitswahlrecht bisher zuverlässig kleingehalten. Die nordirischen Parteien spielen ohnehin eine Sonderrolle. Das einzige auffällige Kuriosum des derzeitigen Unterhauses ist, daß Schottland fast ausschließlich durch die SNP vertreten ist; aber das sind gewissermaßen die Nachwehen des gescheiterten Referendums und läßt keine Schlüsse auf die Entwicklung der Parteienlandschaft in Großbritannien im allgemeinen zu. Es ist nur die Frage, wie lange es dauert, bis die Schotten merken, daß die SNP nur Sonderrechte fordert, aber (als Landesregierung) bisher keinerlei Fähigkeit, Willen oder Interesse zeigt, die Sonderrechte, die Schottland schon hat, tatsächlich zu dessen Nutzen anzuwenden (was natürlich der programmatischen Fixierung der SNP entspricht: der Ruf nach Unabhängigkeit setzt die Unerträglichkeit des status quo voraus, an der die SNP-Regierung fleißig arbeitet).

Das Fragmentierungsproblem scheint mir, wenn keine deutsche Spezialität, so doch in Deutschland besonders groß und problematisch zu sein. Kern des Problems ist dabei, daß Parteien nennenswerte Stimmenanteile bekommen, die von den anderen als undemokratisch oder jedenfalls für allfällige Partnerschaften ungeeignet angesehen werden: SED/Linke, und neuerdings AfD. Für die anderen wird es dann entsprechend eng, wenn sie Mehrheiten bilden wollen. Es läuft dann doch auf einen "Block der moralisch Höherstehenden" hinaus (die derzeitige große Koalition ist erst der Prototyp dafür), und wieviel das am Ende noch mit Demokratie zu tun hat, wäre eine andere Frage.

Florian Offline



Beiträge: 3.162

31.03.2016 18:01
#15 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #14
Zitat von Florian im Beitrag #13
Selbst in Großbritannien (wo man ja lange davon ausgehen konnte, dass das Mehrheitswahlrecht für stabile Mehrheiten sorgt), zerfasert das klassische "2,5"-Parteiensystem in eine zunehmend bunte Parteienlandschaft.

Sehe ich eigentlich nicht.


Stimmen-Anteile 1979:
Tories: 44%
Labour: 37%
Lib Dem: 14%
Summe für die "großen 2,5": 95%
(Und 1979 war in der Zeit kein Ausreißer. Dass diese 3 Parteien in der Summe rund 95% erreichen, war über Jahrzehnte der Normalfall).

Hingegen Stimmen-Anteile 2015:

Tories: 37%
Labour: 30%
Lib Dem: 8%
Gesamt: 75%

Also Minus 20% für die "großen 2,5".
Finde ich schon beachtlich. Und sehe ich als ein Beispiel für eine gleiche Tendenz auch in anderen Ländern.
(Dass in Spanien derzeit keine Partei eine absolute Mehrheit hat, ist z.B. auch eine ganz neue Erfahrung)

Auch dass Regierungsbildungen durch gegenseitige "Ausschließeritis" schwieriger werden ist kein rein deutsches Phänomen.
Belgien war z.B. jüngst für knapp 2 Jahre ohne Regierung, weil man sich nicht auf eine Koalition einigen konnte.

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

31.03.2016 20:27
#16 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #8
Zitat von Noricus im Beitrag #6


Dies ist wohl der Unterschied zu früher: Damals gab es noch eine konservative und eine sozialdemokratische Volkspartei. Heute gibt es drei sozialdemokratische (aber irgendwie auch konservative) Volksparteien, die um die vielzitierte Mitte der Gesellschaft buhlen.



Ich glaube eigentlich nicht, lieber Noricus, dass es diesen Unterschied zu früher wesentlich tatsächlich gibt. Auch die C-Volksparteien hatten schon immer erhebliches sozialpolitisches Potential - andernfalls wäre deren Erfolgsstory nicht möglich gewesen. Dass das bei denen offiziell nicht als "sozialdemokratisch" bezeichnet wurde und wird, ist eher der Markenzeichenpolitik und der Tradition geschuldet und hat keine große Bedeutung.


Da haben Sie schon Recht, lieber Dennis. Das politische Tongeschlecht in Deutschland ist sozialdemokratisch. Und auch hinsichtlich der C-Parteien möchte ich Ihnen nicht widersprechen (siehe katholische Soziallehre, Christlich-Soziale Union etc).

Aber früher gab es zwischen den Lagern doch noch scharfe weltanschauliche Gegensätze, die sich zum Teil in Einzelfragen zuspitzten. Heutzutage kann dasselbe Milieu in Baden-Württemberg die Grünen, in Rheinland-Pfalz die SPD und in Sachsen-Anhalt die CDU wählen. Ehemals spaltende Themen wie die Energie- oder die Gesellschaftspolitik sind heute zum schwarz-rot-grünen Einheitsbrei zusammengerührt. Das sollte man nicht nur negativ sehen, gesellschaftliche Kohäsion in den tonangebenden Schichten hat ja auch ihre Vorteile. Aber zum anderen erklärt diese mittige Melange auch, warum das politische Spektrum derzeit um einige Farben bunter wird und weshalb der Ton rauer zu werden scheint. Eintracht in der Mitte sorgt für Dissidenz in den zentrifugalen Bereichen. Oder anders formuliert: Die faktische größtmögliche Koalition gebiert ihre APO.

Manni der Libero Offline



Beiträge: 5

01.04.2016 19:38
#17 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Die Begrifflichkeit der "Volkspartei" ist für mich zwingend mit dem Begriff vox populi zu verbinden. Eine Partei, die nicht auf die Stimme des Volkes hört ist somit keine Volkspartei. Nun spricht ein "Volk" aber nicht mit einer Stimme. Vielmehr gibt es Mehrheitsmeinungen und Tendenzen in eine bestimmte Richtung. Die Mehrheitsmeinung (m.E. weit über 60% der Wähler) in Deutschland hat eindeutig eine sozialistische Ausrichtung. Da die SPD eine ebenso eindeutig sozialistische Grundausrichtung hat, ist dieses Kriterium erfüllt. Muss eine Volkspartei eine gewisse Prozentzahl erreichen, um als solche zu gelten? Im Prinzip ja, wenn es nur eine Partei gäbe die eine Mehrheitsmeinung vertritt. Zwischenzeitlich sind es aber mehrere Parteien mit sozialdemokratischen Denkstrukturen und Programmen, die sich in der angeblichen "Mitte" tummeln. Diese Parteien, CDU, SPD und Grüne denken mit ihren gemeinsamen von Stimmen Prozenten etwa zwei Drittel der Mehrheitsmeinung ab und sind somit alle, in unterschiedlichen Schattierungen zwar, Teil einer Volkspartei in einem sozialistisch bevormundendem Meinungs-Korridor.

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

01.04.2016 20:22
#18 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Zitat von Manni der Libero im Beitrag #17
Die Begrifflichkeit der "Volkspartei" ist für mich zwingend mit dem Begriff vox populi zu verbinden. Eine Partei, die nicht auf die Stimme des Volkes hört ist somit keine Volkspartei. Nun spricht ein "Volk" aber nicht mit einer Stimme. Vielmehr gibt es Mehrheitsmeinungen und Tendenzen in eine bestimmte Richtung. Die Mehrheitsmeinung (m.E. weit über 60% der Wähler) in Deutschland hat eindeutig eine sozialistische Ausrichtung.


Ich glaube, oder richtiger: ich hoffe, daß es bei den 60% der Menschen, die Sie als "sozialistisch eingestellt" meinen, ähnliche graduelle Unterschiede geben mag wie bei denen, die sich z. B. als "liberal" bezeichnen, denn ohne Zweifel ist nicht jeder Liberale auch gleich ein Libertärer (was eine realpolitisch ziemlich verlorene, wenngleich sympathische, Position sein mag). Und so bin ich davon überzeugt, daß nicht jeder Sozialdemokrat, der z. B. den Mindestlohn gut findet, gleich ein Neokommunist ist. Will sagen, es gibt noch Hoffnung, aber man muß die nicht-sozialistischen Positionen vermutlich immer wieder artikulieren und begründen und sollte sich dabei nicht entmutigen lassen (und für gute Argumente politisch anders denkender wirklich offen sein).

Herzliche Grüße,
Andreas

"Man kann einen gesellschaftlichen Diskurs darüber haben, was Meinungsfreiheit darf. Oder man hat Meinungsfreiheit." (Christian Zulliger)

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

02.04.2016 13:34
#19 RE: ZdT: Hannelore Kraft und die Volkspartei Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #15
Zitat von Fluminist im Beitrag #14
Zitat von Florian im Beitrag #13
Selbst in Großbritannien (wo man ja lange davon ausgehen konnte, dass das Mehrheitswahlrecht für stabile Mehrheiten sorgt), zerfasert das klassische "2,5"-Parteiensystem in eine zunehmend bunte Parteienlandschaft.

Sehe ich eigentlich nicht.


Stimmen-Anteile 1979:
Tories: 44%
Labour: 37%
Lib Dem: 14%
Summe für die "großen 2,5": 95%
(Und 1979 war in der Zeit kein Ausreißer. Dass diese 3 Parteien in der Summe rund 95% erreichen, war über Jahrzehnte der Normalfall).

Hingegen Stimmen-Anteile 2015:

Tories: 37%
Labour: 30%
Lib Dem: 8%
Gesamt: 75%

Also Minus 20% für die "großen 2,5".
Finde ich schon beachtlich. Und sehe ich als ein Beispiel für eine gleiche Tendenz auch in anderen Ländern.
(Dass in Spanien derzeit keine Partei eine absolute Mehrheit hat, ist z.B. auch eine ganz neue Erfahrung)

Auch dass Regierungsbildungen durch gegenseitige "Ausschließeritis" schwieriger werden ist kein rein deutsches Phänomen.
Belgien war z.B. jüngst für knapp 2 Jahre ohne Regierung, weil man sich nicht auf eine Koalition einigen konnte.

Es kann natürlich sein, daß ich das ganz verkehrt sehe, aber ich glaube doch, daß man diese Entwicklungen nicht gleichsetzen darf. Es ist richtig, daß in Großbritannien während der "New Labour"-Periode eine gewisse thematische Annäherung zwischen den beiden großen Parteien stattfand, hauptsächlich aufgrund des Blairschen Konzeptes (das dem Merkelschen ähnelt), mit "New Labour" eine Politik der Mitte zu betreiben und auch mildere Positionen der Konservativen zu besetzen - im Gegenzug hatte sich die konservative Partei etwas sozialdemokratisiert. Das ging tatsächlich so weit, daß schon spöttisch bemerkt wurde, die beiden Parteien unterschieden sich nicht mehr programmatisch und eigentlich auch nicht mehr im austauschbaren Personal. Der Kampf zwischen Cameron und Miliband war schon in erster Linie eine Frage dessen, wer die weniger peinlichen Urlaubsfotos in der Zeitung hat.

Trotzdem kann man den relativ hohen (obwohl immer noch nicht sehr großen) Stimmenanteil für andere Parteien bei den General Elections 2015 meines Erachtens klar auf zwei konkrete und aktuelle Verfassungsfragen zurückführen, die jeweils einer bestimmten Partei zugute kamen. (Auch die Schwierigkeiten in Belgien haben ihre Wurzel in einem Verfassungsproblem, dem Verhältnis zwischen dem flämischen und dem wallonischen Landesteil.)

Das ist zum einen die Frage der schottischen Unabhängigkeit. Nach dem gescheiterten Referendum war der durchschlagende Wahlerfolg der SNP einerseits als "Jetzt-erst-recht"-Stimmen zu sehen, andererseits - ich meine, wichtiger - als Resultat der Tatsache, daß die in Schottland traditionell starke Labourpartei durch geradezu merkelsche Selbstgefälligkeit ihre Wähler verprellt und zumindest vorübergehend zu Protestwählern (für die SNP, deren nationalistisches Programm im übrigen rein sozialistisch ist) gemacht hat. Die Frage ist, ob dies ein einmaliges Ergebnis oder ein längerer Trend wird. Ich tippe auf erstes, denn zumindest die nicht ganz in Unabhängigkeitsträumen verbohrten Schotten werden im Laufe dieser Regierungsperiode schon einsehen, daß sie durch eine dysfunktionale, in Fundamentalopposition zur Verfassungswirklichkeit beharrende SNP-Fraktion in Westminster nicht optimal vertreten werden.

Die andere Frage ist das Verhältnis zur EU. Die Diskussion hierüber, ursprünglich hauptsächlich ein Internum der konservativen Partei, hat UKIP einigen Stimmenzulauf beschert, allerdings keinerlei Erfolg im Rahmen des Mehrheitswahlrechts. Das Referendum am 23. Juni (das ich im übrigen für keine gute Idee halte, denn keiner der beiden möglichen Ausgänge verbessert die Lage des Vereinigten Königreichs) sollte hier Klärung schaffen. Findet der Brexit statt, dann hat UKIP ihren einen Programmpunkt per Erfolg verloren und keinen weiteren Existenzgrund mehr. Bleibt das UK in der EU, dann kann UKIP sich vermutlich als verhärtete Separatistenpartei halten, so wie die SNP in Schottland. Daß sie dann längerfristig eine ernstzunehmende politische Kraft wird, halte ich angesichts des britischen Pragmatismus für unwahrscheinlich, jedenfalls solange das Mehrheitswahlrecht besteht.

Was die Nähe von Labour und konservativer Partei anbelangt, hat sich im Laufe des vergangenen Jahres einiges verändert. Cameron als Person ist zwar noch ein Repräsentant der Mischmaschperiode, aber seit die Konservativen allein regieren, besinnen sie sich merklich auf ihre wirtschaftsliberalere Tradition. Auf der anderen Seite hat die Labourpartei seit der Wahl von Corbyn zum Vorsitzenden vollends mit den Vorstellungen von "New Labour" gebrochen und stellt sich - derzeit unbeirrt, allerdings auch noch nicht vom Wähler getestet - mehr und mehr als sozialistische Partei alter Schule dar. Es ist zu erwarten, daß im Gegenzug auch die Konservativen künftig wieder extremer werden.
Sollte diese Entwicklung zu einer Polarisierung anhalten, dann ist mit einer Wiedererstarkung des 2,x-Parteiensystems zu rechnen.

Ein Unterschied zwischen Deutschland und Großbritannien ist jedenfalls augenfällig: Her Majesty's Government sitzt eine (zwar durch die Eskapaden der SNP etwas geschwächte, aber) voll funktionale Opposition gegenüber und unterzieht die Arbeit der Regierung einer scharfen Prüfung im Parlament. Die britische Demokratie ist rosig und lebendig und beißt gerade herzhaft in das eben akut gewordene Problem der Stahlindustrie. Die deutsche sieht mehr einem blutleeren, kaltfingrigen Greis ähnlich, der sich in honeckerscher Realitätsverweigerung jedes abweichende Wort verbittet.

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