Zitat von R.A. im Beitrag #1Außenpolitische Inkompetenz, heute wieder einmal am Beispiel Nahost.
Insbesondere wohl historische Inkompetenz.
Es ist bezeichnend, dass der Qualitäts-Journalismus das Miteinander von Ethnien und Religionsgruppen im Nahen Osten für einen Quell des Blutvergießens hält, in Europa jedoch die Fahne der offenen Außengrenzen und damit einem Miteinander von unterschiedlichen Ethnien und Religionsgruppen schwenkt. Ist das der Rassismus der Antirassisten (wir schaffen das, die schaffen das nicht) oder behält da einfach die richtige Gesinnung (Willkommenskultur und westlicher Meaculpismus) die Oberhand über die logische Kohärenz?
Zitat von Noricus im Beitrag #2Es ist bezeichnend, dass der Qualitäts-Journalismus das Miteinander von Ethnien und Religionsgruppen im Nahen Osten für einen Quell des Blutvergießens hält, in Europa jedoch die Fahne der offenen Außengrenzen und damit einem Miteinander von unterschiedlichen Ethnien und Religionsgruppen schwenkt.
Ist das wirklich das Narrativ? Oder geht es nicht eher so, daß der Nahe Osten im osmanischen Reich vor WK I das kunterbunte multikulturelle Miteinander, das wir in Europa erst für die Zukunft herbeisehnen und mühselig gegen die Verbohrtheit der Gestrigen durchsetzen müssen, schon in schönster Perfektion gelebt hat, bis die Kolonialmächte durch die Zerschlagung dieses Reichs der 1001 Nacht in willkürliche, nur ihren imperialistischen Bedürfnissen entsprechende Staatsgebilde mit unnatürlichen Machtstrukturen (bei denen von außen eingesetzte und gestützte feudale ethnisch-religiöse Minderheiten die bunte Mehrheit unterdrücken - s. etwa Syrien) aufgeteilt und damit Begehrlichkeiten und Unfrieden erst in die Region gebracht haben? Oder so ähnlich.
Das läßt sich zeitlich sogar einigermaßen festmachen. In der FAZ gab es 1996 den ersten Artikel, in dem das Osmanische Reich als multikulturelles Ideal propagiert wurde. Für die Wald- & Wiesenclaqueure bietet sich als alternative Projektionsfläche schon länger al-Andalus an, falls der Blick in historische Literatur & zeitgenössische Berichte die Bassa-Selim-Verhältnisse als einigermaßen dürftig* erscheinen lässt (im englischen Sprachraum kommt an der Stelle unfehlbar der Hinweis auf Lady Mary Wortley Montagus Berichte über die Pockenimpfung, e.g. http://www.muslimheritage.com/article/la...ulation-england). Unsereins wartet darauf, daß Lord Byron & der Philhellenismus der 1820er Jahre zum Buhmann avancieren, die dort den Ofen ausmachten. Die Orientalisten-überhaupt sitzen ja schon seit Edward Saids "Orientalism" von 1978 allesamt auf der Anklagebank. *Ich habe mich vor ein paar Jahren im Bekanntenkreis mal leicht unbeliebt gemacht, als im Gymnasiallehrplan Englisch LK das Thema "slave narratives" bei freier Textwahl vorgeschrieben war & ich der Abwechslung halber Orhan Pamuks Die weiße Festung / The White Castle als Lektüre vorgeschlagen habe. Ist ja auch kein englischer Text.
Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire
Zitat von Noricus im Beitrag #2Es ist bezeichnend, dass der Qualitäts-Journalismus das Miteinander von Ethnien und Religionsgruppen im Nahen Osten für einen Quell des Blutvergießens hält, ...
Die Grenze machts. Ganz friedlich haben alle Religionen und Volksgruppen immer zusammengelebt - bis die pösen Kolonialisten am grünen Tisch eine Grenze quer durch ihre Siedlungsgebiete gezogen haben. Dadurch wurden sie dann zu reißenden Bestien. Bei einer offenen Merkel-Grenze kann so etwas natürlich nicht passieren.
Dieser Mythos spielt bei den Arabern eigentlich keine Rolle. Sie werfen der europäischen Grenzziehung nicht vor, die Minderheiten nicht beachtet zu haben - weil diese Minderheiten in ihrem Weltbild ohnehin keine Rolle spielen. Sondern ihr Vorwurf ist, daß diese Grenzen die herbeigesehnte große arabische Nation zerrissen hätten. Was natürlich weitgehend Unsinn ist, weil die Europäer ja nur drei Jahrzehnte in der Region waren, danach hätten die Araber jede Chance gehabt diese Grenzen wegzulassen - wenn es denn wirklich den Wunsch nach der großen arabischen Nation gäbe.
Der Mythos der "falschen Grenzziehung" kommt aus der Betrachtung der afrikanischen Kolonialgeschichte. Dort wurden viele Grenzen ja wirklich ziemlich willkürlich bei irgendwelchen Konferenzen festgelegt und hatten mit historischen oder kulturellen Gegebenheiten vor Ort wenig zu tun. Mit irgendwelchen Volkszugehörigkeiten stimmte das fast nie überein, gerade für Nomadenvölker können diese Grenzen daher recht lästig sein.
Wenn es darum geht, die Entwicklungsprobleme des Kontinents zu erklären, ist der Mythos der schlechten Kolonialgrenzen schon lange etabliert. Wie in Nahost könnte aber keiner der "Experten" sagen, wie denn bessere Grenzen aussehen sollten - dafür sind die Gebiete viel zu durchmischt besiedelt.
Viel wesentlicher ist den Arabern der andere Mythos, der mit dem "Verrat" der europäischen Verbündeten am arabischen Volk. Dieser "Verrat" wird mit Sykes-Picot symbolisiert, weil dieses Geheimabkommen angeblich die Versprechungen gegenüber dem Sherifen brechen würde. Also der ideale Stoff, um sich wieder einmal in die Opferrolle zu phantasieren.
Daß dieser Mythos aber auch im Westen so wirksam ist, verdanken die Araber ihrem damaligen Kontaktmann: T. E. Lawrence. Der hatte wohl wirklich seinen arabischen Freunden mehr versprochen, als es den britischen Planungen entsprach. Und an diesen Lügen auch festgehalten, nachdem ihm die Bedingungen von Sykes-Picot bekannt waren.
Nach dem Krieg erlangte er Berühmtheit als Kriegsheld und Propagandist des arabischen Nationalismus' und legte in Vorträgen und Schriften die Grundlage für den "Verrat"-Mythos. Und die Wirkung wird nach dem zweiten Weltkrieg noch durch eine kitschige und in wesentlichen Punkten historisch verfälschende Hollywood-Verfilmung gesteigert.
Es ist schon bezeichnend, daß die Weltsicht diverser Journalisten im wesentlichen auf dieser Hollywood-Klamotte beruht. Schon wenige Minuten Wikipedia hätten ihnen gezeigt, daß wesentliche Teile ihres Berichts Humbug sind.
Die New York Times bringt zum Thema einen schönen Artikel.
Spannend ist: Die Franzosen wollten damals genau das machen, was heute von den Kritikern als Patentlösung vorgeschlagen wird - die Schaffung von Staaten nach Volks-(Religions-)gruppen. Und sind damit weitgehend gescheitert, nur der Libanon hat funktioniert.
Zitat von R.A. im Beitrag #6Wenn es darum geht, die Entwicklungsprobleme des Kontinents zu erklären, ist der Mythos der schlechten Kolonialgrenzen schon lange etabliert. Wie in Nahost könnte aber keiner der "Experten" sagen, wie denn bessere Grenzen aussehen sollten - dafür sind die Gebiete viel zu durchmischt besiedelt.
Durchmischte Besiedelung ist übrigens geschichtlich betrachtet eher der Normalfall als die Ausnahme. Völkerwanderungen liefen so ab, daß man an demselben Ort einige Ernten abgewartet hat, und dann wußte, ob das gefundene Land gut war. Dann zog man weiter oder blieb. Nur selten vertrieb man die vorgefundenen Einheimischen, was die Voraussetzung für ein ethnisch geschlossenes Siedlungsgebiet gewesen wäre. Meistens siedelte man in Nischen zwischen deren Siedlungen. Die gab es damals noch zuhauf. Scharfe ethnische und kulturelle Grenzen gibt es im Grunde nur an unpassierbaren Bergketten oder unpassierbaren Sümpfen. Die ethnischen Grenzen, die wir in Europa kennen, sind daher meistens ein Ergebnis des Nationalismus. Die (relativ verkehrgünstigen) deutschen Ostgebiete und Abstimmungsgebiete waren z.B. von je her gemischt besiedelt.
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #5In der FAZ gab es 1996 den ersten Artikel, in dem das Osmanische Reich als multikulturelles Ideal propagiert wurde.
Dieses Ideal ist also nicht viel anders als das, was man in Europa zu der Epoche auch hatte, ja, möglicherweise hat die kuk-Monarchie noch egalitärere Multikulturalität gelebt. Sogar in ihrem Niedergang gegenüber dem Nationalismus erlebte sie keine so blutigen Völkermorde wie sie das osmanische Restreich durch die nationalistischen Jungtürken an den armenischen Landsleuten erlebte.
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