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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 23 Antworten
und wurde 2.542 mal aufgerufen
 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Noricus Offline



Beiträge: 2.362

31.07.2016 19:57
Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Nach all dem Schrecklichen und Schweren eine regionalchauvinistische Marginalie.

Werwohlf Offline




Beiträge: 997

31.07.2016 20:14
#2 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Ja, sehr nett. So schöne, erhabene Natur kann überwältigend sein. Ich allerdings erlebe auch ohne eine solche paradiesische Momente jedes Wochenende neu, wenn ich mit meiner Liebsten zusammen sein kann. Dann ist das Glück perfekt, und die Zeit steht ein paar Minuten lang still.

--
Bevor ich mit den Wölfen heule, werd‘ ich lieber harzig, warzig grau,
verwandele ich mich in eine Eule oder vielleicht in eine graue Sau.
(Reinhard Mey)

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 1.994

01.08.2016 17:03
#3 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Auch wenn ich möglicherweise nicht deinem speziellen Regionalchauvinismus anheim gefallen bin, so trifft mich das Bild doch ins Herz und ich antworte mit einem kleinen Bild von meinem "Wahlparadiese":

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

01.08.2016 21:03
#4 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Ich lese dies gerade im Anblick des Schafreiter (Grenzberg Bayern/Österreich über dem Walchensee, Richtumg Karwendel), der heute kein Alpgenglühen zeigt, sondern sehr graublau abgestuft mit seiner Riesenohrmuschel herüberschaut und bald zu Bett gehen wird.

Mir fällt ein Aphorismus von Nietzsche ein, den ich nur frei ziteieren kann:"Warum ist der Mensch so gerne in der freien Natur? - Weil sie keine Meinung über ihn hat."

Ich will weder Ihnen noch mir damit die Stimmung ausnüchtern, keineswegs. Ich bin ja Bergwanderer aus Passion. Sodern damit sagen: Diese Freiheit, diese Reste des Paradieses, wie Sie es auch sehn, diese Kostbarkeit der wenigen Sonnentage am nördlichen Alpenrand!

Ich schreibe hier an einem Lehrbrief für ein postgraduales Fernstudium (siehe: katholische integrierte Gemeinde - - eingeladen).

Ludwig W.

Ulrich Elkmann Online




Beiträge: 13.566

01.08.2016 21:45
#5 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

3 Fußnoten aus Tiefebenenperspektive.

a) Arno Schmidt, zur Abwechslung mal leicht boshaft... :

Zitat von Aus dem Leben eines Fauns, 1953
"Bergländer liebe ich nicht; nicht den breiigen Dialekt ihrer Bewohner, nicht die zahllos gewölbte Erde, Bodenbarock. Meine Landschaft muß eben sein, flach, meilenweit, verheidet, Wald, Wiese, Nebel, schweigsam."



b) Chelsea Wolfe, "Flatlands" (2012)

I want flatlands
I want flatlands
I don't want precious stones
I never cared about anything you've ever owned
I want flatlands
I want simplicity
I want open plains and scattered trees
I want flower fields
I want salty seas
I want flatlands soft and steady breeze
bringing scents of lined-up orchard trees
dripping heavy with pears and dancing leaves
I want flatlands
will you go there with me...


in der Version von Mark Lanegan: https://www.youtube.com/watch?v=LnNkGBMLBr0 (von "Imitations", 2013)

c) den "Augenblick im Paradies" hat am prägnantesten Ralph Waldo Emerson in seinem Essay "Nature" von 1836 gefasst, dem ersten Stück in der schlicht Essays, First Series (1841) betitelten Sammlung, im Bild des "transparent eyeball", des durchsichtigen, durchlässigen Augapfels, zu dem der Betrachter in solchen Fällen wird, zum reinen schauenden Punkt. Das Essay mag in seinem Hohen Ton für unsern Geschmack wohl manchmal arg pathetisch sein, etwas sehr nach Gott-in-der-Natur, New England Transcendentalism-Style (den Anwurf hört man ja auch oft, wenn man zugibt, daß einem die Fotos von Ansel Adams gefallen), aber dennoch:

Crossing a bare common, in snow puddles, at twilight, under a clouded sky, without having in my thoughts any occurrence of special good fortune, I have enjoyed a perfect exhilaration. I am glad to the brink of fear. In the woods too, a man casts off his years, as the snake his slough Definition, and at what period soever of life, is always a child. In the woods, is perpetual youth. Within these plantations of God, a decorum and sanctity reign, a perennial festival is dressed, and the guest sees not how he should tire of them in a thousand years. In the woods, we return to reason and faith. There I feel that nothing can befall me in life, - no disgrace, no calamity, (leaving me my eyes,) which nature cannot repair. Standing on the bare ground, - my head bathed by the blithe air, and uplifted into infinite space, - all mean egotism vanishes. I become a transparent eye-ball; I am nothing; I see all; the currents of the Universal Being circulate through me; I am part or particle of God. The name of the nearest friend sounds then foreign and accidental: to be brothers, to be acquaintances, - master or servant, is then a trifle and a disturbance. I am the lover of uncontained and immortal beauty.In the wilderness, I find something more dear and connate Note than in streets or villages. In the tranquil landscape, and especially in the distant line of the horizon, man beholds somewhat as beautiful as his own nature.

Über ein kahles Gemeindestück wandernd, durch Schneepfützen, in der Dämmerung und unter bedecktem Himmel, bin ich, ohne an eine besonders glückliches Ereigniß zu denken, vollkommen fröhlich und heiter gewesen. Fast fürchte ich zu denken, wie fröhlich ich bin. Im Walde ebenfalls, wirft der Mensch seine Jahre ab, wie die Schlange ihre Haut und wird, in welcher Lebensperiode er sich auch befinden mag, stets ein Kind. im Walde ist ewige Jugend. ... Im Walde kehren wir zur Vernunft zurück und zum Glauben. Dort fühle ich, daß mir nichts im Leben widerfahren kann - keine Schande, kein Kalamität- welches die Natur (so lange ich meine Augen behalte) nicht wieder gut machen könnte. Unter freiem Himmel stehend - mein Haupt von der heiteren Luft umspült und aufblickend in den unendlichen Raum - schwindet alle kleinliche Selbstsucht. Ich werde zu einem durchsichtigen Augapfel. Ich bin nichts. Ich sehe Alles. Die Ströme der Weltseele circuliren durch mich hindurch. Ich bin ein Theil oder Theilchen Gottes. Der Name des nächsten Freundes klingt dann fremd und zufällig. Das Brüder-Sein, Bekannte-Sein - Herr oder Diener, ist dann Nebensache und Störung. Ich liebe eine unbegrenzte, unsterbliche Schönheit. In der Wildnis finde ich etwas Liebes und Verwandteres, als in Städten und Dörfern. In der stillen Landschaft und besonders in der fernen Linie des Horizontes schaut der Mensch ein Etwas, das ebenso schön ist als seine eigne Natur.
(Die Natur. Ein Essay. Ü: Adolph Holtermann, Hannover: Carl Meyer 1868, 6-7)




Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #4
ein Aphorismus von Nietzsche


In Sachen Nietzschken (©Tucholsky) ist mir vor Jahren der Verdacht gekommen, daß dessen gesamte Kenntnis der abendländischen Geistesgeschichte, soweit sie über den Rahmen seiner altgriechischen Tragödiensentstehungsbefassungsdiss hinausgeht (mit der ja Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff entsprechend Schlitten gefahren ist), sich ausschließlich der Lektüre von Emerson, vor allem von "Representative Men" verdankt.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 1.994

02.08.2016 16:43
#6 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #5
a) Arno Schmidt, zur Abwechslung mal leicht boshaft... :

Zitat von Aus dem Leben eines Fauns, 1953
"Bergländer liebe ich nicht; nicht den breiigen Dialekt ihrer Bewohner, nicht die zahllos gewölbte Erde, Bodenbarock. Meine Landschaft muß eben sein, flach, meilenweit, verheidet, Wald, Wiese, Nebel, schweigsam."


Mich in diesem Forum mit Arno Schmidt anzulegen ist aus verschiedenen Blickwinkeln heraus nicht angezeigt. Trotzdem ist es das von mir im Zitat fett markierte Wörtchen, an welchem ich mich stoße. Wer indiffrent "muß", kann nicht mehr bewußt "wollen" und das ist doch schade.

So schön eine schweigsame Wiese im Nebel sein kann, will ich mir dadurch nicht das Paradies, welches die Bergwelt auch bieten kann, rauben lassen. So wie auch der Werwohlf wohl nicht allen möglichen Paradiesen neben der Gegenwart seiner Liebsten abschwören möchte - würde ich zumindest vermuten.

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

02.08.2016 16:55
#7 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #6

Zitat von Aus dem Leben eines Fauns, 1953
"Bergländer liebe ich nicht; nicht den breiigen Dialekt ihrer Bewohner, nicht die zahllos gewölbte Erde, Bodenbarock. Meine Landschaft muß eben sein, flach, meilenweit, verheidet, Wald, Wiese, Nebel, schweigsam."

Mich in diesem Forum mit Arno Schmidt anzulegen ist aus verschiedenen Blickwinkeln heraus nicht angezeigt. Trotzdem ist es das von mir im Zitat fett markierte Wörtchen, an welchem ich mich stoße. Wer indiffrent "muß", kann nicht mehr bewußt "wollen" und das ist doch schade.


Da sticht eben bei AS der verhinderte Mathematiker vor, der Drang, die Ästhetik zwangsläufig und folgerichtig aus Prämissen abzuleiten: & ist ja auch in Ordnung, weil das die Subjektivität markierende Wörtchen Meine nicht fehlt. - Im übrigen spricht es nach meiner ganz subjektiven Ansicht für ASs Qualität, das ich ihn trotz solcher norddeutschen Idiotika und, obwohl ich hier seine Meinung absolut nicht teile, allerhöchst schätze. Auch Eigensinn lebt von Prägnanz.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

02.08.2016 17:05
#8 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Ebenfalls nur marginal möchte ich anmerken, daß in dieser zweifellos durchaus reizenden Landschaft das gastronomische Angebot fehlt. Womit mir Entscheidendes zum Paradiese fehlen würde ...

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

02.08.2016 17:10
#9 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #8
Ebenfalls nur marginal möchte ich anmerken, daß in dieser zweifellos durchaus reizenden Landschaft das gastronomische Angebot fehlt. Womit mir Entscheidendes zum Paradiese fehlen würde ...

Es ist davon auszugehen, dass der Fotograf selbst vor einer bewirtschafteten Hütte steht und gerade ein Speckbrettl und eine Mass eingenommen hat.

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 1.994

02.08.2016 18:13
#10 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #9
Es ist davon auszugehen, dass der Fotograf selbst vor einer bewirtschafteten Hütte steht und gerade ein Speckbrettl und eine Mass eingenommen hat.
Auch das Mitführen des eigenen Proviants, welches vor allem bei Bewegungen auf Seiten des Horizonts anzuraten ist, führt zu einfachen aber doch exklusiven kulinarischen Genüssen, gestützt von atemberaubenden Panoramen. Das Bild selbst enstand, nach meiner Erinnerung, ebenfalls ohne Mass und Brettl.

Zu dem Zitat von AS:
Ich weiß nur nicht, warum man sich bei Schönheit obejektiv oder subjektiv festlegen soll und sich nicht einfach von ihr liebkosen lässt, wo sie es möchte. Mich kann die raue Musik eines R.L. Burnside ebenso rühren, wie eine Mozart Sonate. Und so kann mich eine neblige Wiese, ein Watt ebenso berühren, wie das Etschtal und die umgebenden Gebirgsmassive.

Es ist nur so, dass der Anblick von Berglandschaften ein indifferentes Heimweh bei mir aulöst und mich Noricus Bild daher sehr ansprach. Aber das liegt wohl auch, und da bin ich eventuell recht nah beim Werwohlf, an intensiv zwischenmenschlich geprägten Lebensphasen, die ich in den Bergen erlebt habe.

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Ulrich Elkmann Online




Beiträge: 13.566

02.08.2016 20:35
#11 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #9
Zitat von R.A. im Beitrag #8
Ebenfalls nur marginal möchte ich anmerken, daß in dieser zweifellos durchaus reizenden Landschaft das gastronomische Angebot fehlt. Womit mir Entscheidendes zum Paradiese fehlen würde ...

Es ist davon auszugehen, dass der Fotograf selbst vor einer bewirtschafteten Hütte steht und gerade ein Speckbrettl und eine Mass eingenommen hat.


Das deutet sich ja schon in der bekanntesten Stelle in der Ausprägung der romantischen Naturauffassung im Angesicht der Unendlichkeit an, in Kleists "Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft" vom Oktober 1810 an: "Herrlich ist es, in einer unendlichen Einsamkeit am Meeresufer, unter trübem Himmel, auf eine unbegrenzte Wasserwüste, hinauszuschauen. Dazu gehört gleichwohl, daß man dahin gegangen sei, daß man zurück muß, daß man hinüber möchte, daß man es nicht kann, daß man alles zum Leben vermißt" - wobei hier der "Mönch am Meer" gemeint ist; und da geht es allerdings nicht um eine bukolische oder arkadische Landschaft, sondern um die Uferlosigkeit, letztlich den Verlust des Halts. Welche Art von Landschaft so empfunden wird, so auf den einzelnen wirken kann, das verschiebt sich im Lauf der Zeit. Übrigens ist die ungeordnete, "freie" Natur, nicht vom Menschen gestaltet, als baumbestandene Parklandschaft, eben oder leicht verhügelt, auch in der Antike kein Sehnsuchtstopos, auch wenn die, eben, Bucolica: Longos, Georgica pp. da reingepflanzt werden. Das ist ein rein literarischer Topos: Staffage, "leben", auch nicht für 2 Tage lang per Camping, will da keiner, wenn es nicht unbedingt muss. Gilt auch für die Landschaftsdarstellungen der Frührenaissance. Für die Kunst gibts die "Erfindung der freien Landschaft" als reines See(n)gebiet, frei von jeder Allegorese, eigentlich nur an 2 Stellen: im Westen, irgendwo zwischen Adam Elsheimer & Claude Lorrain; & in der chinesischen Malerei ab dem 11. Jhdt.

Auch wenns 1 kunsthistorische Binsenweisheit ist, stimmt sie trotzdem: vor etwa dem 18. Jhdt. werden selbst leicht verschärfte Mittelgebirgslandschaften als unschön, häßlich, Wunden der Schöpfung gesehen. Hängt natürlich auch, neben der religiösen Unterfütterung, mit dem grundlegend erstmals auf Ökonomische fixierten Blick zusammen: das sind arme, randständige, zurückgebliebene Gegenden. Kann man 1. ganz frappant in allen Reiseberichten aus der Schweiz sehen: so vor ca.1750 gibts da schlicht keinen, der die Landschaft: Gipfel, Almen, Almöhis inbegriffen, auch nur eines Blicks würdigt (auch die Schweizer nicht, sh. u.a. Scheuchzer). Wenn die die Landschaft überhaupt erwähnen (Joseph Addison hat da 1692 4 Monate seiner "Grand Tour" verbracht & beschreibt beispielsweise vom Rathaus von Bern jede einzelne Fassadenschnitzerei, & ansonsten nur: "langte den 10. bei XY an": wenn man nur den kennte, wüßte man nicht, daß die da überhaupt Berge haben). Kann man 2. gut sehen, wenn man mal bei Göthen guckt, der den Harz (der uns ja eher keinen Aufschwung gibt) wie die wüstesten Karpathen anguckt. Das ändert sich von da an; im Zug der Erfindung des Alpinismus & überhaupt des Tourismus. Und das bringt dann (um auf die Gastronomie zurückzubiegen) jeweils, ziemlich genau ein halbes Jahrhundert danach, immer eine Gegenbewegung hervor: was für die Neckermänner & Hinz'n'Kunz zugänglich & mit Vollpension ausgestattet ist, wird dann dem Wirklichen Reisenden Nepp & unwürdig.

Die andere Richtung, wo sich die Haltung, der Blick, entsprechend ändert, ist das Meer, und zwar seine Kante. Das ist zunächst eine entweder lebensgefährliche Barriere mit Klippen & Riffen, bis 1850 prinzipiell unbeleuchtet, wüst,leer & ohne jede Wegmarke, oder Modder & Schlamm. Den Wandel zum Sehnsuchtstopos, inklusive üblem Nippeskitsch aus allen Seebädern, hat Alain Corbin in "Le territoire du vide: L'occident et le désir du rivage" (1988) nachgezeichnet; für den nach oben gerichteten Blick aufs Bodenbarock & -rokoko findet sich da viel in Marjorie Hope Nicolsons "Mountain Gloom and Mountain Glory. The Development of the Aesthetic of the Infinite" (ist von 1959, aber immer noch das Beste zum Thema).



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Ulrich Elkmann Online




Beiträge: 13.566

02.08.2016 21:27
#12 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #7
Da sticht eben bei AS der verhinderte Mathematiker vor


Nicht, daß 1 Gär=manisch=tischer kommt & meint: "das ist ja!: Rollenprosa" - also der Landrat Düring aus Cordingen, der das im Febr. 39 ventiliert & nicht A.S. im Dezember 52 in Kastel über der Saar: Bei Ar. Sxx. (an Wilhelm Michels schreibt er 4 Jahre später: "Die von Ihnen gewählte Abbreviatur meines Namens mißfällt mir außerordentlich") ist das Raster nicht anwendbar: der spricht immer pro domo - wie in den allermeisten solchen Passagen der Rest der Skribenden wohl auch. (Die Ausnahme ist Shakespeare: von dessen Seeleninnenbeleuchtung wir also nix wissen). Die Sprunghaftigkeit seiner Assoziitis von § zu § tut 1 übrigens (insofern ist er, bei gleicher Verlandschaftung, so etwas wie der krasseste Gegenpol zu Handke.) Die Passage findet sich Bd 3., S. 15 der 8-bdg. Ausgabe v. 1985 & ist so gerahmt:

Zitat
Die Zweige schnarrten in der Nacht. (Da wallte mein Mantel kurz und prahlerisch). Ein Regen flüsterte mit der Teerstraße. (Wie schwarze nasse Wollstrümpfe mäanderte's lange durch mein Gedenk. Oder wie ein Leichenauto, verfahren in großen Wäldern, stöhnt, mit hinterherwehenden) schwarz-weißgeränderten Vorhängen). Auch hagere Büsche rasselten skelettene Sarabanden; das Pflaster glitzerte auf die einsame Laterne zu; lemurisch hantierten die Einfälle im Dachstübchen; der Bauch puffte schnarrig aus: hübsch warm übern Rücken ruff - c'est la guerre!
(Bergländer...)
(Nicht nur geologisch: auch geistig und moralisch heißt die Stunde Alluvium: Geschwemmtes. Pfahlbauern und Höhlenmenschen; mit Pfahlgerammel oder Grotten im Denken; sächsische Schweiz der Geister. Schöner Name: "Glockenbecherleute"! Nicht Lang- oder Kurz-: Hohl-Schädel! Vom ewigen Strammstehen wird alles prognath: 'woll, Herr Neanderthaler!)



AS' Impetus kann auch dem Umstand geschuldet sein, daß er mit Frau Alice in Kastel 200 Meter oberhalb von Saarburg: = Postamt, Buchhandlung & Viktualienladen, wohnte . Zwei Monate nach dem Umzug in die Darmstädter Inselstraße klingt das dann ganz anders: "Da ist es sehr einsam, hinten an der Saar. Schluchten mit senkrechten Wänden aus triassischem Buntsandstein; haushohe Felskerle sperren den Weg, in rostroter Buschklepperrüstung, den riesigen Wackelstein als Schädel." ("Schlüsseltausch")



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Noricus Offline



Beiträge: 2.362

05.08.2016 17:50
#13 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #9
Zitat von R.A. im Beitrag #8
Ebenfalls nur marginal möchte ich anmerken, daß in dieser zweifellos durchaus reizenden Landschaft das gastronomische Angebot fehlt. Womit mir Entscheidendes zum Paradiese fehlen würde ...

Es ist davon auszugehen, dass der Fotograf selbst vor einer bewirtschafteten Hütte steht und gerade ein Speckbrettl und eine Mass eingenommen hat.

Gruß Petz


Nicht ganz. Die bewirtschaftete Hütte war zwar in unmittelbarer Nähe. Aber in diesem paradiesischen Augenblick des Staunens über die Schönheit (eines mir an und für sich bestens bekannten Teils) der Welt waren Hunger und Durst irrelevant.

Der Fotograf ist dann übrigens nicht in die Hütte eingekehrt, sondern in einen exzellenten Landgasthof im Tal. Für sein leibliches Wohl war also gesorgt.

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

05.08.2016 22:29
#14 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Kleiner Beitrag zur Ergänzung: Achse-Autorin Jennifer Pyka war kürzlich als Münchnerin in Oberbayern unterwegs. Ihr Kommentar: "99% aller Bayern-Kritiker sind in Wirklichkeit nur neidisch." Recht hat sie! Meine Antwort: "Absolut! Komme seit 20 Jahren jährlich mindestens einmal ins Werdenfelser Land; ist mein zweites Zuhause. Hier findet man wahlweise zum Glück, zu Gott, zur Natur oder zu sich selbst".

"Man kann einen gesellschaftlichen Diskurs darüber haben, was Meinungsfreiheit darf. Oder man hat Meinungsfreiheit." (Christian Zulliger)

Werwohlf Offline




Beiträge: 997

07.08.2016 19:03
#15 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Zitat von Doeding im Beitrag #14
Kleiner Beitrag zur Ergänzung: Achse-Autorin Jennifer Pyka war kürzlich als Münchnerin in Oberbayern unterwegs. Ihr Kommentar: "99% aller Bayern-Kritiker sind in Wirklichkeit nur neidisch." Recht hat sie!
Ich habe gerade irgendwo einen Teil der Deutschland-Serie von Christopher Clark gesehen. Dort hieß es auch sinngemäß, dass die Bayern schon als bajuwarische Germanen so sehr mit ihrem Fleckchen Erde zufrieden waren, dass sie nur wenig Anlass sahen, sich mit anderen Stämmen zu beschäftigen, was dann sowohl ihre Friedfertigkeit als auch ihre Eigensinnigkeit erklärt.

--
Bevor ich mit den Wölfen heule, werd‘ ich lieber harzig, warzig grau,
verwandele ich mich in eine Eule oder vielleicht in eine graue Sau.
(Reinhard Mey)

Werwohlf Offline




Beiträge: 997

07.08.2016 19:07
#16 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Zitat von Doeding im Beitrag #14
Kleiner Beitrag zur Ergänzung: Achse-Autorin Jennifer Pyka war kürzlich als Münchnerin in Oberbayern unterwegs. Ihr Kommentar: "99% aller Bayern-Kritiker sind in Wirklichkeit nur neidisch." Recht hat sie!
Ich muss aber noch was ergänzen: Es gibt (zumindest theoretische) Bayern-Kritiker, bei denen man nicht davon ausgehen muss, dass Neid im Spiel ist - die Schweizer. Ich bin neulich auf dem Nachhauseweg eine andere Strecke durch die Schweiz gefahren als vorher immer, und ich hatte phasenweise das Gefühl, ich führe durch ein Märchenland. Meine Liebste meint, solche Stellen gebe es da noch viel mehr.

--
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(Reinhard Mey)

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

08.08.2016 12:22
#17 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Zitat von Werwohlf im Beitrag #15
Dort hieß es auch sinngemäß, dass die Bayern schon als bajuwarische Germanen so sehr mit ihrem Fleckchen Erde zufrieden waren, dass sie nur wenig Anlass sahen, sich mit anderen Stämmen zu beschäftigen, was dann sowohl ihre Friedfertigkeit als auch ihre Eigensinnigkeit erklärt.

Eigenartig. Eigentlich sollte ein Christopher Clark nicht so falsch liegen - ich muß mir mal den Kontext anschauen.

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

09.08.2016 10:23
#18 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Glück, Gott, Natur, Selbstfindung -

bei meiner gestrigen Wanderung im Zillertal bestätigte sich, dass Tirol viel mehr Bildstöcke und Kapellen hat als Oberbayern. Manche Almen haben bis zu drei Darstellungen des Gekreuzigten; die jüngeren Bildnisse sind oft toter Kitsch. Die Leute dort waren einmal entweder wirklich authentisch-christlicher als die Trachtenchristen Bayerns oder sie hatten mehr Angst vor Lawinen und Bergstürzen und es war Abwehrzauber. Kann wohl niemand klären.
Auffällig ist, dass es bald kein Gipfelkreuz mehr gibt ohne tibetische Gebetsfähnchen-Schnur. D.h. der Religionspluralismus setzt sich langsam durch.


Zum Naturgefühl: Vielleicht steigen wir nicht nur aus medizinischen Gründen so gerne auf Felsen hoch, sondern weil uns jeder Schritt beweist, dass der Zweibeiner, der nicht fliegen kann wie die Dohlen, dennoch alles kann, weil sein Geist mitspielt und er den Neigungswinkel der Schuttreißn berechnet und weiß, ob der Steinbrocken abrutscht oder durch den Druck hält. Wir beweisen unsere Überlegenheit, den Geist, der dem Körpergefühl die überlegene Stärke verleiht.
Es gibt keine Welten mehr zu entdecken, so suchen wir das Abenteuer im an sich sinnlosen Bezwingen von Bergen und Wänden.

Dass die E-Fahrräder am Wanderer vorbeisausen, dass der Fahrer keine Blumen sieht, sondern nur die Hindernisse auf dem Weg für die Räder, und auch dass soviele unsinnige Klettersteige angelegt werden, damit die Nordländer Fotos schießen können von ihrem tollen Bergurlaub, ist eine Nebenfolge, die nicht glücklich macht.

Aber die Bauern, die die Kulturlandschaft erhalten müssen (sonst hätten wir nur Urwald da oben bis 1900 m) müssen von etwas leben. Die Milch ist zu billig, sie brauchen die Touristen, um sie melken zu können. Die Kinder, die weitermachen wollen und die Pächter der Hütten sind zu bewundern! Man sollte ihnen bei jedem Besuch ein Dankeschön sagen.

Sommergrüße
Ludwig W.

Ulrich Elkmann Online




Beiträge: 13.566

09.08.2016 11:08
#19 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Dieter E. Zimmer hat 1991 in der ZEIT auf die 1980 veröffentlichte These des amerikanischen Biologen Gordon Orians hingewiesen, der die - ziemlich kulturinvarianten - Vorstellungen einer idealen, paradiesischen Sehnsuchtslandschaft aus den evolutionären Prägungen der Menschwerdung in einer offenen Savannenlandschaft herleitet: hochgelegene Hügel als Schutz vor Raubtieren; lichter Baumbestand als Schatten & Quelle für Holz & Früchte, das unabdingbare Vorhandensein von Wasser. Er nennt das, informell, die "Eden-Theorie".

Zitat von ZEIT-Magazin Nr. 46/, 8. Nov. 1991, "Unser Paradies"
Diese «Landschaftsgefühle» sollten auf zweierlei positiv reagieren: auf den Ort, wo das Tier selber aufgewachsen ist (denn er hat ja schon unter Beweis gestellt, daß in ihm die Aufzucht des Nachwuchses gelingen kann), und auf die Übereinstimmung eines Ortes mit einer für die betreffende Art typischen Ideallandschaft.
...
Was, wenn nun auch dem Menschen die Reste einer solchen Voreingenommenheit geblieben wären? Dann müßte er sich zum einen mit seiner jeweiligen Heimat verbunden fühlen, egal wo diese sich befindet und wie es da aussieht (denn sie hat ja schon unter Beweis gestellt, daß sie Reproduktionschancen eröffnet, «daß sich in ihr leben lässt»). Zum anderen müßte ihm eine ganz bestimmte Landschaft ganz besonders «richtig» vorkommen, «schön» erscheinen – die arttypisch menschliche Ideallandschaft.

Welche könnte das sein? Es wird jene sein, in der seine Vorfahren über zwanzig Millionen Jahre hin zu Menschen geworden sind: die Savannen im Hochland Ostafrikas.



Kleines Caveat: Die mythologisch ausgeformten Idealorte der Paradiesimagination zeigen immer einen Garten: die Einhegung ist konstitutiv. Nicht nur im biblischen paradeisos (v.a. in solchen Evokationen wie den glühenden Beschreibungen im Buch X & XI von Miltons "Paradise Lost"), sondern auch im Garten des Hesperiden. Oder im Lotusparadies des japanischen Volksbuddhismus. Es ist der strikte Gegenentwurf einer agrarisch geprägten Gesellschaft zur zerschindenden alltäglichen Fron auf dem Feld.

Nochmals D.E.Z. - nicht zuletzt wegen der hier passenden Schlußvolte:

Zitat
Orians’ Eden-Theorie setzt voraus, daß sich, zumindest in Form ihres Gefühlsabdrucks, im kollektiven Gedächtnis der Menschheit ein Erinnerungsbild der «idealen» Landschaft erhalten hat, über die Jahrhunderttausende genetisch weitergegeben und so detailliert, daß es sogar auf die «Schönheit» nicht zu eng und nicht zu weit stehender Schirmakazien anspricht. Ausgeschlossen ist es nicht; schließlich werden vielerlei feine Vorlieben und Abneigungen vererbt. Aber Skeptiker werden es nie glauben, und beweisbar ist es kaum. Das meteorologische Paradies indessen braucht gar kein solches Erinnerungsbild. Unser ganzer Körper, sein Vermögen der Thermoregulation, sein Bedürfnis nach Licht ist die Erinnerung: Wo er am wenigsten strapaziert wird, fühlt er sich am wohlsten, und wo er sich am wohlsten fühlt, zieht es ihn am stärksten hin – die Topographie seiner Sehnsucht.

Es ist dies einer der raren Punkte, wo sich Wissenschaft, Mythos, Lyrik und jedermanns eigene Erfahrung ohne schlechtes Gewissen treffen können.




PS.

Biobibliographischer Nachschlag (Borges: “Siempre imaginé que el Paraíso sería algún tipo de biblioteca):
Orians' Aufsatz: "Habitat Selection: General Theory and Applications to Human Behavior," in: S. J. Lockhard, ed. The Evolution of Human Social Behavior (New York: Elsevier, 1980), S. 49-66.
- Kaplan, Stephen, "Aethetics, affect, and cognition: Environmental preference from an evolutionary perspective", Environment and Behavior, 19(1) (1987), 3-32.
- Jerome Barkow, Leda Cosmides and John Tooby, hgg. The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and the Generation of Culture. Oxford: Oxford University Press, 1992 (v.a. Gordon H. Orians; Judith H. Heerwagen: "Evolved Responses to Landscapes," S. 555-79).
- Irenäus Eibl-Eibesfeldt. Die Biologie des menschlichen Verhaltens. 5. Ausg. München: Piper 2004, Abschnitt 8: "Der Mensch und sein Lebensraum - ökologische Betrachtungen," S. 823-898.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

09.08.2016 20:29
#20 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #19
Dieter E. Zimmer hat 1991 in der ZEIT auf die 1980 veröffentlichte These des amerikanischen Biologen Gordon Orians hingewiesen, der die - ziemlich kulturinvarianten - Vorstellungen einer idealen, paradiesischen Sehnsuchtslandschaft aus den evolutionären Prägungen der Menschwerdung in einer offenen Savannenlandschaft herleitet: hochgelegene Hügel als Schutz vor Raubtieren; lichter Baumbestand als Schatten & Quelle für Holz & Früchte, das unabdingbare Vorhandensein von Wasser.


Dies dürfte auch dem bei den Alten herumgereichten Topos des locus amoenus entsprechen, nicht wahr?

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

10.08.2016 10:40
#21 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #19
Dieter E. Zimmer hat 1991 in der ZEIT auf die 1980 veröffentlichte These des amerikanischen Biologen Gordon Orians hingewiesen, der die - ziemlich kulturinvarianten - Vorstellungen einer idealen, paradiesischen Sehnsuchtslandschaft aus den evolutionären Prägungen der Menschwerdung in einer offenen Savannenlandschaft herleitet: hochgelegene Hügel als Schutz vor Raubtieren; lichter Baumbestand als Schatten & Quelle für Holz & Früchte, das unabdingbare Vorhandensein von Wasser. Er nennt das, informell, die "Eden-Theorie".
Kleines Caveat: Die mythologisch ausgeformten Idealorte der Paradiesimagination zeigen immer einen Garten: die Einhegung ist konstitutiv. Nicht nur im biblischen paradeisos (v.a. in solchen Evokationen wie den glühenden Beschreibungen im Buch X & XI von Miltons "Paradise Lost"), sondern auch im Garten des Hesperiden. Oder im Lotusparadies des japanischen Volksbuddhismus. Es ist der strikte Gegenentwurf einer agrarisch geprägten Gesellschaft zur zerschindenden alltäglichen Fron auf dem Feld.

Korrekt.
Und deswegen hätte die Menschen vor 200 Jahren unsere Begeisterung für die Hochalpenlandschaft nicht nachvollziehen können. Die romantische Freude an gefährlicher wilder Natur ist ein Dekadenzphänomen für Städter und erst im 19. Jahrhundert entstanden.

Ulrich Elkmann Online




Beiträge: 13.566

10.08.2016 11:16
#22 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #21
Die romantische Freude an gefährlicher wilder Natur ist ein Dekadenzphänomen für Städter und erst im 19. Jahrhundert entstanden.


Sh. oben, "Ästhetik des Unendlichen". Das geht aber über die Natur (im Sinn von E.O. Wilsons "Biophilie") hinaus & erobert sich die unbelebten Ecken des Restuniversums als, Stichwort, locus amoenus. War zuletzt exemplarisch im Juli 1969 zu sehen:

Zitat von New York Daily News, July 21, 1969
“That’s one small step for man, one giant leap for mankind,” Armstrong exclaimed.

Nineteen minutes later, Edwin E. (Buzz) Aldrin Jr. joined Armstrong on the surface, and cried: “Beautiful, beautiful, beautiful, a magnificent desolation.”



http://www.nydailynews.com/news/world/ap...ticle-1.2294428

Ein einzelner Fernsehkommentator (ich meine, daß es nicht Walter Cronkite war) hat sich darüber entsetzt: "They called it beautiful!", aber er stand da ziemlich allein.



Wobei beim Tropos des locus amoenus id antiken Literatur immer eine gewisse Rezeptionsunschärfe hineinspielt: Man weiß nie, wie ernst das gemeint ist & wieviel "Kitsch, Kunst & Konvention" mit in die bukolischen Szenieren in die Daphnis & Chloe "Et in Arcadia ego"-Szenerien gemixt sind. Sowohl in Hesiods Werke & Tage als auch in Vergils Georgica geht's ja nicht um Schäferszenen, sondern um konkret krassen Landbau.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Fluminist Offline




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10.08.2016 12:22
#23 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #21
Und deswegen hätte die Menschen vor 200 Jahren unsere Begeisterung für die Hochalpenlandschaft nicht nachvollziehen können. Die romantische Freude an gefährlicher wilder Natur ist ein Dekadenzphänomen für Städter und erst im 19. Jahrhundert entstanden.

In Großbritannien geht das in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück, etwa auf die Schweiz-Italien-Reise des walisischen Malers Richard Wilson, dessen Bilder die Ästhetik der schauerlich schroffen Natur (als Gegenpol zur früheren französisch-barocken Schäferidylle: Naturlandschaft gegen Kulturlandschaft) wachriefen und den Grundstein für das gothic movement legten, das die britische Ästhetik von Literatur bis neugotischer Architektur in der einen oder anderen Form bis hin zum Ende des 19. Jahrhunderts dominierte.

Ulrich Elkmann Online




Beiträge: 13.566

10.08.2016 12:46
#24 RE: Marginalie: "Ein Augenblick gelebt im Paradiese" Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #23
des walisischen


Walisisch. Ebent. Auch wilde Bergvölker... . Wie die Schotten. Ästhetisch wird das flankiert/legitimiert mit Burkes Einführung des Kataegorie des "Sublimen" ("A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful", 1757); wobei hier mit "the sublime" nix Zurückgenommenes, Sublimiertes gemeint ist, sondern "das Erhabene", so mit ästhetische Pauken & Trompeten. Zu dem Zeitpunk werden ja auch die etwas wilderes Gegenden der Insel aufgewertet, die Highlands etwa. Da steht der praktischen Wertschätzung aber die komplette Rückständigkeit dieser randständigen Ecken entgegen. Das fällt nicht zufällig mit der Mode von Macphersons getürktem "Ossian" zusammen. Und mit dem Ausbuddeln von Beowulf &, in Germanien, dem Nibelungenlied 2 Generationen später.

Mit der Architektur siehts leicht anders aus. Das bleibt eigentlich bis zur Wende zum 19. Jdt. palladianisch grundiert; Das Fiable für die düstere Momunentalität à la Tower Bridge & Houses of Parliament fängt erst mit dem Gothic Revival von Augustus Pugin id 1830ern los & da geht es eher um eine Weiterführung des - hauptsächlich Kirchenbaustils bis ~1640 (bevor Wren & solche klassizistischen Barbaren freie Bahn hatten) - in einem England, das die gotische Bauweise kontinentalen Zunschnitts links liegen gelassen hatte.



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